Seit in den Wohlfahrtsstaaten die Stichworte Überalterung und Zuwanderung diffuse Ängste und Abwehrreflexe freilegen, ist die Bevölkerungswissenschaft in die erste Reihe der wissenschaftlichen Disziplinen aufgerückt. Und animiert die Jungen mit ihren Prognosen, die wirtschaftliche und politische Entwicklungen und Entscheidungen ausblenden, zur bangen Frage: Wie sicher sind Renten in zehn, zwanzig, dreissig Jahren? Es sind lineare Prognosen, die auf Berechnungen folgender Art abstellen: Wenn Sie heute 40jährig sind, 75 Kilo wiegen und monatlich 500 Gramm zunehmen – wie schwer sind Sie mit 80 Jahren? Antwort: 315 Kilo. Oder, um es an einer von der UBS in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg im Breisgau präsentierten „Studie“ festzumachen, es droht der AHV eine „Finanzierungslücke“ von sagenhaften 1024 Milliarden Franken.
Demografiekeule
Da hilft es scheinbar wenig, wenn die Chefs von Compenswiss, dem Ausgleichsfonds von AHV/IV/EO und damit verantwortlich für die Anlage von derzeit über 30 Milliarden Franken nach einem Bombenjahr 2014 mit einer Nettorendite von 7,1 Prozent für das Geschäftsjahr 2015 mit einer negativen Rendite von 0,77 Prozent „aufgrund der widrigen Marktverhältnisse“ von einem „akzeptablen Resultat“ sprechen. Und der bescheidene Verlust ist nicht der Überalterung und Zuwanderung geschuldet, sondern „widrigen Marktverhältnissen, erschwert durch den Wegfall der Kursuntergrenze des Frankens zum Euro sowie der Absenkung der Negativzinsen durch die Schweizerische Nationalbank“.
Rasch ist von „Blick“ bis „NZZ“ die Demografiekeule zur Hand: „Die AHV rüstet sich für weitere rote Zahlen“ (NZZ), „Die fetten Jahre sind auch für die AHV vorbei“ („Blick“). Und als das Bundesamt für Statistik (BfS) vor einigen Tagen mitteilte, dass die Berufliche Vorsorge (BV), also die obligatorische 2. Säule, gemäss Pensionskassenstatistik zum dritten Mal in Folge einen goldrauschartigen Nettogewinn aus ihren Vermögensanlagen von 51,4 Milliarden Franken ausweist, war dies den helvetischen Medien keine Zeile wert. Dafür nutzte der „Tagesanzeiger“ die Börsenverwehungen zu Beginn dieses Jahres, um Nervenkitzel zu bewirtschaften: „Börsensturz kostet Pensionskassen 24 Milliarden“ – 10 ½ Monate bevor feststeht, was Sache ist!
Zwar stehen zurzeit noch ein paar Geburtenjahrgänge im Saft ihrer besten Jahre, aber die Altersgrenze (65=Pension=alt) rückt auch für die letzten Babyboomer näher und damit die bange Frage: Wie sicher sind unsere Renten? Und das ist der Stoff, der die eingangs erwähnten Demographen animiert, Gruselszenarien auf Vorrat zu entwickeln.
Anders als heute war es zunächst die Bevölkerungsexplosion und nicht die Alterung die als Kern allen Übels ausgemacht wurde.
1798 war für den englischen Pfarrer Thomas Robert Malthus mit damals knapp einer Milliarde Erdenbewohnern das Mass voll. In seinem Hauptwerk „The Principle of Population“ („Das Bevölkerungsgesetz“) begründete er, wie der Vermehrung der Menschen zu begegnen ist: „Die Not als das übermächtige, alles durchdringende Naturgesetz hält die Pflanzen- und Tierarten innerhalb der vorgegebenen Schranken zurück. Sie schrumpfen unter diesem grossen, einschränkenden Gesetz zusammen. Auch das Menschengeschlecht vermag ihm durch keinerlei Bestrebungen der Vernunft zu entkommen.“ Erfolgreich setzte sich Malthus, ab 1805 Professor für Geschichte und politische Ökonomie, in England dafür ein, das staatliche Unterstützungssystem für die Armen abzuschaffen, weil damit die Armen nur zahlreicher würden und so das Übel, das Existenz bedrohende Bevölkerungswachstum, noch vergrössert statt beseitigt würde.
