Fehlanreize im System der Sozialversicherungen der Schweiz sorgen dafür, dass Bürgerinnen und Bürger davon abgehalten werden, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder auszubauen. Beides steht dem Ziel im Wege, das arbeitsmarktliche Potenzial der Betroffenen zu optimieren. Die Universität Luzern hat im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hauptsächlich den Einfluss und die Wirkung der pekuniären Anreize im Gesamtsystem analysiert und auf fünf spezifische Zielgruppen übertragen, die in unterschiedlichem Ausmass und in unterschiedlichen Lebensphasen (Erwerbsleben, vor und nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters) von den Anreizwirkungen einzelner Sozialwerke betroffen sind.
Problematische Arbeitsanreize werden typischerweise bei Geringverdienern angesiedelt. Aber Arbeitsanreize können ebenso für andere Bevölkerungsgruppen eine wichtige Rolle spielen. So beeinflusst beispielsweise das Rentensystem der 1., 2. und 3. Säule die Ruhestandsentscheidung von Hochqualifizierten. Je nach dem kann das Rentensystem das Ziel, vermehrt ältere Arbeitnehmende im Erwerbsleben zu halten, bestärken oder diesem entgegenwirken.
Hier die wichtigsten reduzierten/negativen Erwerbsanreize und Reformansätze, wie sie die Studienautoren Christoph A. Schaltegger, Patrick Leisibach und Lukas A. Schmid für die folgenden fünf Zielgruppen zusammenfassen:
Einkommensstarke Personen
Die Erwerbsanreize für einkommensstarke Personen werden vor dem ordentlichen Rentenalter in zweifacher Hinsicht gehemmt: Umfangreiche Vermögen aus der (überobligatorischen) beruflichen und privaten Vorsorge gewährleisten hohe «Ersatzraten». Dadurch kann mit Erreichen des Mindestrücktrittsalters von 58 Jahren zumindest ein teilweiser Rücktritt aus der Erwerbstätigkeit erwogen werden. Hinzu kommen die von Vorsorgeeinrichtungen angebotenen attraktiven AHV-Überbrückungsrenten. (Bei der «klassischen» Ersatzrate wird die Rente ins Verhältnis zum letzten vor der Rente verdienten Einkommen gesetzt.)
Nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters sind die pekuniären Anreize, weiter einem Erwerb nachzugehen, ebenfalls gering: Dank hohen Ersatzraten finanziell abgesichert, kann das verfügbare Einkommen nicht wesentlich gesteigert werden, da aufgrund der hohen Grenzsteuersätze ein beträchtlicher Anteil des generierten Erwerbseinkommens dem Fiskus zugeführt werden muss. Mitverantwortlich dafür ist die AHV-Beitragspflicht, die nach Überschreiten des ordentlichen Rentenalters weiter besteht.
Reformansätze:
Erhöhung des ordentlichen Rentenalters für Männer und Frauen; BVG: höheres Mindestrücktrittsalter (angepasst an AHV) sowie Senkung (bestenfalls Entpolitisierung) des Mindestumwandlungssatzes; finanzielle/steuerliche Anreize für Weiterarbeit im Alter; BVG: steuerliche Anreize auf Mindestsicherung beschränken.
Erwerbsanreize für IV-Rentenbeziehende stärken durch Senkung der IV-Kinderrenten (evtl. zusätzlich auch in der beruflichen Vorsorge), Einführung eines stufenlosen IV-Rentensystems.
Einkommensschwache Personen
Vor dem ordentlichen Rentenalter kompensieren Ergänzungsleistungen (EL) allfällige Rentenkürzungen infolge Rentenvorbezug. Dadurch wird der Anreiz zum Kapitalbezug in der Beruflichen Vorsorge (BV) erhöht. Verstärkt wird der ohnehin reduzierte Anreiz durch die AHV-Beitragspflicht im Alter.
Im Arbeitsleben präsentieren sich die Erwerbsanreize aus mehreren Gründen ungünstig, wenn eine IV-Rente mit EL kombiniert wird: Steuerfreie EL garantieren in Ergänzung zur IV-Rate eine relativ hohe Ersatzrate. Und hohe Schwelleneffekte u.a. aufgrund der Rentenstufen sind nicht geeignet, eine (partielle) Wiedereingliederung anzustreben.
In geringerem Ausmass ortet die Studie Schwelleneffekte auch beim Ein- und Austritt aus der Sozialhilfe aufgrund von Steuern, Anspruchsberechtigung, Einkommensfreibeträgen und Integrationszulagen.
Reformansätze:
Frühpensionierungen verhindern und EL-Vorbezug einschränken: Erhöhung des ordentlichen Rentenalters für Männer und Frauen; rentenbildende AHV-Beiträge bei Erwerbstätigkeit im Alter; finanzielle/steuerliche Anreize für Weiterarbeit im Alter; EL-Bezug zur AHV an das ordentliche Rentenalter knüpfen.
Erwerbsanreize für IV-Rentenbeziehende stärken (in Kombination mit EL): Senkung EL-Grundbedarf und höhere Einkommensfreibeträge; EL besteuern; Senkung der IV-Kinderrenten (evtl. zusätzlich in BV); Einführung eines stufenlosen IV-Rentensystems.
Erwerbsanreize für Sozialhilfebeziehende erhöhen: konsequente Differenzierung nach Bezügertyp; Schwelleneffekte beim Ein- und Austritt korrigieren; Einführung und Steuerbefreiung des Existenzminimums in allen Kantonen.
