faktuell.ch im Gespräch mit dem St. Galler FDP-Regierungsrat Martin Klöti, Präsident der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK)
Martin Klöti
faktuell.ch: Die SODK hat 2016 die neuen Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) abgesegnet und damit politisch legitimiert. Seither ist es um die SKOS spürbar stiller geworden, die für viele Bürgerliche zuvor ein „rotes Tuch“ darstellte. Was hat sich mit dieser politischen Legitimation geändert, Herr Klöti?
Martin Klöti: Damit manifestiert sich, dass die SODK auf der politischen Ebene stützt, was der Verein SKOS sich fachlich vorstellt. Das ist manchmal politisch harte Kost, weil mit hohen Kosten verbunden. Wir könnten der SKOS sagen, ihre Anliegen seien zu teuer und sie wie vorher allein machen lassen. Wir haben uns aber anders entschieden: Für ein Bekenntnis, dass die SODK nach einer Dialogperiode, einem Abwägen voll hinter den SKOS-Richtlinien steht. Das war ein grosser Schritt und verleiht den SKOS-Richtlinien mehr Bedeutung. Aber sie bleiben Richtlinien. Die Kantone können damit umgehen wie sie wollen. Sie können sie als verbindlich erklären oder sie können sagen, es handle sich um eine Empfehlung. Im Kanton St. Gallen sind die SKOS- Richtlinien seit jeher eine Empfehlung. Die kantonalen Richtlinien liegen sogar unter den SKOS-Ansätzen. Unsere Sozialämter haben sie bereits seit längerer Zeit definiert. Die Gemeinden, die für die Sozialhilfe aufkommen, müssen dahinterstehen können. Die Gemeindeautonomie hat bei uns einen hohen Stellenwert.
faktuell.ch: Bleiben wir noch ein wenig beim Verhältnis SKOS-SODK. Die neuen Richtlinien der SKOS wurden unter ihrem Vorgänger, dem Solothurner Sozialdemokraten Peter Gomm, angepasst. Ist es für die Akzeptanz der Richtlinien von Vorteil, das mit Ihnen ein Vertreter der Wirtschaftspartei FDP das SODK-Präsidium übernommen hat?
Martin Klöti: Ja. Es hat natürlich auch unter den Sozialdirektoren Bürgerliche, sie bilden sogar die Mehrheit. Wenn wir eine Politik machen wollen, die für alle Kantone gilt, müssen wir Argumente von allen Seiten ausdiskutieren und ausbalancieren. Ich war beim Ausarbeiten der neuen SKOS-Richtlinien als Vizepräsident der SODK dabei. Die Arbeit mit dem neuen Ko-Präsidium der SKOS mit Felix Wolffers und Therese Frösch war sehr gut, weil die Beiden praxisorientiert sind.
faktuell.ch: Was heisst das?
Martin Klöti: Jede Organisation oder jeder Staat zeichnet sich dadurch aus, wie er mit den schwächsten Mitgliedern umgeht. Mir ist es wichtig, dass wir zeigen, wie gut unser Staat ist. Prozentual haben wir gar nicht so viele Sozialhilfebezüger. Sie stehen nur immer im Schaufenster. In unserer Gesellschaft zählt, wer arbeiten und sich absichern kann. Das ist unser Selbstverständnis. Und so manifestiert sich leider gelegentlich die Haltung, dass alle Sozialhilfeempfänger Profiteure seien. Selbst wenn es sich dabei um Menschen handelt, die sich in einer Notlage befinden – wie zum Beispiel eine Frau, die in Trennung lebt und Kinder hat. Es ist nicht meine Haltung, dass man Sozialhilfeempfänger wie Kriminelle kontrollieren muss. Die Kontrolle erfolgt über unsere Sozialämter auf Gemeindeebene und sie tun dies gut, indem sie in engem Dialog mit diesen Menschen stehen. Darauf verlasse ich mich.
faktuell.ch: Warum braucht ein Sozialhilfeempfänger Anreize, damit er eine Arbeit sucht?