In der modernen Demographie sind Malthus‘ biologischer Ansatz ebenso wie die Biologie als Leitwissenschaft der Bevölkerungstheorie durch eine historisch-soziologische Betrachtungsweise abgelöst und „Das Bevölkerungsgesetz“ ist gleichsam auf den Kopf gestellt worden. Die heutige Bevölkerungsökonomie begründete u.a. der deutsche Nationalökonom Lujo Brentano 1909 aufgrund der ersten Volkszählung in Europa im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: „Mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Kultur wächst die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse der Menschen (…) Der Mensch bricht mit der Kindererzeugung da ab, wo die Mehrung der Kinderzahl ihm geringere Befriedigung schafft, als andere Genüsse des Lebens, die ihm sonst unzugänglich würden…“ Aus diesem Grunde führt der weltweit wachsende Wohlstand nach Brentano zu einer Abnahme der globalen Geburtenrate und zu einer Verlangsamung des Weltbevölkerungswachstums, bis das Wachstum ganz zum Stillstand kommt.
Davon ist die Welt ein gutes Stück entfernt. Und dies nicht nur in der sogenannten Dritten Welt.
Die Einwohnerzahl der Schweiz hat sich seit 1860 von 2,5 auf 8,2 Millionen deutlich mehr als verdreifacht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges trägt der Einwanderungsüberschuss wesentlich stärker zu dieser Dynamik bei als der Geburtenüberschuss. Die seit Beginn des 20. Jahrhundert zu beobachtende Alterung der Bevölkerung beschleunigt sich seit Mitte der 1960er Jahre. Was es braucht ist – nebst jungen Einwanderern – Schweizer Nachwuchs. Doch dabei zeigen sich die Babyboomer getreu Brentanos Erkenntnis zurückhaltend. Als Folge davon fehlt es am Bevölkerungsmix.
Doch langsam tut sich etwas. Mit 1,54 Kindern pro Mutter ist man zwar noch ein gutes Stück von den 2 Kindern pro Mutter entfernt, die das Bundesamt für Statistik zuletzt für 1971 erhoben hat. Erschwerend wirkt sich heute aus, dass sich das Alter der werdenden Mütter massiv erhöht hat – mit dem Ergebnis, dass im Normalfall nicht allzu viele Jahre bleiben, um von einstigen chinesischen Verhältnissen (Ein-Kind-Politik) wegzukommen.
Der Geburtenrückgang, der dem Land von den Babyboomern aufgezwungen wurde, ist nicht einzigartig. Die Schweiz gehört vielmehr zu jenen Ländern, die weltweit als erste einen Geburtenrückgang erfahren haben. In den 1920er und 1930er Jahren, also ein Dutzend Jahre vor Beginn des Babyboomer-Glücks, das in der Schweiz vor Kriegsende einsetzte, gehörte die helvetische Alpenrepublik europaweit zu den „geburtenärmsten Ländern“. Es wurde prognostiziert, dass das Land, das damals gut 4 Millionen Menschen zählte, bis im Jahr 2000 nur noch 2,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger umfassen würde. Der Altersforscher François Höpflinger schrieb dazu: „Das Schreckensgespenst einer unausweichlichen demographischen Alterung der Schweiz wurde gezielt eingesetzt, um die Einführung der AHV zu bekämpfen. Demographische Kampfbilder gegen ein Rentensystem sind somit älter als die AHV selbst.“
Drei demographischen Quotienten sind es, die heute pessimistische Vorstellungen wecken: Sie messen das Verhältnis zwischen der potenziellen Erwerbsbevölkerung und wirtschaftlich abhängigen Menschen, also den Jungen bis zum Abschluss der Ausbildung und den Pensionierten. Der Jugendquotient erfasst das Verhältnis zwischen wirtschaftlich abhängigen Minderjährigen und der potenziellen Erwerbsbevölkerung (die Zahl der unter 20-Jährigen je hundert 20- bis 64-Jährige. Der Altersquotient hält das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen fest (die Zahl der über 64-Jährigen auf hundert 20- bis 64-Jährige.
Aus der Summe von Jugend- und Altersquotienten ergeben sich die demographischen Gesamtquotienten. Sie erfassen das zahlenmässigte Verhältnis von jungen, noch in Ausbildung stehenden Personen, sowie älteren, nicht mehr erwerbsfähigen Personen zum erwerbsfähigen Teil der Bevölkerung. Je höher die Gesamtquotienten, desto höher ist im Allgemeinen die sozialpolitische Belastung der Erwerbsbevölkerung, vor allem bei sozialpolitischen Systemen, die wie die AHV und das Krankenversicherungs-Obligatorium auf Umlageverfahren beruhen.
Dass es sich bei diesen Quotienten je länger je mehr um eine willkürliche Abgrenzung handelt, zeigt auch der wache Blick im Alltag: Heute sind viele Junge beispielsweise nach dem 19. Altersjahr noch in Ausbildung und damit auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Und auch die Erwerbstätigkeit selber kann nicht einfach am Jahrgang festgemacht werden. Ein Drittel der Pensionierten arbeitet heute bereits in irgendeiner Form über 65 hinaus weiter. Gar 50 Prozent würden es tun, wenn sie Gelegenheit hätten.
Kommt etwas Weiteres dazu, wie es Prof. Peter Gross auch im faktuell.ch-Gespräch ausgeführt hat: Die Meinung, dass allein die erwerbstätige Bevölkerung – als Produzenten von marktgängig erarbeiteten handelbaren Gütern – produktiv ist, und sie damit die wirtschaftliche Absicherung der nicht-erwerbstätigen Bevölkerung garantiert, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn diese Sichtweise beachtet nur die Produzentenseite und vernachlässigt die Konsumentenseite.
Rentner sind zwar mehrheitlich keine Produzenten, aber bis ans Ende ihrer Tage Konsumenten und gute Steuerzahler, was nach langer Ausgrenzung inzwischen auch die Werbung entdeckt hat. Einst galt die ganze Werbeberieselung Menschen bis 49; von den Älteren nahm man an, dass bei ihnen Hopfen und Malz verloren seien, weil sie ihre Konsumgewohnheiten ohnehin nicht mehr ändern würden (so der damalige RTL-Chef Thoma). Die Alten schienen für die Werbung lässlich. Heute heisst es, dass ein Wegfall der Pensionierten als Konsumenten zu einer tief greifenden Wirtschaftskrise in unserer modernen Dienstleistungsgesellschaft führen würde.
Und vergessen werden im geldwerten Quotienten-Denken auch die unbezahlten Arbeiten und Dienstleistungen, die Frauen und Männer heute nach ihrer Pensionierung leisten – wie Kindererziehung, Nachbarschaftshilfe, familäre Unterstützung und Pflege. So wird oft übersehen, dass auch ältere und betagte Menschen oftmals soziale Leistungen erbringen – sei es in Form von gemeinnütziger Arbeit, sei es, indem sie ihre Enkel hüten. Gratisarbeit unter solchen Aspekten macht etwa 10 Milliarden Franken aus – oft zugunsten jüngerer Generationen.
Unter der lauter werdenden Kritik räumen inzwischen auch Demographen und Gerontologen ein, dass die üblichen Messzahlen der demographischen Alterung auf überholten fixen Altersgrenzen basieren. Denn Grundlage sind Zuordnungen der zu Omas Zeiten gültigen Vorstellungen eines allgemeinen Rentenalters, wobei unterstellt wird, dass Alter mit der Pensionierung beginnt.
Doch ab wann ist der heutige Wohlstandsmensch alt? Altenforscher Höpflinger verweist auf einen amerikanischen Forscher, Norman Ryder mit Namen, der einen dynamischen Indikator der demographischen Alterung vorgeschlagen hat. Anstatt die Grenze bei 65 Jahren festzulegen, schlägt er vor, die Grenze dort zu ziehen, wo die restliche Lebenserwartung weniger als 10 Jahre beträgt.
In der Schweiz stieg nach üblicher statistischer Definition der demographischen Alterung (alt= älter als 65) der Anteil der älteren Menschen zwischen 1900 und 2000 von 6 auf 15 Prozent. Eine dynamische Definition der demographischen Alterung, die nur jene Frauen und Männer zur Altersbevölkerung zählt, die eine restliche Lebenserwartung von weniger als 10 Jahren aufweisen, vermittelt ein anderes Bild: Der Anteil älterer Menschen wäre im gleichen Zeitraum nur von 5 auf 7 Prozent gestiegen. Eine Spielerei?
Unbestritten ist, dass demographische Prozesse nicht länger isoliert von sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen betrachtet werden können – auch wenn reisserische „Studien“ zur angeblich drohenden AHV-Finanzierungslücke vorerst in der Debatte um die „Altersvorsorge 2020“ weiterhin im Vordergrund stehen dürften.
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