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Die EL im Lichte der Ungleichbehandlung

Fast zeitgleich sind zwei Untersuchungen publik geworden, die das soziale Gerechtigkeitsempfinden ebenso wie das soziale Gewissen der Schweizer ansprechen. Im einen Fall geht es um Fehlanreize des Sozialsystems, im andern – beschränkt auf Ergänzungsleistungen (EL) – um Kontrollunterschiede und Aufsichtsmängel bei der Vergabe von EL.

 

Beides geniesst besondere Aktualität, weil die Reform der EL in den Beratungen der eidgenössischen Räte vor dem Abschluss steht, deren Ziel dreierlei umfasst: Erhalt des Leistungsniveaus, Verbesserung der Verwendung der Eigenmittel für die Altersvorsorge und Reduktion der Schwelleneffekte.

 

Die EL wurden 1966 als Provisorium eingeführt, weil die erste Säule (AHV) allein dem Verfassungsversprechen der angemessenen Existenzsicherung nie genügte. Erst mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) auf den 1. Januar 2008 wurde das Provisorium offiziell beendet und die EL erhielten in der Bundesverfassung einen eigenen Artikel «Ergänzungsleistungen» (Art. 112a).

 

Die damit verbundenen Änderungen führten gleich im ersten Jahr zu einem Kostenschub um 13,4 Prozent, von 3,3 auf 3,7 Milliarden Franken. Inzwischen machen die EL-Ausgaben jährlich knapp fünf Milliarden Franken aus, in etwa gleich viel wie die Landesverteidigung.

 

EL sind bedarfsabhängige Versicherungsleistungen, auf die ein rechtlicher Anspruch besteht. Über die EL-Gesuche befinden in der Regel die kantonalen Ausgleichskassen. Sie tun es – wie die Untersuchung der EFK zeigt – höchst unterschiedlich: Von 54 000 Gesuchen sind 2016 ein Drittel abgelehnt worden, wobei die Ablehnungsquote zwischen den Kantonen von 18 bis 44 Prozent variiert.

 

Wenn eine Person auf Vermögenswerte verzichtet (Erbvorbezug, Schenkung, Verkauf zu einem Vorzugspreis usw.), so hat dies auf die EL-Berechnung einen Einfluss. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, wie viele Jahre die Übertragung der Vermögenswerte zurückliegt. Wird ein Verzicht festgestellt, so muss das Vermögen angerechnet werden, wie wenn es noch vorhanden wäre. Allerdings wird eine gewisse Amortisation zugestanden. 2016 wurden bei rund 4900 EL-Neuanmeldungen Vermögensverzichte beim Einkommen mitgerechnet (positive und negative Verfügungen). Davon waren 85 Prozent AHV-Fälle. Der Anteil der Anrechnung eines Vermögensverzichts variierte je nach Kanton zwischen 3 und 18 Prozent. Bei fast der Hälfte führte die Angabe des Vermögensverzichts zur Ablehnung des EL-Gesuchs.

 

Ist ein EL-Bezüger oder dessen Ehepartner noch ganz oder teilweise arbeitsfähig und hat kein Arbeitseinkommen, muss ein zumutbares hypothetisches Einkommen in die Rentenberechnung einbezogen werden. Heute wird dieses Verfahren bei IV-Teilrentenbezügern, bei Witwen und bei nicht invaliden Partnern von IV-Rentenbezügern angewandt. Die EFK schätzt, dass bei etwa zehn Prozent der rund 320 000 EL-Bezüger (AHV und IV zusammen) ein hypothetisches Einkommen mitgerechnet wurde. Es handelt sich um eine Schätzung, weil die EL-Daten noch keine Differenzierung zwischen effektiven und hypothetischen Einkommen zulassen.

 

Trotz diverser gesetzlich vorgeschriebener Mindestwerte bleibt den EL-Stellen – schweizweit rund 660 Vollzeitarbeitsstellen mit dem Vollzug beschäftigt – ein relativ grosser Ermessensspielraum im Einzelfall: Zu beurteilen und in die Berechnung einzubeziehen sind vor dem Hintergrund des aktuellen Arbeitsmarktes die Arbeitsfähigkeit, die Vermittelbarkeit und die Qualität der Arbeitsbemühungen.

