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Sozialhilfe: Wie pekuniärer Anreiz zur Motivationsbremse wird

Wer von der Sozialhilfe lebt, soll finanziell nicht besser gestellt sein, als Erwerbstätige mit bescheidenem Einkommen, die ohne Sozialhilfe auskommen. Wer aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe herauskommt, soll nachher nicht weniger Geld zur Verfügung haben als in der Sozialhilfe. Abhilfe soll die Besteuerung der bedarfsabhängigen Sozialleistungen bringen und im Gegenzug die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Die Beseitigung dieser systembedingten Ungerechtigkeiten lässt schon lange auf sich warten – und nach Lage der Dinge wird es noch eine Weile so bleiben.

 

Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) bemühte im Vorfeld ihrer jüngsten Reformbestrebungen die Wissenschaft, aber der Beweis blieb aus: Eine nachhaltige Wirkung konnte den Leistungen mit Anreizcharakter, die 2005 mit der letzten Revision der SKOS-Richtlinien eingeführt wurden, nicht nachgewiesen werden. Hingegen haben Einkommensfreibetrag (EFB), Intergrationszulage (IZU) und Minimale Integrationszulage (MIZ) zu einer Austrittsschwelle geführt, weil sie eine allfällige Rückkehr ins Erwerbsleben aus pekuniären Gründen erschweren können. So hat eine Studie im Kanton Zürich festgestellt, dass mehr als jeder zehnte Sozialhilfefall durch die gesetzten Fehlanreize im Status quo verharrt, weil sich die Aufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit nicht lohnt. Und zwischen ein und zwei Prozent aller Steuerhaushalte mit bescheidenem Einkommen und ohne Sozialhilfeanspruch sind gegenüber vergleichbaren unterstützten Haushalten benachteiligt.

 

Es geht um Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize innerhalb der Systeme der bedarfsabhängigen Sozialleistungen, für die gemäss Bundesamt für Statistik rund 13 Milliarden Franken aufgewendet werden. Noch einmal schätzungsweise rund 3 Milliarden kämen dazu, wenn auch die private finanzielle und materielle Hilfe dazu gerechnet wird.

 

Negative Erwerbsanreize sind systembedingte Ungerechtigkeiten:

  • Sozialleistungsempfänger ohne Arbeit kommen auf ein ähnlich hohes Einkommen wie bei Vollzeitbeschäftigung.
  • Haushalte, welche Sozialleistungen beziehen, können ihr frei verfügbares Einkommen mit der Ausdehnung ihrer Erwerbstätigkeit nicht steigern oder
  • es lohnt sich, kürzer zu treten und die Erwerbstätigkeit zu reduzieren, weil dadurch ein Anspruch auf höhere Unterstützungsleistungen winkt.

 Letztere Variante ist in der Wissenschaft gut dokumentiert: Die Menschen reagieren mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize. Besonders krass sind Schwelleneffekte. Dabei rutschen Betroffene durch geringen Mehrverdienst aus der Anspruchsberechtigung bisheriger Bedarfsleistungen. Ein Franken Mehrverdienst kann so den abrupten Verlust von mehreren tausend Franken zur Folge haben.

 

Ein zusätzliche Hürde haben sich die Sozialpolitiker selber eingebrockt: Zulagen als Anreiz für Sozialhilfebeziehende, die sich um ihre berufliche und soziale Integration bemühen. Einkommensfreibetrag, Integrationszulage und Minimale Integrationszulage sind nicht Teil des sozialen Existenzminimums, sondern eine separate Zugabe. Fallen sie weg, beispielsweise bei einer neuen vollen Erwerbstätigkeit mit bescheidenem Einkommen, bleibt weniger im Portemonnaie als in der Abhängigkeit der Sozialhilfe. Wenn stimmt, dass rund ein Drittel der Sozialhilfeempfänger den Weg zurück in den Arbeitsmarkt findet, sind sie vom Wegfall der Unterstützung mit Anreizcharakter besonders betroffen.

