faktuell.ch im Gespräch mit Regierungsrat Hans-Jürg Käser, Polizei- und Militärdirektor des Kantons Bern, Co-Leiter der Arbeitsgruppe Bund/Kantone für die Gesamtplanung „Neustrukturierung des Asylbereichs“
Hans-Jürg Käser
faktuell.ch: Herr Käser, die durchschnittlichen Kosten für die Integrationsförderung sind deutliche höher als die einmalige Pauschale von 6000 Franken pro Person. Die Rede ist von 20 000 bis fast 25 000 Franken im Durchschnitt…
Hans-Jürg Käser: ... mit der Pauschale müssen Sprachkurse und berufliche Qualifizierung über mehrere Jahre hinweg finanziert werden.
faktuell.ch: Einzelne Kantone verlangen, dass die finanziellen Abgeltungen des Bundes rückwirkend erhöht werden müssen. Muss die Bundeskasse nachzahlen?
Hans-Jürg Käser: Nein, vorläufig nicht. Alle Kantone haben dasselbe Problem. Deshalb finden derzeit intensive Gespräche zwischen Bund und Kantonen statt, die hoffentlich zu einer Erhöhung der Integrationspauschale führen. Aber selbst wenn die Pauschale erhöht wird, dürften bis zur Umsetzung mehrere Jahre vergehen.
faktuell.ch: Wie sieht es bei den unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) aus – in einer im Auftrag der Kantone geführten Studie ist von ungedeckten Kosten von 60 bis 73 Millionen Franken die Rede?
Hans-Jürg Käser: Dasselbe Problem. Der Bund zahlt die gleiche Pauschale wie für die Erwachsenen, also 50 Franken pro Tag. Sie reicht bei Weitem nicht aus, weil hier rechtliche Auflagen für den Kinderschutz und die Betreuung („case management“) in spezialisierten Unterkünften hinzukommen.
faktuell.ch: Flüchtlinge und um Asyl ersuchende Migranten verursachen in europäischen Ländern unerwünschte bis untragbare Kosten, worauf die Bevölkerung überall mit Unmut reagiert – wie unlängst im Kanton Bern mit der Ablehnung eines 105-Millionen-Kredits. Haben die Stimmbürger womöglich die Lage verkannt?
Hans-Jürg Käser: Die Realität sieht so aus: Über 90 Prozent der UMA bleiben die nächsten 70 Jahre in der Schweiz! Und genau bei denen haben wir das höchste Interesse, dass sie von Anfang an checken wie das hier geht. Wenn wir das nicht schaffen, sind die volkswirtschaftlichen Kosten und die Sozialkosten in der Zukunft viel grösser als die Kosten jetzt wären, wenn wir uns keine Mühe gäben. Dem Parlament konnten wir das noch klarmachen, aber die Bevölkerung hielt sich über die 105 Millionen auf: «Was? Die spinnen ja wohl.»
faktuell.ch: Der Auftrag aus dem Abstimmungsausgang ist klar: Sparen! Trotzdem mussten Sie jetzt sogar noch einen Zusatzkredit von 12,7 Millionen Franken beantragen…
Hans-Jürg Käser: … wir können nach einer Volksabstimmung allen unseren Partnern nicht einfach sagen: fertig, wir ziehen die Reissleine, Sie können ihre Mitarbeiter entlassen und die Asylsuchenden an einen Baum binden bis 2019. Wir haben Verträge einzuhalten. Wir sind ein Rechtsstaat. Deshalb habe ich gesagt, im 2017 fahren wir weiter wie bisher; wir schauen mit unseren Partnern, wie wir optimieren könnten und dann bringen wir im November den Kredit für die Zukunft. Denn es wird etwas kosten! Zu meinen, das koste nichts, nur weil der Kredit abgelehnt wurde, ist eine Illusion. Aber ich habe einen breiten Rücken. Ich stelle mich da schon hin.
faktuell.ch: Wie sieht die Vollkostenrechnung im Asylbereich für Ihre Direktion aus?
