faktuell.ch im Gespräch mit Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)
Markus Kaufmann
faktuell.ch: Die Richtlinien der SKOS nehmen die Kantone als Empfehlung entgegen und wenden sie unterschiedlich an. Die grossen Kantone wie Bern und Zürich wollen die Sozialhilfe restriktiver handhaben. Andere folgen ihrem Beispiel: der Aargau etwa oder Baselland, das sogar einen Systemwechsel anstrebt und nur noch materiellen Grundbedarf ausrichten will. Wie geht die SKOS mit dieser Situation um?
Markus Kaufmann: Wir haben an der Konferenz der Kantonsregierungen vor zwei Jahren festgehalten, dass der heutige Grundbedarf angemessen ist. Wenn man ihn unterschreitet, wird das Prinzip des sozialen Existenzminimums in Frage gestellt. Busfahren, telefonieren und anderes könnten Sozialhilfebeziehende bei einer Kürzung von 30%, wie sie Baselland vorsieht, nicht mehr. Das bedeutet soziale Ausgrenzung. Der Kanton Zürich hat das neue Sozialhilfegesetz in Vernehmlassung gegeben und hält im Entwurf explizit an den SKOS-Richtlinien fest. Die Diskussion um die Höhe der Sozialhilfe läuft in einigen Kantonen. Schwyz hat 2017 den Entscheid gefällt, bei den SKOS-Richtlinien zu bleiben. In Bern hat der Grosse Rat eine Kürzung von 8% beschlossen, was aber noch nicht rechtsgültig ist, weil ein Referendum dagegen lanciert wurde. Die SKOS hat eine Studie in Auftrag gegeben, die die Berechnung des Grundbedarfs überprüft, als Grundlage für die anstehenden Debatten.
faktuell.ch: Sozialhilfe beziehen auch anerkannte Flüchtlinge und Vorläufig Aufgenommene. Die grossen Kontingente (2014, 2015, 2016) wechseln in den nächsten Jahren von der Bundesverantwortung auf die der Kantone und Gemeinden. Wegen der zusätzlichen Sozialhilfekosten dürfte die finanzielle Lage für viele Gemeinden äusserst prekär werden. Viele Entscheidungen bei Problemen sind gefragt, die die Praktiker der SKOS am besten einschätzen können. Wie sinnvoll ist es unter diesem Gesichtspunkt, dass sich die SKOS ihre Richtlinien von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK), also der Politik, zurechtstutzen lässt – einer Politik, die dann nicht unisono mitträgt, was sie abgesegnet hat?
Markus Kaufmann: Ich sehe das etwas fliessender als Sie es darstellen. Die Kantone haben schon immer selbst entscheiden können, wie sie unsere Richtlinien anwenden. In der SKOS sind die kantonalen Amtsleiter, also Verwaltungsangestellte vertreten und in der SODK die Regierungsräte. Diese Ebenen arbeiten sehr eng zusammen. Und stärker noch als vor 10, 20 Jahren findet in Parlamenten und Regierungen eine politische Debatte über die Sozialhilfe statt. Deshalb ist es auch sinnvoll, wenn die Direktorenkonferenz sich mit dem Thema auseinandersetzt und sagt, was sie will. Früher betrachtete man Sozialhilfe als ein Fachthema, und delegierte es stärker, wie viele andere Themen auch. Nehmen wir die SIA-Normen in der Schweiz. Die werden in der Regel direkt in die Gesetze aufgenommen. Es ist klar, dass da die Politiker nicht noch einzeln mitdiskutieren, wie dick ein Rohr sein muss. Bei der Sozialhilfe hingegen braucht es sowohl die Fachleute als auch die Politiker.
faktuell.ch: Die SKOS bezieht bei der Ausarbeitung ihrer Richtlinien nicht nur die Kantone, sondern auch die kommunale Ebene mit ein.