 

Die EFK hat für elf Kantone den Anteil des angerechneten Einkommens bei alleinlebenden IV-Bezügern berechnet. Ergebnis: Wenn man beide Extremwerte vergleicht, ist ersichtlich, dass die eine EL-Stelle bei 70 Prozent der betroffenen Fälle überhaupt kein hypothetisches Einkommen (Beurteilung als nicht arbeitsfähig) und die andere EL-Stelle bei 70 Prozent der Fälle ein hypothetisches Einkommen (Beurteilung als arbeitsfähig) aufrechnet. Bei einer Halbrente kann der Verzicht auf anrechenbares Einkommen bis zu 1000 Franken pro Monat ausmachen.

 

Es geht mithin um grosse, das Gerechtigkeitsempfinden berührende Unterschiede, die auch Gegenstand einer SECO-Studie der Universität Luzern sind, allerdings unter dem Aspekt der «Resterwerbsfähigkeit» der Ersatzrenten-Beziehenden. Danach spielen die EL eine Schlüsselrolle bei AHV und IV, wenn das Motto «Arbeit vor Rente» ausgegeben wird, verbunden mit dem Anspruch «Arbeit muss sich lohnen».

 

Im Gegensatz zu den AHV- und IV-Renten sind EL steuerfrei und sie müssen auch nicht wie bezogene Sozialhilfe zurückgezahlt werden. Ersteres führt oft dazu, dass erwerbstätige Personen im Niedriglohnbereich ohne EL nach Abzug der Steuern ein tieferes verfügbares Einkommen haben als Personen mit EL.

 

Zunächst zu den Berechnungsgrundlagen. Anspruchsberechtigt sind Personen, die eine Rente der AHV oder IV, IV-Taggeld oder eine Hilflosenentschädigung der IV beziehen. Wer EL beansprucht, muss den Wohnsitz in der Schweiz haben.

 

Der Pauschalbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf beträgt 19 200 Franken (Alleinstehende) bzw. 28 935 Franken (Ehepaare) sowie 10 080 Franken pro Kind (ab dem dritten Kind tiefere Beträge: für zwei weitere je 6720 Franken, ab 5. Kind je Kind 3360 Franken); hinzu kommen die Mietkosten von 13 200 Franken (Alleinstehende) bzw. 15 000 Franken (Ehepaare) und die  Krankenversicherungsprämien. Zusätzlich werden separat Krankheits- und Behinderungskosten (z.B. Zahnarztkosten, Pflege und Betreuungskosten zuhause) vergütet.

 

Mit Grundbedarf, Abzug der Miete und Krankenversicherung verbleiben einem alleinstehenden IV-Rentner im Jahr rund 20 000 Franken als frei verfügbares Einkommen. Gerade bei jungen Erwachsenen – zurzeit etwa 8000 mit ganzer IV-Rente – schwächen die im Vergleich mit Lehrlingslöhnen grosszügigen Leistungen die Bemühungen, den Übergang ins Erwerbsleben bei gesundheitlichen, meist psychischen Problemen zu unterstützen.

 

In der Praxis erreichen die EL etwa in Kombination mit der IV (und allenfalls der beruflichen Vorsorge) vor allem beim Familienvergleich ein Ausmass, das das Gerechtigkeitsempfinden tangiert:  Aufgrund der im Vergleich mit Erwerbstätigen grosszügig bemessenen hohen EL-Beträge für Kinderzulagen kann eine IV-Rente insbesondere für Familien finanziell attraktiv sein. Je nach Wohnort garantieren die EL einer vierköpfigen Familie ein steuerfreies Einkommen von über 75 000 Franken pro Jahr – ein erwerbstätige Familie müsste, um den gleichen Lebensstandard zu erreichen, ein steuerbares Einkommen von um die 100 000 Franken erzielen. Wer von Arbeitsanreizen ausgeht, wie die SECO-Studie, empfiehlt als Lösung für gleich lange Spiesse zweierlei: Plafonierung der EL-Familieneinkommen bzw. Senkung des Leistungsniveaus vorab der Kinderzulagen oder Besteuerung der EL. Wer am Leistungsniveau festhält, rät als Ausgleich zur Steuerbefreiung heute ungleich behandelter Erwerbseinkommen.

 

An die Gesamtkosten der EL von 4,939 Milliarden Franken im Jahre 2017 trugen die Kantone 3,444 Milliarden und der Bund 1,496 Milliarden bei. Die Verwaltungskosten beliefen sich auf rund 120 Millionen, wovon der Bund 36 Millionen übernahm.