Jugendliche und junge Erwachsene
Grosse Transfereinkommen sind in mindestens dreierlei Hinsicht problematisch: Erstens schaffen sie frühzeitige Abhängigkeiten, an die sich die Empfänger gewöhnen. So dürfte eine IV-Rente, unter Umständen in Kombination mit EL, eine bedeutende Einkommensalternative zu einer Lehre oder Anstellung darstellen. Noch verschärft dadurch, dass EL steuerfrei sind und sich eine höhere Erwerbsbeteiligung aufgrund des Zusammenspiels von IV-Rentenstufen und EL nicht lohnt. Zweitens sind Transferleistungen mit nachhaltig negativen Auswirkungen auf die Erwerbskarriere verbunden, weil aufgrund von IV-Rentenstufen und Schwelleneffekten beim Austritt kaum Anreize zur Wiedereingliederung bestehen. Drittens haben Langzeittransferempfangende erhebliche finanzielle Folgen für die öffentliche Hand.
Ähnliche Bedenken scheinen im Zusammenhang mit der Abhängigkeit von der Sozialhilfe angebracht, wobei das Leistungsniveau tiefer liegt, womit die Erwerbsanreize wenige stark eingeschränkt sind. Allerdings kann ein bedeutender Schwelleneffekt beim Ein- und Austritt entstehen, wenn sich mehrere Faktoren kumulieren (Steuern, Anspruchsberechtigung, Einkommensfreibeträgen und Integrationszulagen).
Reformansätze:
Erwerbsanreize für IV-Beziehende stärken (in Kombination mit EL): keine Rente unter 30 Jahren, dafür als Kompensation verstärkte Betreuungs- und Eingliederungsmassnahen (nach Ansicht der Autoren sind sie jedenfalls «prüfenswert»); Einführung eines stufenlosen IV-Rentensystems; Senkung des EL-Grundbedarfs (neue Kategorien für Jugendliche/junge Erwachsene); EL besteuern.
Erwerbsanreize bei Sozialhilfebezug stärken: Grundbedarfsleistungen senken – im Gegenzug höhere anreizkompatible Integrationszulagen: Schwelleneffekte beim Ein- und Austritt korrigieren; Einführung Steuerbefreiung des Existenzminimums in allen Kantonen.
Einkommensschwache Familien
Nicht zu unterschätzen ist laut Studie die Beeinträchtigung der Erwerbsanreize für Ehepartner einkommensschwacher Familien, die zusätzlich zur IV-Rente EL erhalten. Die steuerfreien Beträge für den Grundbedarf und unterstützungspflichtige Kinder gewährleisten eine umfangreiche finanzielle Absicherung, die eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit wenig attraktiv erscheinen lässt. Dazu kommt eine Reihe weiterer anerkannter EL-Ausgaben sowie Vergütungen von Krankheitskosten. Die bereits mehrfach erwähnten IV-Rentenstufen akzentuieren die reduzierten Erwerbsanreize zusätzlich.
Eine ähnlich anreizhemmende Leistungskumulation beobachten die Autoren in der Sozialhilfe, wenn Familien situationsbedingte Leistungen geltend machen können. Dadurch können sie gegenüber anderen Familien in bescheidenen Verhältnissen ohne Sozialhilfeanspruch bessergestellt werden. Je mehr Kinder eine Familie hat, umso grösser die Diskrepanz, was sich weiter auf den Umfang des Schwelleneffekts beim Ein- und Austritt auswirkt.
Reformansätze:
Erwerbsanreize für IV-Rentenbeziehende stärken (in Kombination mit EL): Einführung eines stufenlosen IV-Rentensystems; Senkung IV-Kinderrenten; Senkung EL-Kinderpauschale oder EL-Plafonierung; Senkung EL-Grundbedarf und höhere Einkommensfreibeträge; EL besteuern.
Erwerbsanreize bei Sozialhilfebezug stärken: situationsbedingte Leistungen reduzieren; Schwelleneffekte beim Ein- und Austritt korrigieren.
Zweitverdiener (Mütter)
Aus der Behandlung der Zweitverdiener in der AHV resultiert eine Reihe ungünstiger Anreizwirkungen: Nichterwerbstätige Ehegatten sind von der AHV-Beitragspflicht befreit, das Einkommenssplitting setzt die für Ehepaare erreichbare AHV-Rente auf höchstens 150 Prozent der Maximalrente fest und die Erziehungsgutschriften werden unabhängig der Anzahl an Kindern im Haushalt ausbezahlt. Weitere Indizien für eine partielle Zementierung traditioneller Rollenmuster in den Sozialwerken liefern die Familienzulagen, die das intensive Arbeitsangebot der Mütter reduzieren können. (Das intensive Arbeitsangebot misst die Veränderung in der Anzahl der Arbeitsstunden, also in der Arbeitsintensität der Erwerbstätigen.)
Reformansätze:
Erwerbsanreize im Zusammenhang mit der AHV stärken: Einschränkungen beim praktizierten Einkommenssplitting; Erziehungsgutschriften an die Anzahl Kinder binden.
Langfristig: Reform des Kinder-/Familiensubventionssystems: Kinderbetreuungsgutschriften statt Familienzulagen; Elternurlaub statt Mutterschaftsurlaub (von den Autoren mit «?» versehen).
Ebenfalls langfristig: Diskussion hinsichtlich einer vom Zivilstand unabhängigen AHV (und Individualbesteuerung).
Quellenhinweis: Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit, Überblicksstudie der Universität Luzern im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO, von Patrick Leisibach, M.Sc., Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger, Lukas A. Schmid, M.A.