Martin Klöti: Wenn jemand arbeiten will, braucht es den Anreiz kaum. Aber wenn Leute nicht arbeiten wollen, dann ist der Anreiz auch der, dass man etwas kürzt, keine Zusatzmöglichkeiten mehr gibt, kein Billett, damit er irgendwo hinfahren oder eine Veranstaltung besuchen kann. Das sind dann Anreize, bei denen er merkt: hoppla!
faktuell.ch: In der Sozialhilfe, so sagt die SKOS, sollte überall der gleiche Massstab angelegt werden, sonst entsteht Sozialtourismus. Das ist der Sinn der SKOS-Richtlinien. Inzwischen scheren mit Getöse die Kantone Zürich und Bern aus, also der grösste NFA-Geber-Kanton und der grösste NFA-Nehmer-Kanton. Weisen die grossen Kantone hier den Weg, wie es mit den SKOS-Richtlinien weitergehen soll?
Martin Klöti: Nein, ganz klar nein. Wir haben das in der SODK untersucht und diskutiert. Es gibt keinen Domino-Effekt. In Bern hat man zuerst von einer Kürzung von 10 Prozent gesprochen, jetzt noch von 8 Prozent. Aber dafür will der Kanton Bern den Anreiz bei den Integrationsmassnahmen geben: Lieber etwas mehr Geld für die Integration in den Arbeitsprozess, als nur bei der Grundpauschale die Kasse klingeln zu lassen. Wenn man an der Grundpauschale schraubt, dann muss man etwas anderes bieten. Das muss aber nicht für alle Kantone gelten. Schweizweit gilt der Ansatz, den die SODK zusammen mit der SKOS definiert hat. Aber eben nur als Richtlinie.
faktuell.ch: Die Kantone haben sich mehrheitlich immer gegen ein schweizerisches Rahmengesetz für Sozialhilfe gewehrt, wie es die SKOS seit vielen Jahren fordert. Nicht zuletzt wegen der ausscherenden Kantone Zürich und Bern scheint wieder Bewegung in die Frage gekommen zu sein: Ein Vorstoss der grünliberalen Fraktion im Dezember 2017 fordert ein Konkordat oder ein nationales Rahmengesetz. Ist die Zeit doch langsam reif für ein Rahmengesetz?
Martin Klöti: Nein. Wir haben das im Vorstand der SODK angesprochen. In unserem nationalen Dialog Sozialpolitik hat Bundesrat Alain Berset mit der Möglichkeit eines Rahmengesetzes gespielt. Aber die Kantone haben ein solches abgelehnt. Wir halten an der Aufgabenteilung im Föderalismus fest. Da geht es ganz tief runter auf die Stufe der Gemeinden. Der Bund kann da nicht mitreden. Vor allem, weil er nicht zahlt.
faktuell.ch: 2016 und 2017 hat die SKOS auf die explodierenden Sozialhilfekosten hingewiesen, die auf die Gemeinden und Kantone zukommen, wenn ihnen der Bund für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene, die auf Sozialhilfe angewiesen bleiben, nach fünf bzw. sieben Jahren die volle finanzielle Verantwortung überträgt. Was ist aus dem „runden Tisch“ geworden, den die SKOS zwecks Entschärfung des Problems vorgeschlagen hat?
Martin Klöti: Den braucht es gar nicht mehr, weil wir mit dem Ko-Präsidium der SKOS einen nahen und durchlässigen Kontakt haben. Wir sehen uns regelmässig an Vorstandssitzungen und führen einen laufenden Dialog. 2018 gehen die offiziellen Prognosen von 16'000 bis 20'000 Asylsuchen aus. Das ist verkraftbar und nicht mit 2015 und 2016 zu vergleichen…
faktuell.ch: … ändert aber nichts daran, dass die Welle 2015/2016 auf die Gemeinden und Kantone zurollt.
