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Psychische Krankheiten: Die Amerikaner erweitern das Spektrum

18 Prozent der Schweizer Bevölkerung leidet gemäss Bundesamt für Statistik unter psychischen Problemen, ein Drittel davon unter Depressionen. Wie werden die entsprechenden Diagnosen in der Praxis klassifiziert?

 

In der Schweiz wird zur Diagnose psychischer Störungen mehrheitlich die „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angewendet. Neben der ICD-10 kommt in der klinischen Psychologie, der Psychiatrie und der Psychotherapie auch das amerikanische „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-5) zum Einsatz.

 

Die korrekte Anwendung der Klassifizierungssysteme wie auch die Weiterentwicklung der Diagnosestellung liegt in der Verantwortung der Ärztegesellschaften.

 

 

Hier die Palette der psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10 der WHO:

  • Organische, einschliesslich symptomatischer psychischer Störungen (Demenz, organisches Psychosyndrom);
  •  Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol, Drogen, Tabak);
  • Schizophrenie, schizotope und wahnhafte Störungen (Psychose);
  • Affektive Störungen (z.B.Manie; Depression; bipolare Störung);
  • Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (Angst, Trauma, Dissoziation, Psychosomatik); Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (Ess- und Schlafstörungen, sexuelle Dysfunktion, Arzneimittelmissbrauch);
  • Persönlichkeits-und Verhaltensstörungen (z.B. Störung der Impulskontrolle oder der Geschlechtsidentität);
  • Intelligenzminderung (Debilität);
  • Entwicklungsstörungen (Sprach-/Sprechstörung, Lernbehinderung);
  • Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (Aufmerksamkeitsdefizit, Störung des Sozialverhaltens) und
  • Nicht näher bezeichnete psychische Störungen.

Das DSM-Handbuch ist erstmals 1952 erschienen und mit dem DSM-5 liegt seit 2013 die fünfte, aufdatierte Version vor, nachdem Hunderte von Gesundheitsexperten weltweit 11 Jahre an der Überarbeitung der Kriterien für Diagnose und Klassifizierung psychischer Störungen gearbeitet hatten. In das DSM-5 flossen laut Dr. David Kupfer, Vorsitzender der DMS-5-Taskforce, auch Anregungen von Patienten, deren Familien und einer breiten Öffentlichkeit ein und umfasst diverse neue und/oder neu definierte psychische Störungen.

 

Ein Beispiel: die Zwangsspektrumstörung („obsessive-compulsive and related disorders“) – Oberbegriff für Krankheiten, bei denen die Betroffenen unter dem hohen inneren Druck leiden, bestimmte Verhaltensweisen immer wieder wiederholen zu müssen.

 

 

Neu an Störungen im Zwangsspektrum sind im DSM-5 in der englischen Originalbezeichnung folgende aufgeführt:

 

  • excoriation = skin-picking disorder (Nägel kauen, sich in die Lippen und die Innenseite der Wange beissen);
  • trichotillomania = hair-pulling disorder (Haare und Wimpern ausreissen);
  • body dysmorphic disorder = perceived defects or flaws in physical appearance (den eigenen Körper als hässlich oder fehlerhaft wahrnehmen);
  • substance-/medication-induced obsessive-compulsive and related disorders (durch Drogen oder Medikamente ausgelöste Zwangsstörung);
  • hoarding disorder (Sammelzwang);
  • internet gaming disorder (Spielzwang im Internet);
  • obsessional jealousy (krankhafte Eifersucht).

Die volkswirtschaftlichen Kosten der psychischen Krankheiten beliefen sich 2014 in der Schweiz auf rund 20 Milliarden Franken, resp. auf 3,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes. (Vgl. dazu Facts&Figures „IV-Renten: Fast die Hälfte psychische Gründe“)

 

Beim Entscheid über Ansprüche auf Invalidenrente wirken Recht und Medizin in der Schweiz zusammen. Gestützt auf ein Leiturteil des Bundesgerichts sprach die Invalidenversicherung (IV) ab 1991 häufig Renten bei psychosomatischen Leiden wie Kopfschmerzen, Schwindel, Rheuma, Erschöpfung, chronischer Schläfrigkeit und Schleudertrauma aus.

 

 

2004 änderte das Bundesgericht mit einem neuen Leitentscheid und anschliessenden Urteilen seine Praxis: Die Richter beurteilten alle Schmerzleiden ohne medizinisch nachgewiesene körperliche Ursache als „durch den Willen überwindbar“. Schmerzpatienten hatten keinen Rentenanspruch mehr.

 

 

In einem Leitentscheid vom 3. Juni 2015 hat das Bundesgericht seine eigene Rechtsprechung erneut korrigiert: Schmerzpatienten werden mit den übrigen Anwärtern auf IV-Rente gleich behandelt.

 

(aufgeschaltet im Juli 2015)

 

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