faktuell.ch im Gespräch mit Jürg Brechbühl, Direktor Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
Jürg Brechbühl
faktuell.ch: Herr Brechbühl, wer die Zeitungen in den letzten Wochen aufschlug, erhielt den Eindruck, um unsere Sozialversicherungen, vorab AHV, IV und Berufliche Vorsorge stünde es sehr schlecht. Alles nur Panikmache?
Jürg Brechbühl: Ist Ihnen bewusst, wann die AHV-Beiträge das letzte Mal erhöht worden sind? 1973! Und 1999 wurde die Mehrwehrsteuer um nur ein Prozent angehoben. Haben Sie das Gefühl, das sei ein Zeichen dafür, dass unsere Sozialversicherungen am Anschlag seien?
faktuell.ch: Also alles bestens?
Jürg Brechbühl: Natürlich haben wir Herausforderungen, die bei jeder Sozialversicherung etwas anders liegen. Bei der AHV ist es die demografische Entwicklung. Die Leute werden immer älter, die Babyboomer kommen ins Rentenalter. Wir müssen also für eine Zusatzfinanzierung sorgen. Bei der Invalidenversicherung gilt es, die Menschen mit gesundheitlichen Problemen – vor allem junge Leute – im Erwerbsprozess zu behalten oder wieder einzugliedern. Bei den Ergänzungsleistungen verändern sich die Kosten parallel zur demografischen Entwicklung, wenn die Leute zuhause wohnen. Teuer wird es, wenn sie in ein Pflegeheim umziehen müssen. Bei der beruflichen Vorsorge, die auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruht, wirkt sich die schwierige Situation auf den Anlagemärkten negativ aus.
faktuell.ch: Da muss gehandelt werden?
Jürg Brechbühl: Ja, dringend, wenn wir das System tragfähig erhalten wollen. Es muss möglich sein, den Umwandlungssatz von 6,8% zu senken. Besonders die kleinen Kassen haben mit dem hohen Umwandlungssatz Probleme. Für die grossen Kassen mit einem ausgebauten Überobligatorium ist die Situation nicht so akut, da sie die Möglichkeit haben und auch nutzen, den Umwandlungssatz in ihren Reglementen zu reduzieren. Wir müssen jetzt handeln, sonst haben wir in absehbarer Zeit grössere Probleme. Es empfiehlt sich, den Regenschirm mitzunehmen, bevor es regnet. Wenn man im Gewitter steht, ist es zu spät.
faktuell.ch: Beispiel IV. Die IV-Revision hat ambitiöse Ziele. Bis Ende 2018 sollen rund 17‘000 Menschen mit Voll- oder Teil-Renten wieder in den Arbeitsmarkt zurückgeführt und damit 12‘500 Voll-Renten eingespart werden. Jetzt findet die grosse Mehrheit der IV-Stellen, dass „die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen steht“. Haben Sie das Wiedereingliederungs-Potenzial falsch eingeschätzt?
Jürg Brechbühl: Diese Schätzungen wurden im Hinblick auf die IV-Revision 6a angestellt, die 2012 in Kraft trat. Man ging davon aus, dass sich eine grosse Zahl von IV-Rentnern wieder in den ersten Arbeitsmarkt integrieren lässt. Das ist aber wesentlich schwieriger als erwartet. Dafür ist es der IV gut gelungen, Personen mit Problemen im Job zu behalten, was ja das Ziel der 5. IV-Revision war. Die Zahl der Neurentner ist stärker zurückgegangen als erwartet. Sowohl der Rückgang bei den laufenden Renten als auch jener der neuen Renten ist anders verlaufen als wir erwartet haben. Insgesamt stehen wir nun besser da als erwartet. Schlussfolgerung: Es ist einfacher zu verhindern, dass jemand in die IV-Rente hineinkommt, als jemanden wieder aus der Rente herauszuholen. Darum verfolgen wir bei der IV-Revision, die in Vorbereitung ist, wiederum den vielversprechenden ersten Ansatz.
faktuell.ch: Wie Sie sagen, nimmt die Zahl der Neurenten nach diversen IV-Reformen ab. Aber bei den 18- bis 29-Jährigen kommen jedes Jahr rund 3000 IV-Rentner hinzu. Warum?