Hans-Jürg Käser: Mein Amt für Migration und Personenstand (MIP) führt in seiner Kostenrechnung das Produkt «Asylgesetz». Dabei werden sämtliche Kosten, die im Amt für Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und rechtskräftig weggewiesene Asylsuchende anfallen, den Erlösen aus pauschalen Zahlungen des Bundes gegenübergestellt. Aber klar, das ist keine Vollkostenrechnung. Dem MIP werden zum Beispiel keine Büroraumkosten oder andere zentrale Dienstleistungen des Kantons belastet. Der Kostendeckungsgrad, wie wir ihn erheben, betrug 2014 – 2016 gut 80 Prozent. Dieser sinkt allerdings, wenn uns mehr UMA zugewiesen werden. Da reichen die Bundespauschalen für die Unterbringung der UMA im Rahmen des Konzepts «Spezialisierung», also Kinder getrennt von Erwachsenen, eben nicht aus...
faktuell.ch: … und wie steht es um die Vollkostenrechnung für die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF), deren Sozialämter den Integrationsauftrag ausführen müssen?
Hans-Jürg Käser: Eine echte Vollkostenrechnung müsste auch die Aufwendungen der Regelstrukturen berücksichtigen – alle Angebote im Bereich der Schule und der Berufsbildung. Aus der Optik des Bundes sind jedoch mit der Integrationspauschale bloss die Aufwendungen für die spezifische Integrationsförderung zu decken – also eben Angebote, die spezifisch für die Zielgruppe der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen bereitgestellt werden. In der Realität ist es so, dass sich die Angebote nach den finanziellen Möglichkeiten richten, was zu Wartelisten führt. Und weil die Abgeltung des Bundes von Jahr zu Jahr recht stark schwankt, ist auch der Kostendeckungsgrad variabel. In der Regel können die Sozialämter aber rund 60 bis 70 Prozent der Kosten aus der Integrationspauschale decken.
faktuell.ch: Die Neustrukturierung des Asylwesens in Kanton Bern ist organisiert, von Regierungsrat und Grossrat abgesegnet. Was heisst das konkret?
Hans-Jürg Käser: Ab 2019, wenn der Bund das neue System schweizweit anwendet, läuft bei uns die Integration vollumfänglich bei der GEF und nur die Rückführung bleibt bei der Polizei-und Militärdirektion (POM). Ich bin zuversichtlich, aber das läuft erst ab 2019. Bis dann gilt das bisherige System.
faktuell.ch: Bei der Neustrukturierung des Asylbereichs, an der Sie massgeblich mitgearbeitet haben (Bericht Februar 2014, die Red.) halten Sie Einsparungen für möglich, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, wie zum Beispiel das Einhalten der verkürzen Verfahrensfristen…
Hans-Jürg Käser: … das war die Hauptzielsetzung bei der Revision des Asylgesetzes...
faktuell.ch: … wie lässt sich diese Änderung im Praxistest an?
Hans-Jürg Käser: Bei unserem Testbetrieb in Zürich versuchen wir die Verfahrensfrist von 100 bis 120 Tagen einzuhalten. Und das geht. Wir sind dem Beispiel von Holland gefolgt. Ich war schon nach meinem Besuch dort überzeugt, dass wir auch bei uns eine deutliche Verkürzung der Verfahren erreichen würden. Aus Kostengründen, aber auch zu Gunsten der Asylsuchenden. Ich habe mich in Holland mit Asylsuchenden unterhalten. Die waren alle froh, nach kurzer Zeit zu wissen, ob sie bleiben konnten oder nicht. Und bei uns geht es manchmal drei oder vier Jahre bis zum Entscheid. Da wird es immer schwieriger, jemandem, der sich auf das Leben hier eingestellt hat, zu sagen, er müsse gehen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die Verkürzung gestützt auf die Erfahrungen des Testbetriebs schaffen werden.
faktuell.ch: Unter der Neustrukturierung des Asylbereichs ist auch vorgesehen, die Zahl unbegründeter Asylgesuche durch straffere Verfahren möglichst zu senken.
