faktuell.ch im Gespräch mit Franz Jaeger,
emeritierter Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität St. Gallen (HSG)
Franz Jaeger
faktuell.ch: Das System der sozialen Sicherheit ist in der Schweiz historisch gewachsen. Rund 10 Prozent der Ausgaben sind so genannte „bedarfsabhängige Sozialleistungen“ – zwischen 13 und 16 Mrd. Franken pro Jahr. Bedarfsabhängig heisst: Das Arbeitseinkommen reicht nicht aus, um anständig leben zu können. Betroffen sind, je nach bedarfsabhängiger Leistung, 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung.
Was läuft da falsch, Herr Jaeger?
Franz Jaeger: Ich glaube nicht, dass grundsätzlich etwas falsch läuft. Das 3-Säulen-System als Ergänzung der Lohn- und Vermögenseinkommen garantiert dem Privathaushalt in der Schweiz eine sichere Existenzgrundlage. Mit der Altersvorsorge ist auch die Zukunft gesichert. Unsere Gesellschaft bewegt sich in einer marktwirtschaftlich kapitalistischen Ordnung. Da gibt es natürlich immer Lücken zwischen dem, was ein Mensch an Einkommen – vor allem Erwerbseinkommen – erzielt und dem, was er für ein menschenwürdiges Leben braucht. Wir können alle bis zu einem gewissen Alter arbeiten und verdienen, wenn wir auf Einkommen angewiesen sind. Aber es kann individuelle Lücken im Lebenszyklus geben und dann braucht es diese Ergänzungsleistungen.
faktuell.ch: Die extremen Einkommensunterschiede…
Franz Jaeger: …sind der Preis der wirtschaftlichen Freiheit. Wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt. Darin gibt es diese Unterschiede. Aber das Klischee gewisser politischer Kreise, wonach diese Einkommensunterschiede immer grösser werden, weil wir in einem kapitalistisch rüden System seien, stimmt überhaupt nicht. Das ist nicht faktenbasiert.
faktuell.ch: Sie wollen das Einkommensgefälle, das zum Anspruch auf diese Ergänzungsleistungen führt, aber nicht kleinreden?
Franz Jaeger: Nein. Wo es diese Unterschiede gibt, braucht es eine gewisse Umverteilung. In der Schweiz ist der Ausgleich auf eine befriedigende Art und Weise gewährleistet. Dank unserer direkten Demokratie, die mitspielt bei der Gestaltung des 3-Säulen- Systems, und auch dank der Konkordanz in der Regierung und dem Konsens in Bezug auf sozialen Ausbau. Natürlich gibt es Lücken und es stellt sich die Frage der Finanzierbarkeit. Aber unser System ist reformierbar. Und wir können stolz darauf sein, wie wir es organisiert haben. Im Ausland werden wir überall darum beneidet.
faktuell.ch: Immer mehr Rentner brauchen Ergänzungsleistungen zur AHV. Sollten AHV und Pensionskassen besser in eine Einheitskasse überführt werden?
Franz Jaeger: Das Schweizer Volk wäre dagegen. Es hat bereits mehrere Male eine Einheitskasse im Gesundheitssystem abgelehnt und ich verstehe nicht, dass man dieses Thema politisch immer wieder aufbringen muss.
faktuell.ch: Die Krankenversicherung ist ein Obligatorium. Ist das sinnvoll, wenn nur jeder Dritte die Prämien selber finanzieren kann. Warum nicht gleiches Recht für alle: Die Grundversicherung übernimmt der Staat und die Zusatzleistungen wie Arztwahl und Hotellerie der Patient?