Jürg Brechbühl: Wir haben drei unterschiedliche Problemgruppen: Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Viele Leute, die in der IV-Rente landen, hatten schon früher einen Erstkontakt mit der Invalidenversicherung, beispielsweise über ein Geburtsgebrechen und medizinische Massnahmen. Dort wollen wir jetzt gezielt ansetzen. Wir wollen junge Leute befähigen, ihren Weg im Erwerbsleben zu finden, so dass sie gar nicht in die Rente kommen. Der Schlüssel zur Sicherung von Gesundheit und zur Verhinderung von Invalidität und Armut ist die Bildung. Die Erziehungsdirektorenkonferenz liegt mit ihrem Anspruch „kein Abschluss ohne Anschluss“ genau richtig. Mit den Mitteln der IV wollen wir gezielt helfen, indem wir Brückenangebote finanzieren für junge Leute, die vielleicht etwas länger brauchen, bis sie ihren Weg finden. Die psychisch Behinderten wollen wir laufend begleiten, denn eine psychische Störung ist nicht wie ein Beinbruch nach drei bis vier Monaten wieder geheilt. Diese Massnahmen sind in der IV-Revision vorgesehen, zu der gerade die Vernehmlassung läuft.
faktuell.ch: 70% der jungen IV-Rentner haben eine psychische Beeinträchtigung. Woran liegt das? Sind Krankheitsbilder und Therapien so viel komplexer geworden?
Jürg Brechbühl: Klar, früher hatte man ein POS-Syndrom, heute ist das ein Aufmerksamkeitsdefizit…es wandelt sich alles. Aber entscheidend ist, dass es uns gelingt, Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit die Leute nicht alleine gelassen werden. Sonst ist das Risiko viel grösser, dass sie in der IV-Rente landen.
faktuell.ch: Über die Hälfte der psychisch kranken Berenteten sind entweder Secondos oder Kinder ausländischer Eltern. Muss man diese Problematik speziell angehen?
Jürg Brechbühl: Das würde ich so nicht sagen…17% der invaliden Kinder haben Eltern, die auch schon eine Invalidenrente beziehen. Wir haben viele statistische Verkettungen, die Fragen aufwerfen. Wir müssen den Leuten aus ihrem Kreis der chronifizierten Probleme heraushelfen. Das beginnt mit Bildung. Denn Armut kann sich vererben. Das eigentliche Zauberwort ist „Integration“. Das gilt für schweizerische psychisch Behinderte ebenso wie für ausländische.
faktuell.ch: Der jüngste, kaum beachtete Nationale Gesundheitsbericht legt nahe, dass 2,2 Millionen Menschen in unserem Land krank seien, viele mit mehreren Krankheiten. Was denken Sie darüber?
Jürg Brechbühl: Das ist nicht mein Bereich und ich will mich nicht auf die Äste hinaus lassen. Aber wir sehen ja, dass wir zu wenig Bewegung haben, dafür aber einen grossen Druck. Wir haben Übergewicht, trinken zu viel und rauchen zu viel. Auf der andern Seite haben wir ein so gutes Gesundheitswesen und denken, es finde sich gegen jedes Leiden eine Pille.
faktuell.ch: Der bekannte Philosoph und Publizist Ludwig Hasler deutet dieses Ergebnis mit dem Satz: „Machen wir den Staat zur Amme, werden wir zu Kindern.“ Wo muss der Sozialstaat sich zurücknehmen und die Eigenverantwortung einsetzen?
Jürg Brechbühl: Schwierige Frage… ich möchte die Antwort positiv formulieren. Der Sozialstaat muss sicher immer dort helfen, wo die Leute es nicht selber können. So brauchen wir eine Existenzsicherung im Alter. Man kann von 80-jährigen Leuten nicht erwarten, dass sie noch arbeiten gehen. Es kann bei uns nicht die Option sein, zu einem zweiten Südkorea zu werden, das die höchste Selbstmordrate und eine noch höhere bei Rentnerinnen und Rentnern hat, weil die alten Menschen schlicht nicht wissen, wovon sie leben sollen. In gut gehenden Branchen haben wir in der Schweiz in der beruflichen Vorsorge ein Niveau erreicht, auf dem Eigenverantwortung durch Sparen fast nicht mehr möglich ist, weil man so viele Beiträge an AHV und Pensionskasse abliefert.
faktuell.ch: Geht es uns zu gut?
Jürg Brechbühl: Ich würde nie sagen, dass es uns zu gut geht. Es stimmt aber, dass es sehr vielen Leuten gut geht. Mit dem System der Altersvorsorge haben wir die Altersarmut praktisch beseitigt, darauf können wir stolz sein. Mit einer maximalen Altersrente von 2350 Franken macht man zwar keine grossen Sprünge, aber die meisten Rentnerinnen und Rentner haben noch eine zweite, manche auch eine dritte Säule. Ausserdem besteht unsere Altersvorsorge ja nicht nur im Auszahlen von AHV-Renten. Sie ist ein ganz zentraler Faktor für die politische und wirtschaftliche Stabilität der Schweiz. Wir müssen Sorge zu ihr tragen. Deshalb darf die Reform der „Altersvorsorge 2020“ nicht scheitern. Die Leute sollen weiterhin Vertrauen in ihre Altersvorsorge haben können.
faktuell.ch: Im Zusammenhang mit der „Altersvorsorge 2020“ wird oft die „Demografiekeule“ geschwungen. Der St. Galler Soziologe Peter Gross vermisst statistisches Material zum volkswirtschaftlichen Beitrag der Rentner…
Jürg Brechbühl: …mir wäre eine solche Statistik tatsächlich auch nicht bekannt. Es gibt Studien darüber, wie sich das Rentnereinkommen zusammensetzt. Der wichtigste Teil des Rentnereinkommens ist für den Mittelstand die Pensionskasse, nicht die AHV. Je kleiner das Budget, desto wichtiger ist die AHV und je besser es jemandem geht, desto wichtiger ist die berufliche Vorsorge.
faktuell.ch: Gross vermutet, dass ein grosser Teil von dem, was Kindergärten, Schulen und Studienplätzen kosten, mitfinanziert wird von jenen, die die Jungen angeblich als „Schmarotzer“ unterstützen müssen. Wird der Beitrag der Rentner unterschätzt?
Jürg Brechbühl: Gut, darüber kann man eine ganz andere Diskussion führen. Wie hoch ist die volkswirtschaftliche Bedeutung der Gratisarbeit, die Pensionierte zugunsten ihrer Kinder und Grosskinder erbringen? Dass Grossmütter sehr viel tun, geht in der volkswirtschaftlichen Diskussion immer unter. Das finde ich sehr schade.
faktuell.ch: Heute sind viele Junge länger in der Ausbildung als ihre Eltern es waren. Ein Lehrabschluss mit 25 Jahren, ein Universitätsabschluss mit 35 ist keine Seltenheit. Wie wirkt sich dies langfristig auf ihre Sozialbeiträge in den solidarisch finanzierten Sozialversicherungen aus, von denen sie einmal zehren möchten?
Jürg Brechbühl: In der AHV zahlen ja auch Studentinnen und Studenten Beiträge als nichterwerbstätige Personen. Heute kann man sich an schweizerischen Universitäten gar nicht einschreiben, ohne zu belegen, dass der AHV-Mindestbeitrag bezahlt ist. Studenten, die länger in Ausbildung sind, zahlen immer Beiträge. Und wenn sie dann einen hoch qualifizierten Job antreten und höhere Beiträge an die AHV entrichten als sie in Rentenform zurückerhalten, ist das für die AHV finanziell vorteilhafter, als wenn eine schlecht qualifizierte Person mit einem tiefen Einkommen schon ab 18 Jahren Beiträge zahlt. Für die Finanzierung der AHV brauchen wir die Solidaritätsbeiträge der gut bezahlten Leute.
faktuell.ch: Das BSV hat vor nicht allzu langer Zeit eingeräumt, dass die Finanzperspektiven der vergangenen Jahre „die finanzielle Lage der AHV in der Tendenz zu pessimistisch einschätzten“. Sollten in Prognosen über die demografische Entwicklung soziale und wirtschaftliche Veränderungen verstärkt gewichtet werden, statt die demografische Alterung isoliert zu betrachten?
Jürg Brechbühl: Im Gegensatz zu MeteoSchweiz machen wir keine Prognosen, sondern wir arbeiten mit Szenarien. Wir haben nicht den Anspruch, die Zukunft vorhersagen zu können. Zu den Modellen, die früher zu pessimistisch waren: Es gibt eine Entwicklung vor und eine nach dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeits-Abkommens. Was nach Inkrafttreten des Abkommens passieren würde, war nicht absehbar. Unsere Szenarien basieren nicht nur auf der Lebenserwartung. Wir übernehmen Daten vom Bundesamt für Statistik (BFS), das bei seinen Szenarien Faktoren wie Lebenserwartung, Bevölkerungsentwicklung, Einwanderung, Reallohnentwicklung berücksichtigt. Auf dieser Basis entwickeln wir unsere Szenarien. Wir lassen also viel mehr Elemente einfliessen als nur gerade die reduzierten biometrischen Faktoren, wobei diese natürlich auch ihre Bedeutung haben für die Finanzierung der AHV.
faktuell.ch: Vermögen diese Szenarien mit der strukturellen Entwicklung überhaupt Schritt zu halten?