 

Wie kam es zu diesen Anreizen? Sie sind Teil einer neuen Sozialphilosophie, wie sie sich mit der Verwissenschaftlichung der Sozialarbeit entwickelte. Ausgangspunkt sind die 1990er Jahre. Der in 30 Jahren Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute und nachher stets ausgebaute Sozialstaat westlicher Prägung gerät aus den Fugen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen – Langzeitarbeitslosigkeit als neues Phänomen, auch Jugendarbeitslosigkeit, neue Paar- und Familienbeziehungen – belasten die sozialen Sicherungsnetze. Die Demographie als wissenschaftliche Disziplin schüttelt ihre bisherige Mauerblümchen-Reputation ab und rückt in die erste Reihe vor. Auch die Politik wird auf sie aufmerksam.

 

Überalterung, Armutsmigration – in absehbarer Zeit werden Migranten in grossen westeuropäischen Städten die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Mit der Bologna-Reform um die Jahrtausendwende wird der einst bodenständige Beruf des Sozialarbeiters auch in der Schweiz wissenschaftlich aufgemischt, Wissen wird wichtiger als Erfahrung, „Case Management“ ersetzt praktische Begleitung vor Ort.

 

Unter den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen benötigen immer mehr Menschen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse Unterstützungsleistungen. Gefragt sind Alternativen zum Status quo. In den akademischen Debatten innerhalb der Europäischen Union (EU) bildet sich das bis heute massgebende Bild eines „Neuen Wohlfahrtstaates“ heraus, das von der EU bereit 2000 zur Norm erklärt wurde.

 

Auf diesem Pfad haben sich die europäischen Sozialstaaten im Grossen und Ganzen weiterentwickelt, schreibt die SKOS in einem ihrer zahlreichen Grundlagenpapiere.

Zum neuen Sozialstaatsansatz gehört die Aktivierung, was die aktive Hilfe zur sozialen und wirtschaftlichen Integration im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“ anspricht. Die Soziallehre, die dem zugrunde liegt, geht davon aus, dass es oft Prozesse von Integration und Ausschluss sind, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten führen. Und sie hält dafür, etwas frei übersetzt, dass betroffene Personen befähigt werden müssen, für sich selber zu sorgen statt in Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu verkümmern. So fanden die finanziellen Erwerbsanreize Eingang in das System der sozialen Sicherheit, an denen die SKOS und die Konferenz der Fürsorgedirektoren (FDK) festhalten wollen.

 

Vom Weg, den die helvetische Sozialarbeit weiter beschreiten will, erhofft sie sich zweierlei: Erstens eine effizientere Armutsbekämpfung, da Haushalte in sozialstaatlicher Abhängigkeit hin zum Arbeitsmarkt geführt werden; zweitens kann die beunruhigende demographische Entwicklung bekämpft werden, da die Sozialwerke dank der Erhöhung der Erwerbsquote nachhaltig finanziert werden können.

 

Schon früher hat eine Studie auf etwas Drittes hingewiesen: Die Sozialleistungen und Steuern sollten so aufeinander abgestimmt sein, dass sich eine Ausdehnung der Erwerbstätigkeit auch für bescheiden Verdienende immer lohnt. Denn vor allem angelsächsische Länder mit liberalen Arbeitsmärkten und ausgebauten Bedarfsleistungssystemen sahen sich mit unerwünschten Fehlanreizen konfrontiert: Schwelleneffekten und negativen Erwerbsanreizen.

 

Es geht um „horizontale Gerechtigkeit“: steuerliche Gleichstellung von (teil)erwerbstätigen und unterstützten Personen, mithin Gleichbehandlung der Einkünfte aus Erwerb und Sozialtransferleistungen. Damit Menschen, die in Niedriglohnjobs arbeiten, am Ende des Monats nicht weniger frei verfügbares Einkommen zur Verfügung haben, als Menschen, die von der Sozialhilfe leben. Und Menschen, die teilweise oder ganz zurückfinden in den ersten Arbeitsmarkt, sollen nicht weniger Geld im Portemonnaie haben, als vorher ohne Erwerbseinkommen.