Martin Klöti: Ja, die ist da. Genau dafür brauchen wir die Erhöhung der Integrationspauschale. Unser kantonales Integrationsprogramm für die Jahre 2018 bis 2021 sieht deshalb Ausgaben von fast 30 Millionen Franken vor – schätzungsweise rund 16 Millionen an Integrationspauschalen durch den Bund für anerkannte Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommene (VA), knapp 7 Millionen spezifische Integrationsförderung vom Bund und knapp 7 Millionen spezifische Integrationsförderung vom Kanton. Anders ausgedrückt: 80 Prozent des Budgets für diese vier Jahre ist für den Förderbereich «Bildung und Arbeit» bestimmt, 11 Prozent für «Information und Beratung» und 9 Prozent für «Verständigung und Zusammenleben.»
faktuell.ch: Und mit diesen Mitteln…
Martin Klöti: …glaube ich, dass wir auch die angesprochene Welle einigermassen dämmen können. Natürlich gibt es einen Schub. Aber wenn die Flüchtlinge einmal in den Gemeinden sind und die Einwohner sie wirklich kennenlernen, dann wollen sie sie gar nicht mehr hergeben. Ich nehme das Beispiel eines Asylbewerbers, der im lokalen Fussballklub spielt. Er hat seinen Ausreisebescheid erhalten. Jetzt kämpft die ganze Gemeinde dafür, dass er bleiben kann.
faktuell.ch: Die grösste Flüchtlingszahl kommt seit Jahren aus Eritrea, immer mehr auch unbegleitete Minderjährige. In Leserbriefen und auf Social Media reisst die Kritik insbesondere an ihnen nicht ab. Da ist von angeblichen Schafhirten die Rede, die im Restaurant mit Kennermiene an einem Gläschen Wein schlürfen…
Martin Klöti: ... zum Glück haben die noch Freude am Leben! Es macht mir immer Sorgen, wenn man Leute abstempelt. Nicht alle sind gleich. Wir haben Eritreer in Familien, die sich sehr gut entwickeln und bei uns in St. Gallen und in Graubünden über ein Teillohnmodell Fuss fassen. Wir hatten damals ja auch das Thema mit den Tamilen. Plötzlich waren so viele da. Die gingen aber in den Restaurant-Küchen abwaschen und störten deshalb niemanden. Auch bei den Eritreern kann sich etwas entwickeln, das für sie und uns passt. Dann kann eine ganze Generation beginnen, sich zu organisieren und zu arbeiten. Für junge Menschen ist es keine Freude, in einem Land nicht zu arbeiten, in dem alle immer am Arbeiten sind. Das kann nicht über Jahre hinweg so gehen. Glauben sie mir, die fühlen sich dabei nicht gut.
faktuell.ch: Sie wenden im Kanton St- Gallen, wie sie sagten, 9 Prozent des Integrationsbudgets für Verständigung und Zusammenleben auf. Damit sie wissen, wie’s bei uns läuft. Und wie steht es mit Information für Schweizerinnen und Schweizer über die Menschen, die aus fremden Kulturen zu uns kommen?
Martin Klöti: Integration ist ein Aufeinanderzugehen. Ich gehe durch den ganzen Kanton und predige, dass wir von den Zuwanderern etwas lernen können. «Diversity», Vielfalt, heisst nichts anderes, als von andern Kulturen, vom andern Geschlecht Fähigkeiten abzuholen. Wenn wir glauben, wir seien die einzigen, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, und wissen wie es geht, dann liegen wir gründlich falsch. Wenn wir lernen würden, mit wie wenig Menschen glücklich sein können, und wie gross ihre Kommunikationsmöglichkeiten sind, indem sie sich den ganzen Tag Geschichten erzählen. Das können wir uns ja kaum vorstellen.
faktuell.ch: Das kann, wie immer gesagt wird, eine Bereicherung sein. Das Problem: Kulturen, die von der Gleichberechtigung der Frau gar nichts halten. Gleichberechtigung ist eine Errungenschaft der letzten 40 Jahre, die durch Zuwanderung gefährdet ist. Es kommen nicht in erste Linie aufgeklärte und liberale Muslime nach Europa...