Markus Kaufmann: Ja, das ist ein grosser Vorteil. Rund 30% aller Sozialhilfebeziehenden wohnen in den grossen Städten. Zürich und Genf etwa sind sehr stark betroffen. Deshalb reden sie auch mit und bringen Lösungsvorschläge ein. Aber auch die grosse Mehrheit der kleinen und mittleren Gemeinden sind Mitglieder der SKOS und beteiligen sich an der Erarbeitung unserer Richtlinien.
faktuell.ch: Die SKOS-Richtlinien gelten für die ordentliche Sozialhilfe. Zunehmend gibt es aber auch Spezialfälle. Es wird prozessiert. Wie etwa im Fall abgewiesener Asylsuchender, deren Anwälte die Ausweisung verhindern. Wie sieht ihre Aufgabe hier aus?
Markus Kaufmann:. Die ordentliche Sozialhilfe ist für Personen da, die einen ordentlichen Aufenthalt haben in der Schweiz. Wie wir mit den andern umgehen, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Definitiv abgewiesene Asylbewerber haben kein Anrecht auf ordentliche Sozialhilfe. Sie erhalten in dieser Phase Nothilfe gemäss Artikel 12 der Bundesverfassung («Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind»). Was sicher niemand will, sind Zeltlager in öffentlichen Parks, wie dies etwa in Paris der Fall ist.
faktuell.ch: In der Sozialhilfe gibt es auch einen Ermessenspielraum. Man könnte sagen, der Zeitgeist entscheidet, was gerade gilt. Die Bundesverfassung schreibt eine Überlebenshilfe vor, bis der Betroffene wieder in die Eigenständigkeit zurückfindet. Seit 2002 empfiehlt die SKOS das soziale Existenzminimum. Nicht nur die Grundbedürfnisse sollen gestillt werden, der Betroffene soll auch am Sozialleben teilnehmen können. Vieles deutet in der letzten Zeit auf eine Trendwende hin oder täuscht der Eindruck?
Markus Kaufmann: Die Frage des Ermessenspielraums hat natürlich mit einem grundlegenden Prinzip unserer Gesellschaft zu tun. Überall, wo Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat zu tun haben, sei es vor Gericht oder in der Verwaltung, gibt es Regeln. Je klarer und einschränkender diese definiert sind, desto bürokratischer die Abwicklung: Wenn A, dann B. Es gehört aber auch zu unseren Regeln, dass wir den Einzelfall ansehen. Auch in der Sozialhilfe. Weshalb schafft es eine Person nicht, wirtschaftlich selbständig zu sein? Und wenn man das weiss, kann man die geeigneten Massnahmen treffen. Dafür haben wir die SKOS-Richtlinien, Gesetzesbestimmungen auf Kantonsebene und oft auch noch Ausführungsbestimmungen auf kommunaler Ebene. In der Gemeinde ist es sinnvoll, den Ermessenspielraum voll anzuwenden. Allerdings müssen sich Sozialarbeitende an ein riesiges Regelwerk halten. Sie sagen mir immer wieder, dass dadurch der Ermessenspielraum, ihren gesunden Menschenverstand und ihr Wissen anwenden zu können, sehr klein wird.
faktuell.ch: Was ist Ihre Einschätzung?
Markus Kaufmann: Es hat mit der gesellschaftlichen Grundmeinung zu tun, wie stark man beispielsweise gewisse Sanktionsmechanismen anwendet. Bis in die 1970er Jahren wurde Sozialhilfeabhängigen in einzelnen Kantonen das Stimmrecht entzogen. Unter den administrativ Versorgten hatte es auch Personen, die heute als faul und untätig betrachtet würden. Dort traf man – wohl auch aus dem Zeitgeist heraus – ganz krasse Massnahmen, die man heute zu Recht kritisiert. (Einweisung in Zwangsarbeits-, Straf-, Trinkerheilanstalten oder in die Psychiatrie ohne Gerichtsurteil im 20 Jhd.) Heutzutage geht es sicher darum, einerseits den rechtlichen Rahmen anzuwenden und anderseits den Ermessenspielraum so zu nützen, dass die Personen nachher möglichst selbständig werden können. Vielleicht sieht man es in 20 Jahren wieder etwas anders. Wenn die Sozialhilfe so aufgestellt ist, halte ich das für den richtigen Weg.
faktuell.ch: Auch das berufliche Selbstverständnis des Sozialarbeitenden ist dem Zeitgeist unterworfen. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat ein Wandel zum akademischen Case Manager stattgefunden – weg von der bodenständigen, robusten, zuweilen auch einfühlsamen Fürsorgerin früherer Tage…
Markus Kaufmann: …das ist etwas stereotypisch. Es ist sicher so, dass die heutigen Anforderungen hoch sind. Zum einen geht es darum, dass Sozialarbeitende den rechtlichen Rahmen sehr gut kennen müssen und die Verwaltungsabläufe, damit sie die Klienten auf ihre Rechte hinweisen können. Sie müssen psychologische und Beratungsfähigkeiten haben, um den Klienten wieder den Weg in die Erwerbstätigkeit zu zeigen. Zudem müssen sie ihre Rolle in der Verwaltung gegenüber übergeordneten Behörden finden und Dossiers verfassen, die einem regelmässigen Controlling unterstellt sind. Die Anforderungen an die Professionalität sind sehr stark gestiegen. Wer zu 100% arbeitet, ist für 100 Dossiers zuständig. Er oder sie betreut damit 130 bis 150 Personen.
faktuell.ch: Da bleibt wenig Zeit für Betreuung und Beratung im Einzelfall.
Markus Kaufmann: Winterthur hat das kürzlich untersucht. In der Stadt stieg die Belastung für die Sozialarbeitenden stark an. Mehr Stellen gab es nicht und schliesslich musste eine Person 130 Dossiers betreuen. Das hiess, dass sie für jeden Sozialhilfeempfänger nur 3 ½ Stunden an persönlicher Beratung bieten konnte – pro Jahr. Winterthur machte deshalb einen Versuch. Drei Sozialarbeitende wurden ausgewählt, die nur für 75 Dossiers verantwortlich waren und die andern weiterhin für 130. Dann wurde die Ablösungsquote verglichen, das zusätzliche Einkommen, das die Sozialhilfebeziehenden generieren. Resultat: Je weniger Dossiers Sozialarbeitende bearbeiten, desto höher die Ablösung. Und die Stadt spart sogar Geld. Es ist also sinnvoll, in Unterstützung zu investieren, damit Leute auf Sozialhilfe rasch wieder Arbeit finden.
faktuell.ch: Die Sozialhilfe, die öffentlich zu reden gibt, kennt zwei Seiten. Der Bezüger kann es darauf angelegt haben zu betrügen, der Sozialarbeiter kann ein Sadist sein. Sozialhilfemissbrauch versus Machtmissbrauch. Auf welcher Seite ist der «Missbrauch» einschneidender?
Markus Kaufmann: Da nennen Sie zwei Extreme, die nur einen ganz kleinen Teil der Realität in den Sozialdiensten abdecken. Klar ist, dass es den Sozialhilfemissbrauch gibt. Z.B. durch Schwarzarbeit oder fehlende Deklaration von Vermögen. Weil die Sozialdienste dies wissen, schauen sie auch genauer hin. Viele haben Abläufe für ein Controlling geschaffen. Missbrauch muss verhindert werden. Die Sozialdienste müssen mit andern Diensten auf einer Stadtverwaltung zusammenarbeiten. Die grossen Sozialdienste – Beispiel Stadt Zürich – können spezialisierte Abteilungen für ganz spezifische Probleme aufbauen. Kleinere Dienste setzen auf überregionale Organisationen wie der Verein Sozialinspektion im Kanton Bern.
faktuell.ch: Das Dorf muss sich weiterhin auf die Sozialkontrolle verlassen…
Markus Kaufmann: …genau. Allerdings gehen Erfahrungen mit Sozialhilfebeziehenden verloren, wenn diese wegziehen. In der neuen Wohngemeinde wird einfach ein neues Dossier eröffnet. Was wir immer kritisieren: Kleine Gemeinden haben einen grossen Anreiz, schwierige Leute loszuwerden. Eine allein erziehende Mutter mit vier Kindern ist eine grosse Belastung für die Gemeinde. Ich höre immer wieder, dass eine solche Familie ein Loch ins Budget reisst. Die sieht man natürlich gerne wegziehen. Wir sind der Meinung, nicht die Gemeinde sollte die vollen Kosten für Sozialhilfeempfänger tragen, sondern sie müssten durch den interkantonalen Lastenausgleich ausgeglichen werden. In vielen Kantonen ist das bereits so geregelt. Alles andere ist Sankt-Florians-Politik.
faktuell.ch: Wie die Sozialhilfegelder ausgegeben werden, überlässt die SKOS den Sozialhilfebeziehenden. Warum?
