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Pensionskassen: Auf den "Goldrausch" folgt der "Kater" - bröckelt die 2. Säule?

Am 1. Januar 2025 wird das obligatorische Zwangssparen in der 2. Säule 40. Es ist ein besonderer Geburtstag. Denn das auf 40 Jahre ausgelegte Anspar-Modell der beruflichen Vorsorge wird den ersten vollständigen Durchlauf in der Praxis absolviert haben. Es ist der Lackmus-Test für die Versprechen, die 1972 im Vorfeld des Volksentscheides zugunsten des 3-Säulen-Modells und 1985 mit der Einführung der obligatorischen 2. Säule abgegeben worden sind.

Lackmus-Test für das 3-Säulen-System

Die «1960er» werden der erste Jahrgang sein, der diese Versprechen auf ihren wahren Gehalt hin abklopfen kann, die da lauteten: In Kombination mit der 1. Säule der AHV sollte die berufliche Vorsorge bis zu 60 % des letzten Lohnes abdecken, während die 3. Säule für freiwilliges privates Sparen und Steueroptimierung steht, von der knapp die Hälfte der Versicherten der 2. Säule profitieren bzw. jene, die sie sich leisten können.

 

Damit ist auch gesagt, dass das Bild mit den drei mächtigen Säulen, die sich Generationen von Schweizerinnen und Schweizern eingeprägt haben als Inbegriff der sozialen Sicherheit in Wahrheit etwas ungleich ist  – immerhin beträgt die durchschnittliche Jahresrente heute etwa 30'000 Franken, 10 Jahre nach der Einführung der 2. Säule waren es weniger als 10'000 Franken und die angemessene Fortsetzung des Lebens im Ruhestand eher schwierig. Gleiches gilt für viele Rentnerinnen noch immer: Nur 22 Prozent der Altersrenten gehen an Frauen, also nur 2 von 10 Renten-Franken.

Die Jahre 2012, 2013 und 2014 gehören, gemessen an der Kaufkraft der Pensionskassen-Guthaben und Renditen von 6,8 %, 5,8 % und 6,7 % zu den besseren überhaupt. 2015 war mit geschätzt einem Prozent Rendite bescheiden, vier bis fünf Prozent wären im Durchschnitt ideal.

 

Bei der 2. Säule, die nach dem Kapitalisierungsverfahren funktioniert, ist der Erfolg an der Börse gleichsam der dritte Beitragszahler nebst Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Sparguthaben werden auf individuellen Konten geführt. Versichert sind im BVG-Obligatorium  Jahreslöhne ab 21'150 Franken bis 84'600 Franken, darüber beginnt der überobligatorische Bereich. Vom gesamten Kapital der 2. Säule von rund 777 Milliarden Franken (2014, ohne die Aktiven aus Versicherungsverträgen von rund 100 Mrd. Fr.) entfallen 42 % auf das Obligatorium BVG und 58 % auf das Überobligatorium.

 

Bei der Skandalisierung mit fiktiven Schattenrechnungen, wie sie zurzeit im Schwange sind, geht leicht vergessen, was Sache ist. Prof. Silvano Moeckli, Dozent für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, schreibt in seinem «Den schweizerischen Sozialstaat verstehen» (Rüegger Verlag, 2012) : «Niemals muss eine Pensionskasse Ansprüche innert eines Jahres befriedigen, und niemand kann wissen, was für realwirtschaftliche Ansprüche man mit dem angesparten Geld in 40 Jahren hat.» Kurz: «Der Sozialstaat wird nicht an der Börse gesichert.»

 

Schon vor 13 Jahren hat die «Handelszeitung» nach den Börsen-Verwehungen aufgrund der geplatzten «Dotcom-Blase» fast wörtlich das gleiche Klagelied angestimmt wie jüngst die «SonntagsZeitung» («Jeder Junge zahlt über 1000 Franken an Rentner», «18-Milliarden-Geschenk für die Rentner» etc.: «Das Kapitaldeckungsverfahren», schrieb die «Handelszeitung» damals, «verkommt immer mehr zu einer gigantischen Umverteilung. Und zwar nicht von Reich zu Arm wie in der AHV, sondern von Jung zu Alt.» Das Wochenblatt wähnte die Spielregeln der 2. Säule  «auf Sonnenschein ausgelegt und nicht auf einen anhaltenden Monsunregen». Ganz so anhaltend entpuppte sich der Monsunregen aber nicht.

 

Nur die Finanzkrise von 2008, die die «systemerhaltende» UBS an den Rand des Abgrunds und hilfesuchend in die Arme der Steuerzahler führte, fällt aus dem Rahmen. Seither scheint das unerschütterliche Vertrauen in den «Zaubertrank» der Börse, auf den die 2. Säule angewiesen ist, erschüttert. Trotzdem und bemerkenswert genug: 2008 wurden an der Börse fast 80 Milliarden Franken Schweizer Pensionskassengelder verbrannt und die Reaktion war nicht ansatzweise so alarmierend wie jüngst das «Halali» auf Rentner, die im «dolce farniente» weiterhin zulasten der Jungen über die Verhältnisse leben würden, ganz besonders schlimm in der Romandie: «Welsche erhalten höhere Renten als Deutschschweizer» («SonntagsZeitung». Plötzlich scheint das Kapitalisierungsystem durch Überalterung und Langlebigkeit gefährdet, als ob die demographische Entwicklung eben erst als böse Überraschung vom Himmel gefallen wäre.

 

Ein Blick zurück, gestützt auf Artikel von Matthieu Leimgruber, seit kurzem Professor an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Er hat seine Doktorarbeit zur Geschichte der Pensionskassen geschrieben: «Solidarität ohne Staat? Geschäft und die Gestaltung des schweizerischen Wohlfahrtstaates, 1890 bis 2000.» (aus dem Englischen übersetzt, die Red.)

 

1970, zwei Jahre vor der Weichenstellung für das 3-Säulen-Modell in der Schweiz, mutierte die «demographische Zeitbombe», wie sie Margret Thatcher nach ihrem Amtsantritt nannte, zum grossen Thema: Überalterung - grosse technische Fortschritte in der Medizin – wachsende Ansprüche an die medizinische Versorgung. Es waren die neoliberal-konservativen «Thinktanks», die zwischen 1975 und 1985 vor allem in den USA und Grossbritannien wie Pilze aus dem Boden schossen, die der staatlichen Sozialpolitik den Kampf ansagten. Mit ihrer Unterstützung entrissen die Experten von Weltbank, OECD und Internationaler Währungsfonds (IWF) dem in der Sozialpolitik führenden Internationalen Arbeitsamt (BIT) den Lead. Mit Margaret Thatcher (ab 1975) und Ronald Reagan (ab 1981) betrat ein Duo die Weltbühne, das nur eine Richtung kannte: Privatisierung des Sozialstaates, und zwar ausdrücklich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung.

 

In der Schweiz war die Privatisierung von Teilen der Sozialpolitik lange vor der sogenannten demographische «Zeitbombe» ein  Thema. Vor allem das vielversprechende Geschäft mit der beruflichen Vorsorge rief schon in den 1920er-Jahren die Lebensversicherer auf den Plan. Ihre Renten waren allerdings bescheiden: ein paar wenige Monatslöhne mussten reichen.

 

Das besondere Augenmerk der helvetischen Versicherungswirtschaft galt der AHV, die 1918 im Generalstreik gefordert und 1947 in der Volksabstimmung nach zwei Fehlschlägen mit grosser Mehrheit beschlossen wurde. Knapp zusammengefasst, galt die Sorge einer allzu grosszügig dotierten Rente. Sie sollte die Menschen nur auf den Geschmack nach mehr Sicherheit bringen, gleichsam für die Lust auf private Vorsorge «anfüttern». Dabei war hilfreich, dass mit Peter Binswanger ein früherer Chefbeamter, der am Aufbau der AHV massgebend beteiligt war und sogar die AHV-Botschaft des Bundesrates verfasst hatte, 1956 vom Bundesamt für Sozialversicherungen in die Versicherungswirtschaft wechselte und dort seiner Abneigung gegen überzogene staatliche Versicherungslösungen frönte. An ihm führte jahrzehntelang kein Weg vorbei.

 

Ende der 1950er-Jahre scharte Versicherungsmanager Binswanger eine Lobby-Kommission um sich – die Binswanger-Kommission, die unter dem Patronat der Lebensversicherungsgesellschaften zur Studienkommission für die Probleme der Alters- und Hinterlassenenversicherung mutierte und den Auftrag wahrnahm, ein Alternativmodell zur staatlichen Altersvorsorge zu entwickeln. Binswanger und seine «Winterthur» (heute AXA) spielten dabei eine Schlüsselrolle. In einem Artikel der Gewerkschaftszeitung «work» erklärte Prof. Leimgruber: «Das Modell wurde von diesen Leuten ganz klar als Bollwerk gegen eine Volkspension geschaffen.»

