Bereits macht das grosse Wort vom «Sozialtourismus» die Runde, weil der Kanton Bern beim Sozialhilfe-Grundbedarf Leistungskürzungen beabsichtigt, die über die einheitlichen Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hinausgehen.
SKOS-Richtlinien erneut unter Druck
Als der SKOS-Vorstand im Vorfeld der grossen Richtlinien-Reform mit einer «Multi-Choice»-Befragung (vom Büro BASS* durchgeführt und analysiert) den Reformbedarf aus der Sicht der SKOS-Mitglieder erhob und bündelte, fehlte die radikale Variante «Reduktion bei allen Haushalten». Darum ist jetzt aufgrund der Auswertung nicht erkennbar, welche Kantone sich der Berner Absicht anschliessen könnten. Klar ist nur, dass die überarbeiteten Richtlinien, die nicht zuletzt zur Vermeidung von «Sozialtourismus» landesweit einheitlich gehandhabt werden sollten, in einer gewichtigen Frage (Grundbedarf) zur Makulatur verkommen würden
Zur Erinnerung: Erhoben wurden die Meinungen von sechs Mitgliedergruppen. Es waren dies Kantone, Gemeinden, Sozialdienste, private Organisationen, Bundesämter und Fachhochschulen. Einige Ergebnisse fielen mit deutlichen Mehrheiten aus, nämlich: keine individuelle Festlegung des Grundbedarfs für Grossfamilien (62 %), reduzierte Leistungen für junge Erwachsene im Alter von 18- bis 25jährig (87 %), Beibehaltung des steuerlichen Einkommensfreibetrages in Höhe von monatlich 400 bis 700 Franken (91 %) , Beibehaltung der Integrationszulage in Höhe von 100 bis 300 Franken (85 %), Beibehaltung der Situationsbedingten Leistungen (77 %), grundsätzliche Beibehaltung des Sanktionssystems (81 %), Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten in wiederholten und schwerwiegenden Fällen bei nicht-kooperativen Personen (86 %).
Die Kantone haben überall im Sinne der Mehrheit der anderen SKOS-Mitgliedergruppen gestimmt, bemerkenswerterweise aber in einzelnen Fragen den Durchschnittswert deutlich überboten: 96 % der Kantone sprachen sich für reduzierte Leistungen für junge Erwachsene aus, 96 % für Beibehaltung des steuerlichen Einkommensfreibetrages (wobei die Kantone am stärksten für die bisherige Höhe des Freibetrages votierten), 93 % für das grundsätzliche Festhalten am heutigen Sanktionssystem (bei der Zusatzfrage nach der prozentualen Höhe der Sanktionsmöglichkeiten sprachen sich die Kantone als einzige Mitgliedergruppe mehrheitlich dafür aus, dass die Voraussetzungen für die Ausrichtung der Integrationszulage enger gefasst werden). Eine auffällige Differenz zu den anderen Mitgliedergruppen gab es zudem bezüglich der Höhe der Sanktionsmöglichkeiten. Zur Wahl standen: bis 10 %, 11 – 20 %, 21 – 30 %, 31 – 40 %, 41 – 50 %, über 50 %. Den mit 47 % höchsten Durchschnittswert aller Mitgliedergruppen erhielt die Variante 21 bis 30 %; bei den Kantonen allein sprachen sich im Durchschnitt 74 % für Sanktionsmöglichkeiten in diesem Umfang aus.
Soweit dürfte kaum jemand an den Ergebnissen Anstoss nehmen, die jetzt in die neuen SKOS-Richtlinien eingeflossen sind. Des Pudels Kern liegt anderswo: bei der Festsetzung des Grundbedarfs. Im Unterschied zu allen andern Fragen erhielt beim Grundbedarf keine der vier Varianten einzeln und auch nicht in Kombination mit einer andern Variante auch nur annähernd eine deutliche Mehrheit. Damit ist klar: Wer den Grundbedarf reduziert, so wie der Kanton Bern es jetzt beabsichtigt, verstösst gegen keinen Mehrheitswillen. Hingegen, und das ist wohl weit schwerwiegender, verletzt die Berner Absicht den wichtigsten Sozialhilfe-Grundsatz der SKOS.
Der SKOS-Vorstand hatte zunächst mehrheitlich eine Erhöhung des Grundbedarfs erwogen. Denn der Grundbedarf sollte sich weiterhin an den Einkommen der untersten 10 % der Bevölkerung orientieren – einer Höhe, wie sie das Bundesamt für Statistik erhebt. Bei dieser Höhe geht es mithin um eine Schlüsselfrage des heutigen Verständnisses von Sozialhilfe. In den neuen SKOS-Richtlinien kommt der Begriff vom absoluten Existenzminimum nicht mehr vor, sondern es wird durchgängig vom sozialen Existenzminimum gesprochen, wie es seit Beginn der 2000er-Jahre in der Praxis gang und gäbe ist. Der Unterschied zwischen «absolut» und «sozial» betrifft die finanzielle Unterstützung zur «Teilhabe am Sozialleben» (Kino, Konzerte etc.) Kritiker wenden ein, dass die Sozialhilfe damit ihre angestammte Rolle als zeitlich beschränktes Auffangnetz verlasse mit dem Ergebnis, dass die Sozialhilfe immer öfter zur «Rente» mutiere, die frühestens beim Wechsel ins AHV-Alter (mit den entsprechenden Ergänzungsleistungen) abgelöst werde.
Die Berner Sozialhilfe-Offensive zwecks Einsparung von 15 bis 25 Millionen Franken zielt – gewollt oder nicht – gleichsam auf das, was die SKOS und mit ihr Heerscharen von Sozialarbeitern zum Herzstück moderner Sozialhilfe erhoben haben. Eine weitere Absicht der Berner Regierung schmerzt die ideologische Ausrichtung der rot-grün geführten Organisation gewiss ebenso: Die beabsichtigte Ungleichbehandlung von Personen aus dem Asylbereich in der Sozialhilfe. So sehen die Berner vor, für vorläufig Aufgenommene (VA), die nach sieben Jahren aus der tiefer angesetzten Asyl-Sozialhilfe in die ordentliche Sozialhilfe wechseln, den Grundbedarf nicht «nur» um 10 %, sondern um 15 % zu senken – sofern sie sich noch keine eigene wirtschaftliche Existenz aufgebaut haben. Die Arbeitslosigkeit von VA, das hat eine Langzeit-Studie ergeben, ist besonders hoch, weil potenzielle Arbeitgeber keine Sicherheit haben, wie lange sie mit einem angestellten VA planen können. Der zweite Grund für die mangelhafte Beschäftigung betrifft die Sprachkenntnisse.
Als erster Kanton will der Kanton Bern in der Sprachen-Frage Druck aufsetzen. Wer nach dem Wechsel von der
Bundes-Sozialhilfe in die ordentliche Sozialhilfe der Gemeinden wechselt und sich in keiner der beiden Amtssprachen (französisch oder deutsch) verständlich machen kann, soll sich mit einer
Kürzung des Grundbedarfs von 30 % konfrontiert sehen. Wie die Sozialhilfe-Expertin Annemarie Lanker im Gespräch mit faktuell.ch sieht auch der neue Berner Fürsorgedirektor Pierre-Alain Schnegg
(SVP) den Bund bzw. die Hilfswerke, die die Asylpersonen in den ersten fünf Jahren (anerkannte Flüchtlinge) bzw. sieben Jahre (vorläufig Aufgenommene) betreuen, besonders in der Pflicht. Es
scheint naheliegend, dass dazu während der Bundesphase gelegentliche Sprachkenntnis-Test nötig werden, die auch über den Integrationswillen der Sozialhilfebeziehenden Auskunft geben.
Klarer als die SKOS-Richtlinien bringt der Kanton Bern zum Ausdruck, was er von den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren erwartet: Wer in diesem Alter weder eine Ausbildung absolviert noch erwerbstätig ist, muss eine Kürzung des Grundbedarfs um 30 Prozent hinnehmen. Die Berner gehen damit über die SKOS-Sanktionskriterien hinaus, nur «nicht kooperative Personen in wiederholten und schwerwiegenden Fällen» in dieser Höhe abzustrafen.
Fazit: Dort, wo der Kanton Bern von den SKOS-Richtlinien abrückt, kann er mit der Unterstützung anderer Deutschschweizer Kantone rechnen. Allerdings würde damit der «Röstigraben», der sich zwischen der «grosszügigen» Westschweiz und der «sparsamen» Deutschschweiz in der SKOS-Vernehmlassung zur Reform der Richtlinien deutlich gezeigt hat, noch tiefer werden.
*) Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien
Kommentar schreiben