Martin Klöti: … natürlich nicht. Aber wir müssen denen auch einen Weg auftun. Deshalb rede ich mit Imamen. Wir führen mit ihnen Seminare durch. Wir zeigen ihnen, wie eine gesellschaftliche Integration in unserem Land funktionieren kann. Wir haben sehr interessante Modelle, zum Beispiel in Wil mit einer neuen Moschee, die ein kulturelles Begegnungszentrum ist. Die Türen sind offen. Ich kann mit Imamen und der islamischen Gemeinschaft Kaffee trinken. Die freuen sich. Aber man muss den ersten Schritt eben selbst machen. Zu Habib Bourguibas Zeiten, in den 1950er Jahren, hatten in Tunesien die Frauen das Stimmrecht – weit vor den Schweizerinnen. Alle mussten eine Ausbildung machen. Frauen und Männer. Gleichwertig. Deshalb kann man nicht einfach alle in eine Ecke stellen. Das ist gefährlich.
faktuell.ch: Trotzdem: Viele Flüchtlinge halten gar nichts von der Gleichberechtigung der Frau. Im Ergebnis haben wir es mit einem Rückschritt zulasten der Frauen zu tun, einer rückläufigen Bewegung…
Martin Klöti: …ja aber nicht alles ist rückläufig. Muslime, die zu uns kommen und bleiben, sind nicht fundamentalistisch. Ohnehin praktizieren nur etwa 30 Prozent ihren Glauben. Schlechte Beispiele müssen wir nehmen, um die Mitglieder dieser Gemeinschaft zu informieren und zu sagen: «Schaut, wenn ihr so weitermacht, dann funktioniert es bei uns nicht.» Deshalb ist auch der Nationale Aktionsplan gegen Radikalisierung so wichtig: aufmerksam sein, die Leute ansprechen und ihnen sagen, dass gewisse Haltungen bei uns nicht erlaubt sind. Wer sich radikalisiert, für den hat es keinen Platz in unserer Gesellschaft.
faktuell.ch: In ihrem Papier „Arbeit statt Sozialhilfe“ fordert die SKOS Qualifizierungsprogramme für Flüchtlinge innert drei Monaten nach dem Entscheid über das Bleiberecht. Sie sollen obligatorische Berufseinstiegskurse besuchen, in den Sektoren Gastgewerbe, Bau, Reinigung, Hauswirtschaft, Landwirtschaft sollen Ausbildungsplätze geschaffen werden. Zusätzliche Kosten pro Jahr: 125 Millionen Franken.
Martin Klöti: Hat meine volle Unterstützung, finde ich ganz gut!
faktuell.ch: Sicher gut im Ansatz. Aber die Beschäftigungschancen von gering Qualifizierten in der Schweiz sinken dramatisch. So gesehen wirkt das Projekt „Arbeit statt Sozialhilfe“ wie eine teure Beschäftigungstherapie, die nie einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben wird.
Martin Klöti: Was könnten sie denn arbeiten? Sie haben zum Teil weder Schulabschlüsse noch Berufslehre. Es hat Leute mit akademischem Hintergrund, besonders unter den Syrern. Aber der Haupanteil der Flüchtlinge aus Kriegsgebieten hängt schon seit Jahren in der Sozialhilfe. Es ist für sie schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden, weil es in den Segmenten, in denen man sie platzieren könnte, noch ganz andere Interessenten hat. Das ist die Schattenseite unserer Entwicklung. Wenn wir in der Technologie derartige Fortschritte machen, dass wir einfache Arbeiten überall vor lauter Effizienz rausspülen, dann gibt es einen Anteil von Menschen, die nicht mehr beschäftigt werden können.