Hans-Jürg Käser: Das SEM hat sich dafür sehr stark engagiert. Es gibt in der Schweiz keine Asylgesuche aus dem Balkan mehr. Die Balkanländer sind sichere Länder. Die Schweiz kann nicht als eines der ersten Länder den Kosovo anerkennen und dann Asylsuchende aus dem Kosovo aufnehmen. So etwas geht einfach nicht. Balkangesuche haben wir also keine – im Gegensatz zu Deutschland, das viele hat. Für offensichtlich unbegründete Gesuche haben wir zudem die 48-Stunden-Regel. Diese Gesuche sind innerhalb von 48 Stunden negativ entschieden und fertig. Man muss unsere Massnahmen auch im internationalen Kontext ansehen: Wenn ich mit Bundesrätin Sommaruga an Sitzungen der Justiz- und Innenminister des Schengen-Dublin Raumes teilnehme, dann wird die Schweiz positiv gewürdigt und man hat den Eindruck, wir machen das gut. Viele Länder sind der Meinung, sie sollten sich so aufstellen wie wir. In der Schweiz hingegen wirft man uns Chaos vor – besonders die SVP. So ist es nun wirklich nicht.
faktuell.ch: Auch die Anreize zum Einreichen unbegründeter Asylgesuche sollten gesenkt werden. Worin bestehen diese Anreize?
Hans-Jürg Käser: Wenn in einem Land die Diaspora einer Ethnie vorhanden ist, dann haben Menschen dieser Ethnie das Gefühl, sie hätten dort schon ein Umfeld, aus dem sich jemand um sie kümmern werde. Deshalb haben die Eritreer, mit denen wir nach meinem Dafürhalten viel zu grosszügig umgehen, gemerkt, dass man in der Schweiz als Eritreer offenbar nicht zurückgewiesen wird. Das hat natürlich einen «Pull-Effekt». Der andere «Pull-Effekt» war die Möglichkeit, ein unbegründetes Gesuch stellen und dann einfach bleiben zu können. Dem hat man mit der 48-Stunden-Regel und Balkanregel den Riegel geschoben. In diesen beiden Bereichen ist die Schweiz relativ gut aufgestellt.
faktuell.ch: Gehen wir mit den Eritreern tatsächlich zu grosszügig um?
Hans-Jürg Käser: Eritrea ist kein freiheitlicher Rechtsstaat und wird von vielen europäischen Regierungen als Unrechtsregime betrachtet. Aber wenn die Schweiz nur diplomatische Beziehungen hätte zu Ländern, die Rechtsstaaten sind, dann könnte man die Hälfte der Botschaften zumachen. Das ist doch Unsinn. Und was den oft zitierten Zwang zum Nationaldienst anbelangt, so finde ich es nicht so ganz abwegig, wenn ein Land zur Aufbauarbeit seine jungen Leute beansprucht… Ich meine, wir hätten jedes Interesse daran, mit Eritrea diplomatische Kontakte aufzubauen, damit wir darüber verhandeln könnten, wie die Leute wieder zurückzuschicken wären. Wenn man mit niemandem verhandeln kann, kann man auch niemanden zurückschicken.
faktuell.ch: UMA sind Kinder und Jugendliche, jedenfalls nicht mündig. Wie kommen sie dazu, um Asyl zu ersuchen?
Hans-Jürg Käser: Das ist eine gute Frage. Es gibt in ihren Herkunftsländern Familien, die nicht an Leib und Leben bedroht sind, aber schlicht und einfach keine Perspektive haben. Familien sind immer Grossfamilien. Sie überlegen sich als Familienclan, in welchem Land Europas sich schon Landsleute niedergelassen haben und rechnen sich dort die grösste Chance aus, aufgenommen zu werden. Dann wird ein junger Erwachsener oder eben auch ein Kind herausgepickt und geschickt.
faktuell.ch: Dann haben sie bei uns Verwandte, die für sie sorgen können?
Hans-Jürg Käser: Nein, sie haben in der Schweiz nicht zwingend nahe Verwandte, aber sie kennen vielleicht frühere Bewohner ihres Dorfes. Die hat es in der Diaspora. Wir sind nach der Ablehnung des UMA-Kredits daran, die Möglichkeiten verwandtschaftlicher Bindungen zu prüfen. Aber es ist sehr schwierig, Familienangehörige oder Bekannte ausfindig zu machen…
faktuell.ch: …sie könnten es auch abstreiten.