Jürg Brechbühl: Das BFS hat sie alle 10 Jahre angepasst und will dies jetzt alle 5 Jahre tun. Während das BFS einen sehr langen Perspektiv-Zeitraum hat, rechnen wir mit einem kürzeren. Für die Altersvorsorge 2020 haben wir einen Perspektiv-Zeitraum bis 2030. Je weiter man in die Zukunft schaut, desto grösser werden die Unsicherheiten. Deshalb ist es vernünftig, realistische Schritte zu setzen und die entsprechenden Massnahmen innerhalb dieser Schritte zu beschliessen. Wir haben auch von Anfang an festgehalten, dass die neue Reform die Situation bis im Jahr 2030 bereinigen muss.
faktuell.ch: Wie oft sind sie mit Ihren Szenarien in den letzten 20 Jahren richtig gelegen?
Jürg Brechbühl: Grössere Abweichungen hatten wir in der Zeit vor dem Personenfreizügigkeits-Abkommen. Seit wir unsere Szenarien neu gemacht haben, sind wir in der AHV mit dem Versicherungsergebnis immer relativ genau gelegen. Grössere Volatilitäten gab es unter Berücksichtigung des Vermögensertrags. Wir wissen alle, wie hoch der Unsicherheitsfaktor beim Vermögensertrag ist. Dafür kann ich meinen Mathematikern keinen Vorwurf machen.
faktuell.ch: Ihr Sorgenkind, die berufliche Vorsorge, schnitt von 2012 bis 2014, also drei Jahre in Folge, mit einer hohen Rendite ab. Sind gute Jahre nicht dazu da, schlechte aufzufangen?
Jürg Brechbühl: Das kann man im Prinzip sagen. Es wäre auch richtig, nur müsste das System korrekt finanziert sein. Aber unsere Pensionskassen müssen beim jetzigen hohen Umwandlungssatz von 6,8% im Durchschnitt eine Rendite von 5% erwirtschaften. Im Durchschnitt! Pro Jahr! Diese 5% haben sie über den Durchschnitt der letzten 15 Jahre nicht erwirtschaftet. Was passiert mit guten Jahren? Die braucht man, um Rückstellungen aufzubauen, damit die heutigen, laufenden Renten finanziert werden können. Die Dividende der Jungen, die mit ihren Kapitalien zu einem guten Ergebnis der Pensionskassen beitragen, ist relativ schlecht. Wenn das System sauber finanziert wäre, könnte man die schlechten Jahre mit Wertschwankungsreserven kompensieren. In den guten Jahren könnte man eine Höherverzinsung vorsehen und die Jungen hätten eine Dividende. Mit dem zu hohen Umwandlungssatz haben wir in der beruflichen Vorsorge Elemente der Umverteilung, die eigentlich in die AHV gehören. Deshalb müssen wir den Umwandlungssatz senken.
faktuell.ch: Rund 10 Prozent der Sozialausgaben sind sogenannte „bedarfsabhängige Sozialleistungen“. In ihrem Zusammenhang fällt oft das Wort „Schwelleneffekt“, also dass sich Arbeit unter Umständen weniger lohnt als nichts zu tun. Wirtschaftsprofessor Franz Jaeger wirft seiner wissenschaftlichen Disziplin vor, dass sie der Schwellenproblematik generell zu wenig Rechnung trägt. Warum gibt es zur Schwellenproblematik, die in der Öffentlichkeit ständig zu Missgunst- und Skandalgeschichten sorgt, keine verlässlichen Studien, die das BSV in Auftrag gibt?
Jürg Brechbühl: Die einzigen bedarfsabhängigen Sozialleistungen, für die das BSV zuständig ist, sind die Ergänzungsleistungen (EL). Wir unterscheiden zwischen EL zur Invalidenversicherung (IV) und EL zur AHV. Bei der EL zur AHV gibt es kaum Schwelleneffekte. Bei der IV hingegen müssen wir sicherstellen, dass die EL nicht dazu beitragen, Eingliederungs-Bemühungen zu erschweren. Wir haben eine Reform in Vorbereitung, die das Problem mit diesen Schwelleneffekte lösen will. Im geltenden Recht gilt die Bestimmung, dass man einem Teilinvaliden für die EL ein fiktives Einkommen aufgerechnet wird. Das ist an und für sich richtig. Allerdings wird dieses fiktive Einkommen nur zu zwei Dritteln angerechnet. Dadurch schafft man einen Fehlanreiz. Eine der geplanten Massnahmen sieht vor, dass dieses fiktive Einkommen voll angerechnet wird.
faktuell.ch: Damit mag der Fehlanreiz beseitigt sein. Aber was ist mit Leuten, die nicht arbeiten wollen, weil man sich in ihrer Kultur nicht über Arbeit definiert?