faktuell.ch: Etwa ein Viertel der Sozialhilfeempfänger werden in der Sozialhilfe praktisch „berentet“, weil sie offenbar nicht mehr vermittelbar sind. Viele meinen, es gebe genügend Arbeiten, die die meisten von ihnen als Gegenleistung für die Sozialhilfe erledigen könnten – oft erwähnt wird das Beispiel für Sauberkeit sorgen, Abfall einsammeln – wie es in den USA auch arbeitslosen Professoren zugemutet wird.
Martin Klöti: Sozialhilfe darf man nicht mit Strafaufgaben verbinden. Abfall einsammeln ist nun wirklich nicht die schlauste Beschäftigung. Aber genau für dieses Segment der nur noch schwer vermittelbaren Sozialhilfeempfänger suchen wir Beschäftigung. Jede KMU im ganzen Land, die von einem Patron geführt wird, beschäftigt Menschen, die sozial nicht mithalten kann. Sie können im Lager etwas sortieren und aufräumen. Aber wenn zunehmend nur noch Effizienz gefragt ist, dann fliegt genau diese Gruppe als erste raus. Mit unserem Wahn, dass alles immer lukrativer werden soll, sind wir einfach falsch unterwegs.
faktuell.ch: Auf eine Veränderung zu hoffen ist aber illusorisch…
Martin Klöti: …ja da brauchen wir ein Gesetz, das diese Leute schützt und ihnen die Existenz ermöglicht.
faktuell.ch: Zürichs Sozialvorsteher Raphael Golta (SP) will gering qualifizierte Sozialhilfebezüger, die nicht arbeiten wollen oder können, nicht in „eine Beschäftigung prügeln“, wie er sagt, sondern sie quasi blanko unterstützen. Ist diese Haltung, die Sie ja auch vertreten, mehrheitsfähig?
Martin Klöti: Jemanden mit Sozialhilfe ausstatten oder ihn in die Arbeit zu prügeln – da liegt ein weiter Weg dazwischen. Die Lösung muss in der Mitte liegen. Es braucht eine sehr enge Betreuung. Dafür haben wir gut ausgebildete, jüngere Leute, studierte Sozialpädagogen. Sie müssen herausfinden, was für einen Betroffenen in diesem Lebensabschnitt das Richtige ist. Die Situation kann sich verändern, dann kann man zurückfahren oder noch weiterentwickeln. Das ist individuell verschieden.
faktuell.ch: Also nicht schwarz/weiss respektive bonus/malus?
Martin Klöti: Nein, so einfach geht es nicht.
faktuell.ch: Das neue Rezept, Flüchtlinge möglichst rasch in Arbeit zu bringen, heisst „Coaching“. Selbst die privaten Betreuungsfirmen von Asylzentrum wechseln das Personal aus – vom Wärter zum Coach, um am Geschäft teilzuhaben. Ohne Garantie, dass die Leute auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind und ohne Rücksicht auf die Steuerzahler. Wer sagt mal stopp und legt fest, was volkswirtschaftlich etwas bringt?