 

Vor 20 Jahren hat das Bundesgericht in einem Entscheid das Grundrecht auf Existenzsicherung anerkannt. Gemeint ist das Recht auf Sicherung elementarer menschlicher Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Obdach. Daraus lässt sich aber kein Anspruch auf steuerliche Befreiung im Umgang mit dem Existenzminimum ableiten. Der verfassungsrechtliche Schutz beschränkt sich auf die Garantie, dass niemand durch eine staatliche Abgabeforderung effektiv in seinem Recht auf Existenzsicherung verletzt werden darf.

 

Das Bundesgericht überliess es den kantonalen und eidgenössischen Parlamenten als Gesetzgeber, wie sie dieser Vorgabe genügen wollen: durch die Festlegung eines Steuertarifs, durch Steuerfreibeträge und Abzüge oder durch Steuererlass in Fällen von Bedürftigkeit. In einem Land mit 26 Steuersystemen und fast ebenso vielen Bedarfsleistungssystemen mit zusätzlich unterschiedlicher hierarchischer Reihenfolge für den Bezug der Sozialleistungen ein komplexes Unterfangen.

 

Kommt eine weitere Knacknuss hinzu: Das Existenzminimum ist in der Schweiz nicht einheitlich definiert. Verschiedene Zweige der sozialen Sicherheit haben je eigene Existenzminima und damit entsprechende Armutsgrenzen festgelegt. Mit welchem Betrag ein Haushalt unterstützt wird, hängt also wesentlich davon ab, von welchem Existenzminimum bei der betreffenden Sozialleistung ausgegangen wird. Am meisten werden das betreibungsrechtliche Existenzminimum, das Existenzminimum der Sozialhilfe und das Existenzminimum für Ergänzungsleistungen zur AHV/IV verwendet. Dabei gehen alle drei Existenzminima von unterschiedlichen Kosten für den allgemeinen Lebensunterhalt aus, anerkennen unterschiedliche Ausgabenposten als Teil des Existenzminimums und gewähren unterschiedliche Zusatzleistungen:

 

Beim betreibungsrechtlichen Existenzminimum (Alleinstehende 1230 Franken, Paare 1780 Franken) geht es nicht um Existenzsicherung im eigentlichen Sinn, sondern um den Betrag, den eine verschuldete Person oder Familie für den Lebensunterhalt benötigt und der deshalb nicht gepfändet werden darf.

 

Das Existenzminimum der Sozialhilfe unterscheidet zwischen absolutem und sozialem Existenzminimum. Das absolute Existenzminimum bezieht sich auf die minimale materielle Grundsicherung (eine Person 986 Franken, zwei Personen 1509 Franken). Das soziale Existenzminimum, für das sich die SKOS mit ihren Richtlinien engagiert, umfasst neben der materiellen Grundsicherung auch situationsbedingte Leistungen, die sich aus der besonderen gesundheitlichen, wirtschaftlichen oder familiären Situation der Betroffenen ergeben. Und ausserhalb des sozialen Existenzminimums kommen Leistungen mit Anreizfunktion dazu: die Integrationszulage IZU 100 bis 300 Franken, die minimale Integrationszulage MZU 100 Franken und der Einkommensfreibetrag 400 bis 700 Franken.

 

Die heute steuerfreien Ergänzungsleistungen zur AHV/IV sind so ausgestaltet, dass den Beziehenden nach Bezahlung der Miete (bis zu vorgegebenen Maximalbeträgen) und der Krankenkassenprämie (obligatorische Grundversicherung) der Betrag zur Bestreitung der übrigen Lebenshaltungskosten zur Verfügung steht (Alleinstehende 1607 Franken, Ehepaare 2411 Franken). Dabei ist zu berücksichtigen, dass EL-Beziehende im Gegensatz zur Sozialhilfe keine situationsbedingten Leistungen erhalten. Der etwas höhere Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf soll die Besteuerung der AHV- und IV-Renten ausgleichen sowie Rückstellungen für Unvorhergesehenes ermöglichen.

 

Bei der direkten Bundessteuer – rund 30 Prozent der Steuerpflichtigen zahlen keine direkte Bundessteuer – ist das Existenzminimum bereits nach geltendem Recht faktisch freigestellt, weil kleinere Einkommen durch das Zusammenwirken von Steuertarif und Abzügen von der Steuerpflicht ausgenommen sind, ohne dass dies explizit vorgeschrieben wird. Auch in den kantonalen Steuergesetzen findet sich keine ausdrückliche Regelung, nach welcher das Existenzminimum freizustellen ist.