Hans-Jürg Käser: Genau. Wenn beim Empfang im Bundeszentrum der Name aufgenommen wird, ist es offenbar schwierig den Namen so zu schreiben, wie der Asylsuchende ihn ausspricht. Und dann besteht der Name aus drei Teilen. Was ist nun der Familienname, was der Vorname? Viele haben mehrere Namen und verwenden sie nach Belieben. Es gibt kaum eine Möglichkeit für die Schweiz, irgendwo verlässlich festzustellen, wie der Name genau lautet. Oder das Geburtsdatum. Tag und Monat sind bei sehr vielen der «1. Januar», weil sie es möglicherweise selber nicht genau wissen. Vielleicht gilt in ihrem Dorf gar nicht die christliche Zeitrechnung. Kurz: Es ist unheimlich schwierig.
faktuell.ch: 58 Prozent der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen (FL/VA) sind unter 25. Bund und Kantone wollen, dass alle FL/VA mit über 25 über einen Sekundarabschluss II verfügen und damit auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Wie realistisch ist das?
Hans-Jürg Käser: Integration braucht einen langen Atem, schnelle Erfolge sind unrealistisch. Das Problem beginnt schon damit, dass zum Beispiel die Eritreer die lateinische Schrift nicht kennen. Ich war mehrmals in Chiasso. Da kommen Asylsuchende mit dem Zug – nicht in der Nacht über die «Grüne Grenze» – nein, mit dem Zug von Mailand. In Chiasso müssen sie aussteigen und ein Formular ausfüllen. Unsere Formulare sind deutsch, französisch, italienisch, englisch und von Hand sind die Fragen noch auf tigrinisch beigefügt…
faktuell.ch: … die eritreische Sprache…
Hans-Jürg Käser: … und ich habe eine junge Eritreerin beobachtet, die die Fragen auf tigrinisch beantwortete. Den Namen musste sie aber mit lateinischen Buchstaben schreiben. Das dauerte Minuten! Und jetzt zu meinen, diese Menschen lernten hier in einem halben Jahr Deutsch oder Französisch und seien dann fit für den Arbeitsmarkt, das ist einfach eine Illusion. Das braucht Zeit. Viele unter ihnen sind Analphabeten oder haben nur zwei, drei Jahre eine Schule besucht. Dass sie dazu auch unsere Schriftzeichen nicht kennen, ist eine echte Herausforderung.
faktuell.ch: Frauen, die Asyl suchen und sich in einem Verfahren mit unsicherem Ausgang befinden, sind auffällig oft schwanger. Erhoffen sie sich davon verbesserte Chancen auf ein Bleiberecht?
Hans-Jürg Käser: Sie werden nicht besser behandelt als andere Gesuchsteller. Wir weisen auch Frauen mit Kindern und Familien aus, wenn der Bund zur Überzeugung gelangt, das Asylgesuch sei unberechtigt. Dann haben wir allerdings das Problem mit dem Kirchenasyl. Da wird argumentiert, wir könnten diese armen Frauen doch nicht zurückschicken. Aber wir können einfach nicht alle Armen aus der dritten Welt bei uns aufnehmen. Punkt.
faktuell.ch: Darf ethisch angedacht werden, ob Leute, die sich selber nicht finanzieren können oder in einem Asylverfahren stecken, mit dem Kinderkriegen zuwarten sollten, bis sich ihre Verhältnisse gebessert haben?
Hans-Jürg Käser: Wir sind eben nicht China. Dort galt eine Weile die Ein-Kind-Politik. Bei uns kann man das nicht durchsetzen. Menschen aus vielen Kulturen, die jetzt in der Schweiz sind, wollen sich möglichst stark vermehren. In ihrem Herkunftsland sind Kinder die Lebensversicherung für das Alter. Vor diesem Hintergrund ist die «Produktion» verständlich, jedenfalls nachvollziehbar. Wenn ich Truppenbesuche bei der Armee mache, stelle ich fest, dass ein hoher Anteil der jungen Soldaten Migrationshintergrund hat. Das ist die Realität. Dasselbe Bild in den Schulen. Heute lautet unsere grösste Herausforderung: Schaffen wir es, den Neuzuzügern unsere Werte so zu vermitteln, dass sie mitzutragen bereit sind, was die Schweiz ausmacht.
faktuell.ch: Als Polizeidirektor sind Sie die erste Beschwerdeinstanz im Asyl- und im Ausländerrecht. Wie schwierig ist es, sogenannte Ausschaffungen durchzuführen?
Hans-Jürg Käser: Praktisch von jedem, der einen negativen Entscheid erhält, kommt heute eine Beschwerde. Es gibt Anwälte, die darauf spezialisiert sind und für ihr Mandat Rechnung beim Kanton Bern stellen. Die Beschwerdeführer haben selbst keine Mittel. Den Entscheid, ob eine Asylsuchender ein Bleiberecht erhält oder gehen muss, trifft der Bund. Die Kantone haben keine Möglichkeit etwas entscheiden zu können. Wir sind diejenigen, die im Vollzug für die Umsetzung zu sorgen haben. Wir müssen die Leute mit Bleiberecht integrieren und Abgewiesenen rausbringen. Einen grossen Teil der Leute, die negativen Entscheid erhalten, kann man dazu bewegen, wieder zu gehen.
faktuell.ch: Wie viele tauchen ab?
Hans-Jürg Käser: Es ist kein Verbrechen, ein Asylgesuch zu stellen. Folglich kann man Gesuchsteller auch nicht einsperren. Wenn einer im Verlauf des Verfahrens findet, er wolle nicht bleiben und abtaucht, dann ist das eine «unkontrollierte Abreise». Wenn jemand in die Schweiz kommt und ein Asylgesuch stellt – es reicht, wenn er sagt «Asyl» - dann kommt er in ein Empfangszentrum des Bundes, wo Personalien und Fingerabdrücke genommen werden. Dann wird er einem Kanton zugewiesen, der für ihn sorgt, bis sein Verfahren abgeschlossen ist...
faktuell.ch: … was Jahre dauert.
Hans-Jürg Käser: Es ist sicher in unserem Interesse, wenn die Verfahren unter dem neuen System nur noch 100 bis 120 Tage dauern. Denn einen Asylsuchenden in einem Durchgangszentrum, einer Zivilschutzanlage drei Jahre auf den Entscheid warten zu lassen, ist einfach zu lange. Im Kanton Bern werden die Durchgangszentren von Partnern wie Heilsarmee, Flüchtlingshilfe etc. geführt. Die haben alle den Auftrag, die Asylsuchenden – sie arbeiten nicht und müssen einfach warten – zu betreuen.
faktuell.ch: Irgendwann kommt dann der Asylentscheide. Ausweis B berechtigt, sich selber eine Wohnung zu suchen.
Hans-Jürg Käser: Ja. Sie verlassen das Durchgangszentrum und sind danach in der Obhut der GEF, die mit ihren Partnern für die Integration zu sorgen hat. Persönlich bin ich der Meinung, dass die GEF den Leuten Wohnungen zuweisen sollte. Wenn ein Somalier, Eritreer oder Afghane in die Schweiz kommt und niemanden kennt, kann man ihn doch nicht selber eine Wohnung suchen lassen. Aber gegen eine solche Einschränkung spricht die Niederlassungsfreiheit.
faktuell.ch: Die selbständige Wohnungssuche führt zu ungleichen Belastungen, richtig?
Hans-Jürg Käser: Es gibt in der Tat Gemeinden und Städte, die stärker belastet werden. Gerade die Stadt Biel hat wegen des französischen Kultur- und Sprachanteils viele Asylanten, die aus ehemaligen belgischen und französischen Kolonialländern kommen und französisch sprechen. Die gehen natürlich lieber nach Biel, als nach Langenthal. Das ist logisch. Biel hat dann allerdings das Problem einer hohen Sozialhilfequote (die höchste aller Schweizer Städte, die Red.). Bilinguismus hat Vorteile, aber auch – wie in diesem Fall – seinen Preis.
faktuell.ch: Wie problematisch sind die unterschiedlichen Glaubensrichtungen?