Franz Jaeger: Das ist eine Grundfrage, zu der man in guten Treuen unterschiedliche Meinungen haben kann. Ich bin grundsätzlich ein Staatsskeptiker. Ich bin nicht Staatsgegner. Wir brauchen einen starken Staat. Aber ich bin Skeptiker. Ich glaube, ich bin damit ein typischer Schweizer. Ich bin Föderalist, ich glaube an die direkte Demokratie. Jede staatliche Lösung versehe ich schon mal mit einem Fragezeichen. Als Ökonom bin ich mir aber klar bewusst, dass es öffentliche Güter gibt – wie die Krankenkassenversorgung –, für die der Staat die Verantwortung übernehmen muss. Und in diesem System muss allen, die in der Schweiz leben, arbeiten und zur Wertschöpfung beitragen, Sicherheit gewährt werden.
faktuell.ch: Aber irgendetwas kann doch nicht stimmen, wenn die Prämien Jahr für Jahr steigen und immer weniger Familien ihre Krankenkassenprämien aus eigener Kraft voll bezahlen können.
Franz Jaeger: Natürlich gibt es Reformbedarf. Das Gesundheitssystem ist nicht nur ein Kostentreiber nach oben weil die Kosten der Dienstleitungen steigen. Das ganze System wird zunehmend komplexer und das Altwerden bei möglichst intakter Gesundheit mit den modernen medizinischen Möglichkeiten steigert das Bedürfnispotenzial. Deshalb haben wir massive Kostensteigerungen im Grundsystem. Und wir haben zu viele Spitalkapazitäten, die diffus und nicht spezialisiert sind. Wir können in der Schweiz nicht Herzchirurgie in jedem Landspital anbieten.
faktuell.ch: Das sagt ein Urföderalist.
Franz Jaeger: Wenn es Cluster und zentrale Lösungen braucht, kann das nicht föderalistisch gemacht werden. Als Urföderalist würde ich am meisten Konzessionen im Gesundheitswesen machen. Gesamtschweizerische Lösungen mit optimierter Leistung. Verglichen mit andern Ländern, leben wir im Paradies. Aber auch im Paradies sind Verbesserungen möglich.
faktuell.ch: Wenn alle Stricke reissen, bleibt als letztes Auffangnetz die Sozialhilfe. Seit einiger Zeit werden ihre von der SKOS in Richtlinien gegossenen Leistungen kritisch beurteilt. Besonders im Fokus sind die Schwelleneffekte: (bedarfsabhängige) Leistungen fallen weg oder werden überproportional gekürzt, wenn der Beschäftigungsgrad leicht verbessert wird. Statt mehr ist nachher weniger im Portemonnaie.
Gibt es ein verlässliches Rezept gegen Schwelleneffekte, damit man sagen kann: Leistung lohnt sich?
Franz Jaeger: Das ist ein Grundproblem und ich muss meiner eigenen Disziplin den Vorwurf machen, dass sie dem Schwellenproblem – nicht nur im Versicherungsbereich, nicht nur bei der Altersvorsorge, nicht nur beim ganzen Sozialbereich – zu wenig Rechnung trägt. Gewisse Leistungen erbringt der Einzelne nicht mehr selbst, sondern er hofft, dass er über die Schwelle noch gerade in die staatliche Versorgung rutscht. Die Anreize zum Mangel an Selbstverantwortung und Eigenbeitrag müssen weg. Natürlich gibt es Härtefälle und jemand kann durch die Maschen fallen. Aber nur deshalb das System zurück entwickeln zu wollen: das kann ich als Ökonom nicht befürworten. Wir müssen die Schwellenproblematik überwinden. Eigeninitiative für ein Erwerbseinkomme darf nicht bestraft werden.
faktuell.ch: Ein einfaches Rezept gibt es nicht?
Franz Jaeger: Nein. Wir müssen jede Schwelle in der Umsetzung analysieren und allenfalls wieder anpassen. Wenn die Schwelle zu tief ist, werden immer mehr Leute Anspruch auf Sozialhilfe erheben. Ich habe das in den neuen Bundesländern beobachtet. Bei der Arbeitslosenversicherung sagen Leute, schon der Grossvater habe Sozialhilfe bezogen und super gelebt. Deshalb wollen sie das in der dritten Generation weiterführen.
faktuell.ch: Wäre das Prinzip Leistung / Gegenleistung die Lösung?