Jürg Brechbühl: Ich bin jemand, der sich ganz dezidiert in jedem Fall für Integration ausspricht. Basel-Stadt befolgt seit Ende der 1990er-Jahre eine europaweit als vorbildlich bezeichnete aktive Integrationspolitik nach dem Prinzip „Fordern und Fördern“ und ich halte das – auch wenn es nicht mein Zuständigkeitsbereich ist – für den richtigen Weg. Ich sage das als Staatsbürger. Man kann die Leute nicht einfach in ihrer Ecke sitzen lassen. Es muss möglich sein, sie zu integrieren, wenn sie bei uns sind und bleiben wollen. Das ist wichtig. Integration geht über Sprache, Ausbildung und Erwerb.
faktuell.ch: Trügt der Eindruck, dass bei Reformen der Sozialversicherungen vor allem die Verantwortung verschoben wird. Beispielsweise moniert Felix Wolffers, der Chef der SKOS, dass strengere IV-Regeln automatisch zu mehr Sozialhilfe-Fällen führen. Oder teurere Pflegeheimplätze zu mehr EL-Unterstützung…
Jürg Brechbühl: Wir sehen die Verschiebung nicht. Die IV ist kein garantiertes Mindesteinkommen. Einen Anspruch auf Invalidenleistungen hat nur, wer gesundheitlich beeinträchtigt ist. Wir haben ein Monitoring, das Verschiebungen zwischen Arbeitslosenversicherung, IV und Sozialhilfe analysiert. Nach unseren Modellen gibt es solche Verschiebungen praktisch nicht.
faktuell.ch: Alles ganz transparent?
Jürg Brechbühl: Also… es ist nicht ganz einfach, die Verschiebungen genau zu erfassen, aber das Monitoring zeigt, dass mehr Leute von der Sozialhilfe zur IV kommen als umgekehrt.
faktuell.ch: Die politische und wirtschaftliche Flüchtlingsproblematik belastet unausweichlich auch das System der Sozialversicherungen. Einzelne Länder sind bereits dazu übergegangen oder denken laut darüber nach, die Hürden für den Zugang zu ihrem jeweiligen Sozialversicherungssystem zu erhöhen. Wie denken Sie darüber?
Jürg Brechbühl: Wir haben mit einer Simulation zeigen können, dass wir ohne Migration seit 15 Jahren massive Defizite in der AHV hätten. Unsere Ausländer sind Netto-Zahler, und dank unseren Ausländern können wir die demografischen Herausforderungen im Augenblick wesentlich entspannter angehen, als wenn wir sie nicht hätten. Um das auch zu sagen: Es ist nicht so, dass wir einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft ausstellen. Wir haben durch das Personenfreizügigkeits-Abkommen das Glück, in den letzten Jahren eine sehr hoch qualifizierte Immigration zu haben, die Solidaritätszahlungen leistet. Alle die deutschen Banker und die deutschen Ärzte bezahlen mehr in die Kasse ein als sie daraus beziehen werden…
faktuell.ch: …und kompensieren damit auch die Kosten der Asylbewerber?
Jürg Brechbühl: In der Schweiz werden Asylbewerber in der AHV - auch als Beitragszahler - erst erfasst, wenn sie den Flüchtlingsstatus erhalten oder
als vorläufig Aufgenommene gelten. Jetzt stellt sich die Frage, ob es besser ist, wenn sie Beiträge zahlen und eine AHV-Rente erhalten oder wenn sie aus der AHV ausgeschlossen werden und
Sozialhilfe erhalten. Ich gehe immer davon aus, dass wir in der Schweiz am Samstagabend in der Innerstadt nicht sehen wollen, dass Leute in Kartons vor den Hauseingängen liegen, wie das in
Grossstädten in den USA der Fall ist. Solange wir das nicht wollen, muss irgendjemand dafür bezahlen. Dann finde ich den Ansatz besser, über eine Altersversicherung zu bezahlen als über die
Sozialhilfe.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
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