Hans-Jürg Käser: Der Bund weist uns die Asylsuchenden zu und sagt meinen Leuten, welcher Glaubensrichtung sie angehören. Unter den Eritreern hat es zum Beispiel auch Christen. Es kann vorkommen, dass gewisse Ethnien wegen Kollisionsgefahr getrennt untergebracht werden. Nicht primär wegen des Glauben, sondern wegen der unterschiedlichen Kultur.
faktuell.ch: Laut SEM sind von Januar bis Juni 2017 genau 9123 Asylgesuche eingereicht worden. Das ist der tiefste Wert für das erste Halbjahr seit 2010. Sie sind in Ihrem Bericht zur Neustrukturierung des Asylwesens zu Beginn 2014 noch von über 24'000 Asylgesuchen ausgegangen. Wie wirken sich die Schwankungen bei den Asylgesuchen auf Infrastruktur und Personal aus?
Hans-Jürg Käser: Das Interessante ist ja, dass der absolute «Peak», der Höhepunkt, im Herbst 2015 erreicht wurde. Zu diesem Zeitpunkt setzte ich bei Bundesrätin Sommaruga durch, dass endlich auf Bundesebene ein Notfallkonzept beschlossen werden müsse, damit wir gewappnet wären, wenn an einem Wochenende wie am Bahnhof München 40'000 stehen. Das wurde dann gemacht. Da sind wir jetzt gut aufgestellt. Das ist der eine Punkt. Der andere: Im letzten Jahr gab es in Italien 181'000 «Anlandungen», das heisst, lebende Asylsuchende, die das Festland von Italien betraten. Wo sind die jetzt? Diese Frage habe ich einem italienischen Polizeioffizier gestellt. Antwort: «non so.» Gleichzeitig stellen wir fest, der Druck auf unsere Südgrenze ist deutlich gesunken. Die Asylsuchenden kommen offenbar nicht primär in die Schweiz, weil sie wissen: Die Schweiz ist konsequent. Wir sind das Land, das sich am konsequentesten an das Dublin-Verfahren hält und es umsetzt. Die Italiener sind mittlerweile soweit, dass sie alle Ankömmlinge registrieren, 2015 wurde nur jeder Dritte erfasst. Deshalb ist es jetzt eine Katastrophe, dass die EU es nicht fertigbringt, den Italienern unter die Arme zu greifen. Die heutige Lage ist nun wirklich nicht ihre schuld.
faktuell.ch: Was läuft denn an den Verhandlungen in Brüssel falsch?
Hans-Jürg Käser: Zwei anekdotische Beispiele wie man sich «Brüssel» vorstellen muss: Da sind in der ersten Reihe die Innenminister der 28 Mitgliedstaaten vertreten, für jedes Land zusätzlich ein enger Mitarbeiter, meistens ein Botschafter, in der zweiten Reihe sitzen die «Knechte». Die Minister unterhalten sich. Ziel einer Sitzung 2015 zum Thema Asyl war es beispielsweise, eine Vereinbarung über die Verteilung der Asylsuchenden auf alle Länder zu treffen. Den Ratsvorsitz hatte Luxemburg. Luxemburg hat etwa 600'000 Einwohner und ist kleiner als der Kanton Bern, aber halt ein EU-Land. Der Vorsitzende befand, noch drei Redner zuzulassen, dann die Vereinbarung auszuformulieren und nach einer anschliessenden Pause zu beschliessen. Ich sagte zu Mario Gattiker, dem Direktor des Staatssekretariats für Migration: «So ein Träumer.» Gattiker lachte...
faktuell.ch: … und Sie bekamen recht?
Hans-Jürg Käser: Der erste Referent, der slowakische Innenminister Robert Kalinak, ein 35-Jähriger vom Typ Frauenschwarm, sagte, die Slowakei habe keinen einzigen Asylsuchenden und keine Veranlassung, sich zu etwas zu verpflichten. Kommt nicht in Frage! Dann gab’s eine Pause. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, dessen Wort gewöhnlich viel zählt in dieser Runde, fühlte sich von diesem slowakischen ‘Schönling’ richtiggehend provoziert, stand auf und schrie beinahe: «Ich kann diesen arroganten Schnösel nicht ausstehen!»
faktuell.ch: Und die andere Anekdote?
Hans-Jürg Käser: Das war während der Pause. Ich hatte auf dem Handy eben eine «Push-up-Message» gesehen, betitelt: «Das österreichische Bundesheer an die Grenze!» Ich verliess den Sitzungsraum und sah die Urheberin der Nachricht in einem Raucher-Kabäuschen, es war die damalige österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Ich stellte mich der Ministerin vor und fragte sie, was das österreichische Bundesheer denn an der Grenze mache. Ihre Antwort: «Also jemand muss die Leute ja füttern.» Solches erlebt man in ‘Brüssel’. Die SVP meint in der Schweiz ja auch, die Armee müsse an die Grenze. Was tun denn die Soldaten, wenn die Asylsuchenden kommen? Sollen sie auf sie schiessen oder was? Nein, natürlich nicht, heisst es dann. Was soll denn dann der Nutzen der Armee an der Grenze sein? Ein Zeichen setzen, sagt die SVP. Das ist doch ‘Chabis’. Wir leben in einem Rechtsstaat.
faktuell.ch: Die UNO und die traditionelle Entwicklungshilfe kommen mit der Bekämpfung der Armut in der Welt nicht wirklich voran. Heute haben wir überalterte westliche Länder und Länder der Dritten Welt mit überproportionalem Anteil von unter 20-jährigen ohne Perspektive. Was läuft da schief?
Hans-Jürg Käser: Nach jedem Putsch sind die vorher Unterdrückten an der Macht. Und das bedeutet Reibungen. Da sind wir hilflos. Wir können nicht alle gescheiterten Volksgruppen oder Völker aus Afrika in Europa aufnehmen in der Meinung, das Problem sei dann gelöst. Es müsste gelingen in afrikanischen Ländern Strukturen aufzubauen, die es ihnen ermöglichen, mit ihren Rohstoffen selber erfolgreich zu sein. Aber da bin ich nicht sehr optimistisch.
faktuell.ch: Warum nicht?
Hans-Jürg Käser: Simbabwe war einst die Kornkammer Afrikas und jetzt hungern die Leute. Den Südsudan entlässt man in die Unabhängigkeit im Wissen darum, dass er als Staat scheitern wird. Unlängst hatte ich einen interessanten Kontakt zum Botschafter Guineas in Paris, der auch für die Schweiz zuständig ist oder war. Ein hochgebildeter Mann, Studium an der Sorbonne. Es ging darum, Rückführungen auszuhandeln. Wir schenkten Guinea viele PCs und andere Informatik, die bei uns durch modernere Geräte ersetzt worden waren. Er kam dann zu uns, weil er für seine Landsleute ein sogenanntes «Laisser-passer»-Papier unterschreiben musste, damit sie in Guinea wieder einreisen konnten. Wir gingen danach zusammen essen und ich fragte ihn, weshalb er Botschafter seines Landes in Paris geworden sei. «Wissen Sie, Herr Regierungsrat», antwortete er, «mein Präsident hat Angst vor mir.» Mit andern Worten: Man hatte ihn exiliert, in Paris abgestellt. Der Botschaft wurde der Geldhahn zugedreht, die Heizung abgestellt und praktisch alle Mitarbeiter verschwanden. So geht das.
faktuell.ch: Hmm…
Hans-Jürg Käser: … ich fragte ihn auch nach den grossen Bauxitvorkommen in Guinea. Er sagte, eine Eisenbahnlinie habe ca. 1000 Kilometer vom Meer bis an die Bauxitvorkommen geführt. Es sind die drittgrössten der Welt. Aber die Eisenbahn, die um 1950 von den Franzosen gebaut wurde, funktioniert nicht mehr und der Rohstoff kann nicht effizient exportiert werden.
faktuell.ch: Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem?
Hans-Jürg Käser: Viele Afrikaner ticken so, dass sie nur an heute denken. Genug zu essen, wunderbar, machen wir uns einen schönen Tag. Morgen sehen wir weiter. Wer nie vorausplant, legt aber auch kein Geld zur Seite. Mit dieser Mentalität ist eine Entwicklung unmöglich.
Gesprächsführung für
faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
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