Martin Klöti: Wenn ich das Beispiel Kanton St.Gallen nehmen darf: Sprachförderung. Die Sprachförderung ist ein grosser Markt. Der Kanton fokussiert sich auf die Förderung professioneller Deutschkurse und arbeitet mit akkreditierten Deutschschulen zusammen. Die Gemeinden stellen mit den Quartierschulen ein niederschwelliges Deutschlernangebot vor Ort bereit. Deutsch zu beherrschen stellt einen Schlüssel für die soziale Integration aber auch die Integration in den Arbeitsmarkt dar. Deshalb ist es notwendig, dass auch professionelle Kurse mit einem verlässlichen Nachweis der Sprachkompetenzen besucht werden können. In den Quartierschulen wird den Flüchtlingen hingegen nicht nur Sprachkompetenz vermittelt, sondern sie lernen das Leben in der Schweiz kennen. Und die Leute. Die Sprache ist dort kein Unterrichtsfach, sondern sie wird angewendet. In den Quartierschulen gibt es nicht nur Sprachlehrer, sondern auch Pensionierte. Sie kommen mit einem so genannten Sprachkoffer in den Unterricht. Dieser enthält viel Unterrichtsmaterial für den Alltag, die Praxis. Sie verbringen mit den Flüchtlingen in spielerischer Form einfach die Zeit. Nicht eine Lektion, sondern einen halben Tag. Sie arbeiten und essen zusammen und das ist unterhaltsam. Die Flüchtlinge lernen dabei vielleicht jemanden aus einem Unternehmen kennen oder sie werden Mitglied in einem Verein, wo sie wieder Leute kennenlernen. Wir versuchen, sie so ins gesellschaftliche Netzwerk einer Gemeinde zu integrieren.
faktuell.ch: Und der Kostenpunkt?
Martin Klöti: Da laufen wir nicht Gefahr, zu viel auszugeben. Fremdsprachige Personen mit niedrigem Einkommen haben die Möglichkeit, bis zu einem gewissen Mass vergünstigte Deutschkurse zu besuchen. In den Quartierschulen arbeiten die Leute zum Teil auf freiwilliger Basis. Mit geringen Mitteln. Kursleitende, welche in vom Kanton akkreditierten Deutschschulen unterrichten, erhalten einen anständigen Lohn, damit auch wirklich gute Leute eingestellt werden können. Eskalierende Stundenansätze lassen wir nicht zu. Natürlich gibt es immer Leute, die das System ausnutzen wollen.
faktuell.ch: Und da schaut man wirklich genau hin?
Martin Klöti: Sehr genau! Die Integrationspauschale an die Gemeinden muss über den Kanton ausgerichtet werden. Die Gemeinden müssen belegen, was sie damit tun. Es würde mich sehr überraschen, wenn es im Bereich der Integrationsmodelle Profiteure gäbe.
faktuell.ch: An den Flüchtlingskosten scheiden sich die Geister – auch hier zeigen Leserbriefe und Social Media-Kommentare, was provoziert. Warum stemmen sich eigentlich jene, die es wissen müssten, so gegen diese Transparenz?
Martin Klöti: Die SKOS hat die Kosten für Sozialhilfe berechnet. Das ist Teil der Integrationsagenda. Diese ist noch nicht publiziert. Klar ist, dass die Sozialhilfe pro Person Fr.15‘000.- bis Fr. 18‘000 pro Jahr kostet. Mindestens. Um jemanden in den Arbeitsprozess zu bringen, braucht es mehr. Davon hat man aber einen Nutzen. Das Geld kommt zurück. Sonst müsste man ad infinitum weiterzahlen. Vor dieser Vollkostenrechnung müsste man dann wirklich Angst bekommen.
faktuell.ch: Wo immer Steuergeld im sozialen Bereich dabei ist, bei den bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie bei den Flüchtlingskosten, wird ständig an der Methodologie der statistischen Erhebungen geschraubt. Das nährt natürlich den Verdacht, dass man sich vor Vollkostenrechnungen fürchtet.
Martin Klöti: Was uns betrifft: Wir wollen es wirklich wissen. Für unsere ganze politische Argumentation ist das die Basis.
faktuell.ch: Weshalb haben Sie die Berechnung noch nicht?