Markus Kaufmann: Wir haben seit 20 Jahren die Dispositionsfreiheit. Vorher musste man dem Sozialarbeiter die Quittung vorweisen, wenn man ein Paar Socken gekauft hatte. Dann wurde abgerechnet. Mit Selbständigkeit war diese Praxis nicht vereinbar. Mit dem heute ausgerichteten Grundbedarf können die Bezüger selber entscheiden, ob sie mal etwas Besseres zum Essen einkaufen oder mehr für den ÖV ausgeben wollen. Es geht nicht um grosse Beträge. Wenn man ein Halbtax-Abo kauft, das im Grundbedarf enthalten ist, dann kann man mit dem Rest nach meiner Berechnung zwei Mal pro Woche von Bümpliz nach Bern fahren. Nicht erlaubt ist die Verwendung für Luxusgüter ausserhalb des Grundbedarfs. Wir halten solche selbständigen Entscheidungen für wichtig, damit die Leute auch ihre wirtschaftliche Selbständigkeit wiederfinden können. Auflagen für ein genau bestimmtes Verhalten in der Sozialhilfe widerspricht grundsätzlichen Vorstellungen in unserer Gesellschaft. Es wäre ein zu grosser Eingriff in die Autonomie eines Menschen. Aber wir geben Anreize mit Deutschkursen, Ausbildungen, Beschäftigungsprogrammen. Wer teilnimmt, erhält eine Integrationszulage. Wer eine Auflage des Sozialdienstes nicht erfüllt, wird mit Geldabzügen sanktioniert.
faktuell.ch: Soziales Existenzminimum heisst Gesellschaft suchen: Miteinander ein Bier trinken in der Beiz. Musliminnen raus aus dem Haus. Einkaufen, Tea-Room, Ausstellungen. Weshalb geben Sie nicht zumindest Empfehlungen in diese Richtung ab, damit sich Schweizer und Ausländer näherkommen?
Markus Kaufmann: Es gibt natürlich in der ganzen Schweiz Initiativen, auch in meiner Umgebung, damit sich z.B. Quartierbevölkerung und Flüchtlinge im Café treffen. Oder im Nähatelier, im Deutschunterricht, in einer Gartengruppe. Die SKOS unterstützt diese soziale Integration. Die Richtlinien sehen vor, konkretes Engagement z.B. in einem Quartiertreff mit einer Integrationszulage zu belohnen. Natürlich braucht es auch die andere Seite, die Quartierbevölkerung, die mitmacht, das kann die Sozialhilfe nicht anordnen.
faktuell.ch: Es heisst, in grossen Sozialdiensten gebe es gewissermassen eine Art Klassengesellschaft, was die Betreuung anbelangt. Klingt unschön. Was ist da dran?
Markus Kaufmann: Viele Städte und Gemeinden haben so genannte Fallsteuerungsmodelle. Wenn eine Person Sozialhilfe beantragt, wird abgeklärt, welche Ressourcen sie hat und in welcher Lebenssituation sie ist. Darauf abgestimmt werden Massnahmen definiert. Bei einer Gruppe scheint eine Ausbildung sinnvoll, eine andere besteht aus Leuten, die ihre Fähigkeiten zu wenig nutzen, also eher sanktioniert werden müssen. Es gibt auch eine Gruppe, bei der man stark auf soziale Integration setzen muss. Ein Viertel bis ein Drittel der Leute auf Sozialhilfe wird extrem grosse Schwierigkeiten haben, auf dem heutigen Arbeitsmarkt einen Platz zu finden. Auch das ist die Realität. Nicht vergessen darf man dabei, dass es Personen gibt, die erst bei dritten oder vierten Anlauf die Kurve kriegen. Abschreiben darf man niemanden.
faktuell.ch: Die Sozialhilfe muss zunehmend Ausgesteuerte bis zum Übergang ins AHV-Alter unterstützen. Die SKOS hat deshalb die Initiative lanciert, dass Arbeitslose über 55 in der Arbeitslosenkasse bleiben, statt Sozialhilfe zu beziehen. Das bedeutet eine Verlagerung von einer Kasse zur andern, mehr nicht.
Markus Kaufmann: Unser Modell 55+ ist für Leute, die lange im Arbeitsprozess waren. Die sollen im System bleiben. Wer mit über 55 nicht mehr zum RAV gehen kann, hat man keine realistische Chance mehr, eine Arbeit zu finden. Oder nur in Einzelfällen. Nach dem Verlust der Arbeitsstelle gibt es eine schwierige Phase. Zuerst wird das Vermögen aufgebraucht und der psychische Zustand verschlechtert sich rapide. Man kann als gut situiertes Mitglied der Mittelschicht in die völlige Armut absinken, muss Haus und Auto verkaufen und das Vermögen bis auf 4000 Franken aufbrauchen. Dann kommt man in die Sozialhilfe. Jetzt muss auch das Altersguthaben, aufgelöst werden. Gegen 60 hat man nichts mehr. Bis zur AHV mit Ergänzungsleistungen (EL) lebt man von der Sozialhilfe. So sieht es heute aus. Was wir anstreben, ist eine Zwischenstufe auf dem Niveau der EL. Nicht so viel, dass der Arbeitgeber in der Meinung künden kann, der Mitarbeiter sei bestens abgesichert. Der Arbeitslose muss so seinen Lebensstandard zwar massiv reduzieren, aber er wird nicht mehr in die Sozialhilfe abrutschen. Er kann ein gewisses Niveau halten und hat damit auch grössere Chancen, wieder Arbeit zu finden.
faktuell.ch: Verlagert sich damit nicht einfach die Finanzierung des Problems?
Markus Kaufmann Die Arbeitslosenzahlen der 55+ sollen aufgrund des demografischen Wandels abnehmen. Das macht das Ganze finanzierbar. Und nicht zu vergessen: Wenn ein über 55Jähriger einen starken sozialen Abstieg durchmacht, vom System runtergedrückt wird, dann ist dies auch mit psychischen Problemen verbunden. Wer psychisch so stark leidet, dass ein Klinikaufenthalt nötig wird, kostet den Steuerzahler rasch das -zigfache dessen, was wir vorschlagen.
faktuell.ch: Es geht Ihnen also in erster Linie darum, dass älteren Arbeitslosen ihr Selbstwertgefühl erhalten bleibt…
Markus Kaufmann: … es geht um Menschenwürde und auch um das Finanzielle. Leute aussortieren kann nur ein Drittweltstaat. Da lässt man die Leute in den Slums, wo sie zugrunde gehen. In der Schweiz werden Ausgesteuerte schnell teurer, wenn sie gesundheitliche und psychische Probleme haben.
faktuell.ch: Psychische Diagnosen haben auch zahlreiche IV-Rentner. Bei den unter 30-jährigen sind es ganze zwei Drittel. Die Sozialkommission des Nationalrats will die Schraube anziehen und den unter 30-jährigen keine IV mehr ausrichten. Was halten Sie davon?
Markus Kaufmann: Ich habe oft erlebt, dass junge Leute bis 30 im Haus der Eltern wohnen und nichts tun, um sich zu integrieren, wenn der nötige Druck und die Unterstützung seitens der IV fehlt. Da ist es sinnvoll, auf Integration zu setzen und nicht auf definitive Rente. Das Potenzial junger Menschen muss genutzt werden. Das ist auch im Sinn der Sozialhilfe. Die IV darf aber nicht das System der Arbeitslosenversicherung übernehmen und Menschen, bei denen die Integration nicht funktioniert, nach ein paar Jahren aussteuern. Diese Menschen frühzeitig in die Sozialhilfe abzuschieben, ist weder für die Betroffenen noch für die Gesellschaft sinnvoll.
faktuell.ch: Sie, die SKOS, behaupten, dass mit der Verschärfung der Invalidenversicherung mehr frühere IV-Bezüger zur Sozialhilfewechseln. Was das Bundesamt für Sozialversicherung aber bestreitet. Können sie sich einigen?
Markus Kaufmann: Es gibt Zahlen, die zeigen, wie viel Personen in einem Jahr auf IV sind und im Jahr darauf in der Sozialhilfe. Wir haben gegenwärtig etwa 14'000 Abgänge aus der IV pro Jahr. Rund 2500 kann man nicht klar definieren, etwa 500 von ihnen in der Sozialhilfe.. Das ist nicht allzu viel, aber wir stellen fest, dass wir in den letzten sechs Jahren weniger IV-Renten und deutlich mehr Sozialhilfefälle haben. Gerade bei den über 55- jährigen. Die härtere Praxis der IV wird sicher dazu führen, dass weniger Gesuche eingereicht und gewisse Gesuche deutlicher abgelehnt werden. Die IV ist zum grössten Teil versicherungsfinanziert und zum Teil auch durch Bundesmittel. Die Sozialhilfe ist Sache der Gemeinden und Kantone. Da findet natürlich ein Kampf zwischen den verschiedenen Staatsebenen statt. Wichtiger als diese Finanzfrage ist aber, dass die Systeme gut aufeinander abgestimmt sind und die Integration optimal funktioniert. Psychisch belastete Junge sind bei den IV-Beratern besser aufgehoben als wenn sie in der Sozialhilfe landen.
faktuell.ch: Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist nicht nur wegen psychischer Belastungen, sondern auch wegen der Digitalisierung schwierig, die Arbeitsplätze vernichtet. Wie sehen Sie die Zukunft?
Markus Kaufmann: Ich bin nicht grundsätzlich pessimistisch. Wir haben in der Geschichte ähnliche Situationen gehabt. Im 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz Aufstände gegen die automatischen Webstühle. Aber die Anzahl der Arbeitsstellen ist trotzdem gewachsen. Gleichzeitig steigt das Ausbildungsniveau massiv in der Schweiz, weil wir intensiv in die Ausbildung investieren. Auch bei Migranten. Viele Leute aus der Zweitgeneration besetzen in der Schweiz wichtige Positionen. Diese Leute haben wir integriert.
faktuell.ch: Verlierer wird es doch trotzdem geben?
Markus Kaufmann: Richtig. Es braucht deshalb ausgleichende Mechanismen. Es wird Leute geben, denen die Voraussetzungen fehlen, in dieser Gesellschaft zu bestehen, die immer höhere Anforderungen stellt. Für diese Leute muss der Staat Unterstützung bieten. Ausschliessen kann er sie nicht. Ich bin keineswegs Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ich bin der Meinung, dass man den Leuten die Möglichkeit geben muss, sich sinnvoll in die Gesellschaft einzubringen – durch Arbeit, wenn sie dazu in der Lage sind.
faktuell.ch: Etwa mit der Arbeit in Sozialfirmen, die den vorhandenen Kenntnissen und physischen Möglichkeiten angepasst ist?
Markus Kaufmann: Ja, aber besser als Beschäftigung ist Ausbildung. Das ist Ziel unserer Weiterbildungsoffensive: Es braucht Bildungsangebote für Sozialhilfebeziehende und Abschlüsse unter dem Berufsattest. Das geht im Pflege -, Gastro- und Reinigungsbereich sehr gut. Da kann man erste Schritte machen. Gerade jungen Menschen bringt Durchlässigkeit eine zweite und auch eine dritte Chance. Es gibt viele, die es dann auch schaffen. Es braucht verschiedene Unterstützungssysteme. Wenn wir Arbeitsintegration nur durch finanzielle Anreizsysteme erreichen wollen, sind gewisse Leute von vorherein ausgeschlossen. Die leben dann irgendwo. In Banlieues wie in Frankreich. Ich betrachte es als grosse Errungenschaft, dass es so etwas in die Schweiz noch nicht gibt. Ausserdem sind Banlieues nicht billig. Die Jungen werden kriminell und das kostet sehr viel. Deshalb sollten wir in der Schweiz die Integration als Ziel beibehalten.