Franz Jaeger: Ja, natürlich. Aber unsere Hemmungen … Das sehen sie bei den Asylbewerbern. Wir machen es uns so schwer, sie für eine Arbeit einzusetzen. Laut Gutmenschen-Theorie ist es Ausbeutung, laut Gewerkschaften und Gewerbe eine billige Konkurrenz, die Stellen gefährdet. Diese beiden Widerstände sind ein Hindernis. Da müssen wir offener werden. Offen für die, die wollen und strenger mit denen, die nicht wollen.
faktuell.ch: Wer kann oder will, muss befähigt werden, lautet der Tenor der Sozialindustrie. Immer mehr Spezialisten bieten vielfältige Programme und Dienstleistungen bis hin zur Betreuung von Flüchtlingsheimen an.
Welche wirtschaftliche Bedeutung hat dieser Bereich?
Franz Jaeger: Eine positive und eine negative. Die ganze Aufblähung der individuellen Betreuung fängt in der Schule an mit Psychologen, die für Gewaltverhinderung sorgen sollen und mündet im späteren Leben in ökonomische Absicherung mit Treuhänder, Anwalt etc. Das ganze Umfeld wird von klein auf bis zum Tod reguliert. Diese Entwicklung in Ländern wie der Schweiz, denen es wirtschaftlich gut geht, führt zu einer immer grösseren Anspruchshaltung. Wirtschaftlich positiv ist daran, dass viele Leute einen Job haben und Geld verdienen. Wenn aber das Mass überschritten ist und die Dienstleistungen nicht mehr finanzierbar sind, kommen wir in den negativen Bereich. Ich glaube, da ein Optimum zu finden, ist eine Zukunftsaufgabe, auch in der Schweiz. Wir müssen alle bereit sein, etwas zurück zu buchstabieren. Aber man sieht auch bei der parlamentarischen Debatte, wie populär es ist, immer für den ‚Bürokraten-Sumpf‘ einzustehen. Wenn ich sage ‚Sumpf‘, dann rede ich nur von dem Sumpf, der übertrieben ist. Und wir sind weit auf dem Weg der Übertreibung…
faktuell.ch: Neulich ergab eine Untersuchung im Auftrag der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft der Schweiz und co-finanziert vom Migros-Kulturprozent, dass Freiwilligenarbeit in der zunehmend professionalisierten Sozialunterstützung als Störfaktor empfunden wird.
Braucht es tatsächlich für jede Handreichung ein Diplom mit Spezialausbildung?
Franz Jaeger: Das sieht man in der Kinder- und Altersbetreuung. Wir haben alle ein Pflegebedürfnis und möchten möglichst kompetent betreut werden, wenn es uns schlecht geht. Dafür ist aber nicht durchgehende Akademisierung nötig.
faktuell.ch: Das sagen sie als Professor…
Franz Jaeger: …wissen sie, da bin ich ganz bodenständig. Ich bin gegenüber der Akademisierung sehr zurückhaltend. Ich bin ein absoluter Gegner der Erhöhung von Maturitätsquoten und von tertiären Ausbildungsquoten. Das muss man dem Markt überlassen. Was uns fehlt, sind Handwerker und Mechaniker, nicht Hochschulprofessoren. Von denen haben wir genug, weil bei uns jeder zweite Hochschulprofessor werden will – Zum Glück kann er es nicht…
faktuell.ch: 1997 organisierte die Stadt St. Gallen ein Programm für Langzeitarbeitslose „Arbeit statt Fürsorge“. Daraus entstand die steuerbefreite, gemeinnützige Sozialfirma Dock.
Wie gross ist der volkswirtschaftliche Nutzen einer solchen Firma verglichen mit der direkten Auszahlung von Sozialhilfegeldern?
Franz Jaeger: Eine sehr gute Sache, die Frau Merz und Frau Blattmann mit Dock aufgezogen haben. Ich bin Fan. Grundsätzlich finde ich es sinnvoller, wenn eine Sozialfirma die Massnahmen bewirtschaftet, als wenn die Sozialhilfeempfänger das Geld direkt erhalten. Für die direkten A-fonds-perdu- Zahlungen haben wir Arbeitslosenversicherung, Arbeitsentschädigungen etc.
faktuell.ch: Das Bundesgericht hat vor 20 Jahren entschieden, dass ein Grundrecht auf Existenzsicherung nicht durch staatliche Abgaben, sprich: Steuern etc. verletzt werden darf.
Wie lässt sich dies in einem Land mit 26 Steuersystemen gerecht umsetzen? Ist Föderalismus in diesem Fall nicht ein Problem?
Franz Jaeger: Ich wäre kein Urföderalist, wenn nicht in jedem Kanton jeder die Möglichkeit hätte mit der direkten Demokratie korrigierend einzugreifen. Wenn wir das Gefühl haben, in unserem Kanton komme Soziales zu kurz, dann geben wir Gegensteuer.
Aber wenn halt ein Kanton wie Appenzell Innerhoden (AI) ein bisschen zurückhaltender ist als ein Kanton Bern, dann müssen wir das zulassen. Wenn sie glücklich sind, mit dem was sie haben, soll man ihnen nicht dreinreden. Ich kann mit diesen so genannten zentralen Moralschwellen nichts anfangen. Was heisst schon Existenzsicherung? An der Langstrasse im Kreis 4 der Stadt Zürich sicher nicht dasselbe wie oben im Tal von Wasserauen von AI. Da krieg‘ ich Vögel! Wir haben das Grundrecht auf Existenzsicherung in der Verfassung verankert. Aber das haben sich doch Humantheoretiker einfallen lassen. Die wollen nicht wahr haben, dass wir in total unterschiedlichen Welten leben. Auch in der kleinen Schweiz.
faktuell.ch: Kommen wir zu einem schweizweiten Phänomen: 2,2 Millionen Menschen leiden an chronischen Krankheiten, ein Fünftel der über 50-Jährigen gleichzeitig an mehreren Krankheiten (Multimorbidität).
Was müsste die Wirtschaft tun, damit wir glücklich und gesund arbeiten könnten?
Franz Jaeger: Arbeitsplatz und Arbeitgeber sind nicht in erster Linie Generatoren eines ständigen Wohlgefühls. Die Leute sollen nicht schikaniert werden und in ihrer Arbeit eine Erfüllung finden. Das ist eine Frage des Führungskonzepts eines Unternehmens.
Aber man muss bei der Job-Wahl auch seine eigenen Bedürfnisse kennen. Man kann doch nicht immer sagen, die Wirtschaft, der Staat und alle die auf der starken Seite stehen, müssen für unser Glück sorgen. Wir müssen uns selber umsehen. Schlimm ist es erst dann, wenn wir nicht mehr viele, sondern nur noch eine Option haben wie in Nordkorea und im Stechschritt rumlaufen müssen. Dann haben wir die Sauerei. Aber in der Schweiz habe ich einfach etwas Mühe, grossherzig zu sein.
faktuell.ch: Sie werden bald 75 Jahre alt. Die medizinische Forschung hält es für möglich, dass wir in 40 Jahren 130 werden können.
Was würde dies für unser System der sozialen Sicherheit bedeuten – reicht die Zeit für einen Umbau und wie müsste er aussehen?
Franz Jaeger: Wir müssen wegkommen von diesen generalisierten, fast in Gesamtarbeitsverträgen festgelegten, fixierten Pensionierungs-Vorgaben. Wir müssen flexibilisieren. Nach Beitragsjahren oder Lebensalter. Das heisst auch: Wer früher geht, muss sich mit einer kleineren Rente zufrieden geben oder vorher mehr eingebracht haben. Ich bin gerne bereit, bei den Berufen zu differenzieren. Die körperliche Beanspruchung ist für einen Universitätsangestellten ganz anders als für einen Bauarbeiter.
Ich bin gegen eine Festlegung des Rentenalters und auch gegen eine Erhöhung. Ich bin aber für die Festlegung eines durchschnittlichen Rentenalters. Wir haben in der Schweiz eine grosse Differenz zwischen dem gesetzlich vorgegebenen Rentenalter (65/64) und dem allgemein beanspruchten (62-64). Da ist die Wirtschaft gefordert, aber auch die Pensionäre. Es ist nicht nur die Wirtschaft, die die Leute nicht mehr in erster Priorität beschäftigen will; es gibt auch viele, die nicht mehr arbeiten wollen. Damit geht sehr viel Potential verloren. Ich glaube, dass es in 50 Jahren in den meisten fortschrittlichen Volkswirtschaften kein gemeinsames Pensionsalter geben wird.
faktuell.ch: Viele Faktoren beeinflussen die Arbeitswelt und unsere Sozialsysteme. MIT-Professor Erik Brynjolfsson findet, dass die Schweiz mit innovativen Ideen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen die Folgen der Automatisierung abfedern könnte. Das Land könne sich dieses neue Modell leisten, weil es reich und produktiv ist und die Technologien wirkungsvoll zu nutzen versteht.
Wie denken Sie darüber?
Franz Jaeger: Als junger und liberaler Ökonom war ich Fan des bedingungslosen Grundeinkommens. Das sage ich ganz offen. Das war die Erfindung Milton Friedman, der alles andere als ein Sozialist war. Aber heute, nachdem ich die Entwicklung unseres Sozialsystems über 50 Jahren hinweg miterlebt habe, halte ich ein bedingungsloses Grundeinkommen für völlig systemfremd. Es wäre eine reine Anreiz-Maschine, um den Leuten zu sagen: Hört auf zu arbeiten und sorgt dafür, dass ihr mit dem Grundeinkommen auskommt. Wer soll das finanzieren? Diese Idee muss man fallen lassen, so gut sie gemeint ist. Ich halte es da mit Tucholsky: „Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint.“
faktuell.ch: Und wie steht es mit der Gefahr, dass Arbeitnehmer von Robotern auf dem Arbeitsmarkt ausgetrickst werden?
Franz Jaeger: Roboter werden nicht alle Arbeit übernehmen. Es werden neue, anders angesiedelte Jobs entstehen. Das Problem ist ein anderes: eine riesige Freisetzung von Arbeits- und Leistungspotenzial, das nicht von einem Tag auf den andern dort einspringen kann, wo Arbeit vorhanden ist. Aus einem Menschen A lässt sich nicht in einem Tag ein Mensch B machen in Sachen Ausbildung, mentaler Voraussetzung und kulturellem Hintergrund. Mit diesem Problem müssen wir uns schon heute befassen. In 20 Jahren wird es eines unserer Fundamentalprobleme sein.
faktuell.ch: Jetzt haben wir zudem das Migrationsproblem…
Franz Jaeger: … das macht es nicht besser. Über Migration kann man zum Teil zwar das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt ausbügeln, aber wenn wir nur die Einbahnmigration, eine Flüchtlingswelle in die Schweiz haben, dann wird das Problem hundertmal verschärft.
faktuell.ch: Die Schweiz nimmt so genannte Flüchtlinge aus Eritrea auf, weil in dem Land eine Diktatur herrsche. analog hätten wir vor 1990 Menschen aus dem ganzen sozialistischen Osten aufnehmen müssen. Wo bleibt da die Logik?
Franz Jaeger: Also, ich sehe mir die „Rundschau“ des SRF an: Eine Eritreerin, die in der Schweiz lebt, muss gemäss Asylgesetz zurück nach Eritrea. Jetzt kommen unsere Gutmenschen und erklären, das Land sei eine Autokratie. Meine Güte, da können wir am Schluss halb China übernehmen! Und dann noch Russland. Ich kann nur noch den Kopf schütteln. Bei allem Verständnis für die Probleme dieser Frau – die muss zurück, aber sicher. Wenn wir das nicht tun, dann verleihen wir gewissen Kreisen in der SVP Auftrieb. Ich bin kein Unmensch, aber das geht nicht.
faktuell.ch: Die Begriffe Migranten, Asylbewerber, Flüchtlinge sind schwammig und werden recht beliebig verwendet. Wer soll kommen?
Franz Jaeger: Dort wo Bürgerkrieg herrscht, wie in Syrien, werden Leute auf offener Strasse verfolgt und sind an Leib und Leben gefährdet.
Aber wer schon pro-aktiv davonrennt, weil er nicht Militärdienst oder Sozialdienst leisten oder sich politisch anpassen will….Wenn ein Türke mit seinem Präsidenten Erdogan nicht mehr einverstanden ist, dann soll er in der Schweiz bereits einen Asyl-Vorteil erhalten und bei uns bleiben dürfen? Wo sind wir denn da? Für mich ist ganz klar, dass jeder Asylbewerber nachweisen muss, dass er in seinem Land an Leib und Leben bedroht war. Wenn er das nicht kann, geht er zurück. Nicht alle, die kein Mindesteinkommen haben und nicht in einer Demokratie leben, können sich in der Schweiz niederlassen. Wir können nicht der ganzen Welt ein besseres Leben bieten.
faktuell.ch: Über 80% der Personen im Asylbereich beziehen Sozialhilfe. 10 Jahre nach der Einwanderung sind 40% der Ausländer in der Schweiz vollständig von der Sozialhilfe abhängig.
Franz Jaeger: …ja, da müssen wir mal zurückbuchstabieren.
faktuell.ch: Die SKOS will die Arbeitspflicht im Asylrecht verankern. Drei Monate
nach dem Entscheid über das Bleiberecht sollen die Leute einen Berufseinstiegskurs nehmen.
Wie muss ein Mensch mit einer fremden Sprache und Kultur idealerweise auf die Arbeit in einem schweizerischen Betrieb vorbereitet werden?
Franz Jaeger: Die Frage ist, wie man diese Leute bei uns einsetzen kann. Schwierig, wenn ein Grossteil nicht einmal lesen und schreiben kann.
faktuell.ch: Welche Auswirkungen werden Migration und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahrzehnten auf unsere Sozialversicherungen haben?
Franz Jaeger: Jedes Sozialsystem muss nicht nur heute, sondern auch morgen gesund sein. Auch für künftige Generationen muss es soziale Vorteile bringen, aber es muss auch finanzierbar sein. Jedes System hat Parameter von aussen, die diese Finanzierbarkeit in Frage stellen können. Das sind beispielsweise Überalterung und der Wandel im Arbeitsmarkt. Es ist auch klar, dass Politiker gern von einer kurzfristigen Lücke sprechen, die soziale Menschen dann sofort füllen wollen. Beide Faktoren können dazu führen, dass das Sozialsystem sich nicht mehr selber finanzieren kann und auf Schuldenbasis finanziert werden muss. Diese implizite Verschuldung wird vom IMF gerechnet. In der Schweiz liegen wir schon bei fast 50% der Staatsverschuldung. Verglichen mit Japan (245%) stehen wir noch gut da, aber das darf sich nicht so weiter entwickeln.
faktuell.ch: Was raten Sie unseren politischen Entscheidungsträgern?
Franz Jaeger: Mein Appell richtet sich an die Politiker aller Parteien, auch an die, die eher auf der Seite des Lückenschliessens, des sozialen Ausbaus sind. Ich rate ihnen, bei jeder Lösung die künftige Finanzierbarkeit zu prüfen. Dieser Aspekt sollte in den Institutionen, beispielsweise den Sozialausschüssen der Regierung und des Parlaments, beobachtet und einem neutralen Monitoring unterstellt werden. Was sind die möglichen Kollateralentwicklungen, die impliziten Verschuldungseffekte? Wie gewährleisten wir die Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen für die Zukunft?
Mit kurzfristigen Versprechungen kann man sozial sehr populär sein. Aber wer nicht für nachhaltige Finanzierbarkeit sorgt, ist für mich ein Sozialabbauer. Da mache ich nicht mit!
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
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