 

1963 ist es dann der in diesem Thema allgegenwärtige Peter Binswanger, der die Mitglieder der Eidgenössischen AHV-Kommission überzeugt, in der Botschaft zur 6. AHV-Revision die Definition der «drei Arten» des «typisch schweizerischen Vorsorgesystems» aufzunehmen. Die unmissverständliche Argumentation sinngemäss: Es gilt die Sozialversicherung dahin zu entwickeln, dass ihr Nutzen auch in Zukunft eine Grundlage und eine Ermutigung für die beiden anderen Vorsorgesysteme darstellt. Die AHV-Rente und mit ihr die Invaliden-Rente müssen einen Basisnutzen haben, der, auf sich allein gestellt, die Versicherungsbedürfnisse für Alter, Tod und Invalidität nicht zu decken vermag.

 

Nicht ganz zehn Jahre später bot die Abstimmung über die PdA-Initiative «für eine wirkliche Volkspension» Gelegenheit, den Sack zuzumachen. Das Volksbegehren der kommunistischen Mini-Partei verlangte ein einziges Versicherungssystem. Bereits bestehende Versicherungs-, Pensions- und Fürsorgekassen sollten integriert werden. Gemäss einem vertraulichen Protokoll, das den Weg zum linken Zürcher Magazin «focus» fand, bezeichnete der damals allmächtige Boss des Schweizerischen Gewerbeverbandes, FDP-Nationalrat Otto Fischer, die Initiative als die «billigste Lösung». Doch der von ihm wie von einem Zampano geführte Verband gab ebenso wie alle andern Patron-Verbände und sämtliche bürgerlichen Parteien die Nein-Parole heraus – wie auch die meisten SP-Kantonalsektionen und der Schweizerische Gewerkschaftsbund, dem es nebst dem Absender der Initiative um die Autonomie der eigenen gewerkschaftlichen Pensionskassen ging. Trotz dieser geschlossenen Phalanx an Gegnern der PdA-Initiative butterte die Wirtschaft, vor allem die Banken und Versicherungen, 6 bis 9 Millionen Franken in den Abstimmungskampf – für die damaligen Verhältnisse eine Rekordsumme. Der Einsatz zahlte sich aus: Die Volkspensions-Initiative wurde buchstäblich versenkt, und zwar mit einem der schlechtesten Ergebnisse seit der Einführung des Initiativrechts im Jahre 1891.

 

Szenenwechsel:

 

Im Vermögensverwaltungsgeschäft tummelt sich eine Vielzahl von privaten Akteuren, die gut vom Geschäft mit den Vorsorgegeldern der Versicherten leben: Ihnen stehen heute 10 % der Kapitalerträge an der Börse zu ("Legal Quote"). Mit der Reform der «Altersvorsorge 2020» wollte der Bundesrat diesen Ansatz auf 8 Prozent kürzen. Doch daraus wir vorerst nichts.

 

Die zur Diskussion gestellte 10prozentige Beteiligung am Anlageertrag ist das eine, die verschärfte Kontrolle der Kosten der Anlagevermögens-Verwaltung das andere: Die Finanzbranche kämpft intensiv um ihre Milliarden-Pfründen und manche drohen bereits damit, sich aus dem Vermögensgeschäft zu verabschieden. Überalterung, Langlebigkeit – der Ruf der Versicherer nach Lockerung der verbindlichen Versprechen, die 1985 abgegeben worden sind, wird lauter und gehässiger. Fast scheint vergessen, dass jene Rentner, die da bereits mit dem bösen Wort vom «Rentenklau» an den Pranger gestellt werden, wie die aktiven Versicherten auch ihre Kunden sind; darunter viele, die vor 1985 bei jedem Job-Wechsel jeweils ihr halbes Altersguthaben zurücklassen mussten.

 

2025 gehen die «1960er» in Rente – die ersten mit vollem 40jährigem Durchlauf auf dem Alterskonto, dicht bedrängt von den wirklich «fetten» Jahrgängen des Babybooms. Es handelt sich um die 100’000er-Jahrgänge 1961 bis 1970. Besonders zahlreich ist der Jahrgang 1964, der nach Lage der Angstszenarien am wenigsten «Bares für Rares» erwarten kann: Die «1964er» sind mit 112'890 Lebendgeburten und einem Geburtenüberschuss von 59'281 gleichsam Doppelrekordhalter aller Zeiten. Zusammengezählt wird es eine runde Million Versicherte sein, die Schlag auf Schlag an die «Honigtöpfe» der 2. Säule drängen, um das «dolce farniente» bei bester Gesundheit möglichst lange zu geniessen. Es sei denn Leute wie Swiss-Life-Chef Patrick Frost machen ihnen ein Strich durch die Rechnung: Er hält es zur Entlastung der 2. Säule und der AHV für nötig, bis 70 und länger im Arbeitsprozess zu bleiben.


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