faktuell.ch: Sie sind jetzt seit eineinhalb Jahren Geschäftsführer der SKOS. Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
Markus Kaufmann: Die Bildungsoffensive und 55+, beides Vorhaben, die wir in diesem Jahr diskutiert haben. Weiterhin ein Dauerthema sind die Familien. Vor allem die Alleinerziehenden. Das ist das einzige Grossrisiko, das nicht abgesichert ist. 25% der Alleinerziehenden sind in der Sozialhilfe. Besonders stark betroffen sind die Frauen. Einer meiner Vorgänger hat 1943 einen Artikel verfasst mit dem Titel «Die Ursachen der Armut». Darin sind bereits die meisten Ursachen enthalten, die wir auch heute kennen. Sie heissen höchstens etwas anders. Damals wurde von «Idiotie» oder «Schwachsinn» gesprochen. Psychische und physische Invalidität wird heute über die IV abgesichert. Beim «Tod des Ernährers» gibt es heute die AHV. «Arbeitsscheu» und «Müssiggang» sind auch heute noch Themen in der Sozialhilfe. Im Fall «uneheliche Geburt» gibt es heute die Alimentenbevorschussung. Trotzdem leben 25% der allein Erziehenden in Armut und werden von der Sozialhilfe unterstützt. Gewisse Kantone bieten Familienergänzungsleistungen, was ich für sehr sinnvoll halte. Kinder sollten nicht in einem Umfeld aufwachsen, das sie denken lässt, sie hätten ohnehin keine Chance. Die Teilhabe an der Gesellschaft muss gewährleistet sein. Deshalb kritisiere ich die Entscheide von Baselland und Aargau, bei denen diese Problematik völlig ausgeblendet wird. Wenn die Entscheide umgesetzt werden, dann werden die Leistungen um ein Drittel gestrichen. Kinder können aber nichts dafür, dass die Eltern getrennt sind oder dass sie nur einen Elternteil haben. Bei Trennung gibt es keine finanzielle Absicherung wie beim Todesfall des Mannes. Es gilt, eine Lösung zu finden, die verhindert, dass die Armut praktisch vererbt wird.
faktuell.ch: Im Klartext: Baselland will kurzfristig sparen und befasst sich nicht mit den langfristigen Konsequenzen?
Markus Kaufmann: Ich komme auf erwähnten Artikel von 1943 zurück. Für die Motionäre in Baselland scheint das Problem einzig in «arbeitsscheu» und «Müssiggang» zu bestehen. Daher komme die Armut. Das greift definitiv zu kurz und verkennt die vielen Gründe, die zu Armut führen, so wie sie schon vor 70 Jahren beschrieben wurden. Ein wichtiges Argument der Sozialhilfekürzer: Jeder könne gegen Sanktionen Einsprache machen. Das sei zu aufwändig für die Gemeinde. Wenn man dieses Argument durchzieht, stellt man den Rechtsstaat in Frage. Auch der Rentner, der sich dagegen wehrt, dass die Gemeinde eine Strassenlampe vor sein Haus pflanzt und damit vor Bundesgericht geht, kann für die Gemeinde ganz schwierig sein. Aber so funktioniert ein Rechtsstaat. Dass Baselland jetzt allen die Sozialhilfe kürzt…
faktuell.ch: …weil sie faul sind…
Markus Kaufmann: …schwierige und demotiverte Leute hat es immer gegeben, das kann man nicht abstreiten.
faktuell.ch: Also Leute, die finden, dass man von der Sozialhilfe allein leben kann?
Markus Kaufmann: Wenn die Gesellschaft aus «faulen» Leuten direkt Kriminelle macht – und solche Phasen haben wir in der jüngeren Geschichte unseres Landes gehabt –, dann sind wir wieder bei den administrativ Versorgten. Denn das waren die Faulen, zum Teil schon 16- bis 17-Jährige. Ein Mädchen in diesem Alter landete zu dieser Zeit z.B. wegen «unsittlichem Lebenswandel» für Jahre im Gefängnis Hindelbank . Was wir daraus lernen sollten: Es braucht Verhältnismässigkeit. Es gibt sicher ganz schwierige Leute, die Sozialhilfe beanspruchen. Die kann man faul nennen. Hier reagieren wir mit dem Ansatz «Fordern und Fördern». Genau für diese Leute haben wir ein klares System mit Auflagen und Sanktionen in den SKOS-Richtlinien geschaffen.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
Markus Kaufmann ist ausgebildeter Sozialarbeiter und verfügt über langjährige Erfahrung im Sozial- und Gesundheitswesen. Er war als Projektleiter Gesundheitsförderung und Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) sowie Geschäftsführer der Vereinigung der kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF) tätig. Zuvor war er in den Städten Biel und Bern in der Jugendarbeit angestellt.