 

Noch harrt die „horizontale Gerechtigkeit“ schweizweit einer Lösung, wenngleich unisono die Meinung vorherrscht, dass Ungleichbehandlungen und Schwelleneffekte sowie damit verbundene negative Arbeitsanreize auszumerzen sind. Zum Stand der Dinge: Aufgrund einer 2009 eingereichten Standesinitiative des Kantons Bern hatte der Ständerat einer Motion zugestimmt, die die Steuerbarkeit von Unterstützungsleistungen und die steuerliche Entlastung des Existenzminimums zum Ziel hat. Doch die nationalrätliche WAK als vorberatende Kommission des Nationalrates wollte zuletzt in dieser Sommer-Session davon nichts wissen. Sie bezweifelt, dass eine Besteuerung von bedarfsabhängigen Sozialleistungen dieses Problem effektiv beheben kann und glaubt, dass das es durch eine gute Abstimmung von Steuer- und Sozialtransfersystem auf kantonaler Ebene weitgehend behoben werden kann.

 

Tatsächlich sind Lösungen, die zumindest einen Teil der Fehlanreize reduzieren, zur Hand, zumindest auf dem Papier *). So sind sich die Experten einig, dass Bedarfsleistungen anders als heute üblich stufenlos ausgerichtet werden sollten. Eine lineare Ausgestaltung der Sozialleistungen garantiert den allmählichen Rückgang einer Leistung, ohne dass mit zunehmendem Erwerbseinkommen ein abrupter Rückgang in Kauf genommen werden muss.

 

Die Analyse zeigt auch, dass Kantone, die ein einheitliches massgebliches Einkommen für die Bezugsberechtigung von Sozialleistungen kennen und die Reihenfolge für den Bezug solcher Transferleistungen in einem Harmonisierungsgesetz regeln, systembedingte Ungerechtigkeiten eher vermeiden. Diese Erkenntnis wird auch von einer Zürcher Studie **) geteilt, die analysiert hat, dass beim Übergang von der Sozialhilfe in die wirtschaftliche Unabhängigkeit fast bei allen Haushaltstypen bedeutsame Schwelleneffekte auftreten. Sie entstehen, weil Einkommensfreibetrag (EFB), Integrationszulage (IZU), Minimale Integrationszulage und situationsbedingte Leistungen (SIL) beim Eintritt in die Sozialhilfe nicht berücksichtigt werden.

 

Neben Faktoren wie Verbilligung der Krankenkassenprämien, der Alimentenbevorschussung, Kinder- und Familienzulagen, Mietzinsen und Kosten der familienexternen Kinderbetreuung bleibt die Steuerbelastung ein wesentlicher Faktor für das verfügbare Einkommen. Die Steuern (s. faktuell.ch „Die Schweizer Kantonshauptorte im Spiegel ihrer Steuerpolitik“) verursachen im Zusammenspiel mit Bedarfsleistungen, insbesondere bei der Sozialhilfe, in manchen Kantonen erhebliche Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize. Einfach wäre es, Haushalte mit Sozialhilfe und Haushalten mit bescheidenem Einkommen und ohne Sozialhilfe gleichzustellen: Das Existenzminimum müsste über der Anspruchsgrenze der Sozialhilfe und der heute ebenfalls steuerbefreiten Bedarfsgrenze für den Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV liegen.

 

Aus „systemlogischer Sicht“ wäre für die SKOS-Analytiker auch die Besteuerung der Transferleistungen vertretbar, allerdings nur, wenn es nicht zu einem unzulässigen Eingriff ins soziale Existenzminimum kommen würde, was heisst: Die Besteuerung müsste mit einer Erhöhung der Unterstützungsleistungen kompensiert werden. Ein Nullsummen-Spiel.

 

 

*) Schwelleneffekte und negative Anreize bei Transferleistungen, SKOS, 2012

**) Fehlanreize im Steuer- und Sozialsystem des Kantons Zürich, econcept AG, 2012

 

(aufgeschaltet im August 2015)

 

 


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