Martin Klöti: Solche Arbeiten sind natürlich auch teuer. Bis die Kosten in jedem Kanton erhoben sind und vergleichbare Zahlen aufweisen, braucht es offensichtlich noch mehr Zeit. Die SKOS ist daran, die Rechnung aufzustellen, aber die kochen auch nur mit Wasser.
faktuell.ch: Sie haben das SODK-Präsidium im August 2017 übernommen und damit den Auftrag, Kinder früh zu fördern zwecks Chancengleichheit und Armutsbekämpfung. Die SODK hat die frühe Förderung zusammen mit der Erziehungs- und Gesundheitsdirektorenkonferenz für die Jahre 2018/19 zum Schwerpunktthema erhoben. Wie steht es mit den konkreten Massnahmen für diese präventive Sozialpolitik?
Martin Klöti: Frühe Förderung muss überall dort erfolgen, wo die Kinder sind – in der Familie oder in der KITA oder in spezifischen Angeboten. Deshalb ist es auch ein politisches Querschnittthema. Im Kanton St.Gallen gibt es seit 2015 eine Strategie "Frühe Förderung". Aktivitäten und der Aufbau von Angebote wie Familienzentren oder Spiel- und Elterngruppen werden gefördert und koordiniert. Wir wollen damit auch für Chancengleichheit beim Einstieg in die Schule sorgen. Ich habe selber zehn Jahre lang unterrichtet, als man noch nicht einen so hohen Anteil von Kindern in der Schule hatte, die kein Deutsch konnten. Es ist eine extreme Hypothek. Wir wollen vor der Schule etwas aufbauen, das nicht reiner Unterricht ist, sondern einfach eine gesunde Entwicklung und ein gutes Zusammenleben ermöglichen. Die Kinder werden deutlich vor dem Kindergarten gefördert.
faktuell.ch: Zeigt sich bereits, ob‘s bringt, was man sich davon verspricht?
Martin Klöti: In den Familienzentren, in denen wir frühe Förderung anbieten, sind in der Regel die Eltern dabei. Sie liefern die Kinder nicht ab wie in einer KITA, sondern sie nehmen teil. Dabei kommen sie auch untereinander in Kontakt. Da passiert ein horizontaler Austausch von Erfahrungen. In diesen Zentren kommen wir auch an Eltern heran, die man sonst gar nicht antrifft. Frauen dürfen nicht zum Haus hinaus, aber mit den Kindern geht das. So können wir sie motivieren, auch die Sprache zu lernen. Spielerisch. Über das Instrument frühe Förderung können wir viele – nicht nur intellektuelle, sondern auch soziale – Fähigkeiten fördern. Wir können Gesundheitsfragen angehen, wir können unsere Kultur erklären und sie uns ihre. Damit haben wir Kinder, die in der Schule nicht von Anfang an benachteiligt sind. Sie müssen wissen, dass man am Morgen rechtzeitig aufsteht und richtig angezogen ist, vielleicht ein Znüni mitbringt, ganz elementare Sachen. Wir wollen vermitteln, was es bei uns heisst, am Morgen pünktlich zum Haus hinaus zu gehen und dann einen Tag in der Schule zu verbringen.
faktuell.ch: Wie sehen die ersten Erfolge aus?
Martin Klöti: Ganz einfach. Kinder, die Punkt 8 in die Schule kommen sind klar besser unterwegs - sprachlich und kulturell. Frühe Förderung ist eine etablierte Strategie
mit vielen Beteiligten und sie wird sich auf andere Kantone ausbreiten. Wir im Kanton St. Gallen setzen dafür ein paar 100‘000 Franken ein. Die Wirkung ist längerfristig. Die kantonalen
Massnahmen sind für die Jahre 2015 bis 2020 geplant. Dann kann auch festgestellt werden, was gut läuft.
faktuell.ch: Nach welchen Kriterien werden die Kinder ausgelesen für die frühe Förderung?
Martin Klöti: Das läuft sehr niederschwellig. Es ist ja ein ganzes Bündel von Massnahmen. Da muss man sich bei jeder Massnahme überlegen, wie die Eltern und Kinder angesprochen werden können. So läuft das. Darin, glaube ich, besteht der grosse Erfolg.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann