faktuell.ch im Gespräch mit Regierungsrat Pierre Alain Schnegg, Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern seit Juli 2016, SVP Berner Jura.
Pierre Alain Schnegg
faktuell.ch: Herr Schnegg, Sie waren Unternehmer und gelten als politischer Quereinsteiger. Mit welcher Strategie managen Sie die Gesundheits- und Fürsorgedirektion?
Pierre Alain Schnegg: Nach meinem Amtsantritt haben wir als erstes ein Leitbild entwickelt mit Vision, Mission und Werten und Zielen. Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen die Mitarbeitenden auch in Richtung der Ziele motiviert sein. Kundenorientierung steht für mich im Zentrum. Wir stehen im Dienst unserer Bevölkerung und arbeiten nicht für uns. Aber wir müssen auch die ganze Versorgung im Griff haben. In jedem Bereich unserer Direktion darf es weder Über- noch Unterversorgung geben. Wir geben viel Geld aus und meiner Meinung nach kontrollieren wir viel zu wenig, welches Resultat wir damit erzielen. Ich bin absolut bereit, mich für Integrationsprogramme zu engagieren, aber mich interessiert vor allem das Resultat. Haben wir sie nur durchgeführt, um ein gutes Gewissen zu haben oder haben sie wirklich etwas gebracht?
faktuell.ch: Aus Ihrer Sicht sind die Ziele des staatlichen Handelns zu wenig klar und messbar. Was soll wie gemessen werden?
Pierre Alain Schnegg: Wir brauchen am Anfang ganz einfache Messgrössen wenn wir eine Dienstleistung finanzieren. Man addiert die Anzahl Stunden, die wir zur Verfügung gestellt haben und dividiert die Gesamtkosten durch diese Anzahl Stunden. Wenn der Preis sehr hoch ist, stellt sich die Frage, ob es sich lohnt, die Dienstleistung zu finanzieren. Schwieriger zu messen ist der Erfolg von Integrationsprogrammen, die zum Ziel haben, dass die Person nach ein paar Jahren erwerbstätig ist. Im Gesundheitswesen müssen wir Qualität messen. Hat sich eine Operation gelohnt oder wurde sie nur gemacht, weil sich damit Umsatz generieren lässt. Das sind Fragen, die wir uns laufend stellen müssen wie jede Firma, die ihre Existenz nicht gefährden will.
faktuell.ch: Die GEF als Firma?
Pierre Alain Schnegg: Ich weiss, es gibt viele Leute, die kritisieren, dass ich diese Direktion wie eine Firma führe. Ich betrachte das allerdings eher als ein Lob. Denn eine Firma stellt sicher, dass es ihren Kunden, Lieferanten und Mitarbeitenden gut geht.
faktuell.ch: Sie sagen ja auch, dass Ihnen Kompetenz wichtig ist: fachlich, methodisch und menschlich. SKOS, Hilfswerke und Sozialarbeiter halten sich auch für kompetent. Definieren Sie Kompetenz anders?
Pierre Alain Schnegg: Nein, aber wir haben einen anderen Ansatz. Im Sozialwesen wird nur unter dem Aspekt geschult, dass die Leute ein Anrecht auf Sozialhilfe haben. Einverstanden. Wer Sozialhilfe bezieht, hat aber auch ein paar Verpflichtungen. Dazu gehört, die Selbständigkeit ganz oder zumindest teilweise wieder zu erreichen. Es ist mir bewusst, dass es Leute gibt, die das nicht schaffen. Für diese brauchen wir ein Auffangnetz. Aber Sozialhilfe darf nicht zu einem Lebensstil werden.
faktuell.ch: Seit 2002 spricht man in Sozialhilfe-Expertenkreisen vom sozialen Existenzminimum und nicht mehr vom absoluten. Wie definieren denn Sie das soziale Existenzminimum?
Pierre Alain Schnegg: Die Definition ist eine persönliche, auch geprägt durch den gesellschaftlichen Druck, den wir alle kennen. Man muss pro Jahr x Mal in die Ferien gehen, muss Markenkleider tragen, ein Auto, eine grössere Wohnung haben. Es gibt in diesem Land viele Leute, die keine staatliche Unterstützung haben, die sich vieles nicht leisten können, was gewisse Sozialhilfebezüger für das Minimum halten und es sich auch leisten. Ich glaube nicht, dass eine Kategorie viel glücklicher ist als die andere.
faktuell.ch: Der Kanton Bern schlägt in der Sozialhilfe eine härtere Gangart an und unterläuft damit einheitliche Richtlinien wie sie die SKOS ausgearbeitet hat. Was sagen Ihre Kollegen in der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren zu Ihrer Hardliner-Haltung?
Pierre Alain Schnegg: Gewisse Gremien sind mehr SP-gefärbt als bürgerlich. Allein meine Direktion wurde mehrere Jahrzehnte lang von SP-Leuten geführt. Aber in den Gremien verhalten wir uns politisch korrekt und respektieren uns gegenseitig. Was die SKOS-Richtlinien anbelangt: Viele meiner SP- Amtskollegen gehen in gewissen Fällen auch unter die SKOS-Richtlinien. Jeder Kanton hat eine andere Problematik und deshalb finde ich es auch wichtig, andere Haltungen zu respektieren. Aber wir müssen die Ausgaben im Griff haben. Ich setze auf eine zehnprozentige Kürzung beim Grundbedarf, damit Arbeit gegenüber dem Bezug von Sozialhilfe wieder attraktiver wird. Der Grundbedarf macht allerdings nur ein Drittel des Gesamtbetrags aus. Das heisst, dass ein Sozialhilfeempfänger, der sich nicht um Arbeit bemüht, nur drei Prozent weniger Bezüge erhält. Wenn er sich bemüht mit Ausbildung, Teilzeit-Job oder ein «working poor» ist, dann wird er mehr Sozialhilfe erhalten als heute. Das wird im Zusammenhang mit unserer Revisionsvorlage leider selten erwähnt.
faktuell.ch: Die Sozialhilfe sollte nur eine vorübergehende Nothilfe sein. Sie muss aber zunehmend Ausgesteuerte bis zum Übergang ins AHV-Alter unterstützen. Damit wird das Sozialhilfegeld für immer mehr Leute zur «Rente». Das sind Leute, die den Willen hätten, ihre Situation zu ändern, aber nicht mehr vermittelbar sind. Braucht es für sie eine andere Zuständigkeit als die Sozialhilfe?
Pierre Alain Schnegg: Diese Leute haben viele Kompetenzen und eine grosse Lebenserfahrung, was in einer alternden Gesellschaft sehr nützlich sein kann. Da lassen sich Modelle entwickeln. Man könnte für jede Leistung einen Betrag festsetzen, der nicht als Sozialhilfe, sondern unter einem anderen Titel ausgerichtet wird.
faktuell.ch: Zum Gesundheitswesen. Es hat in der Schweiz 2015 77,8 Milliarden Franken gekostet. Eine Verdoppelung innerhalb von 20 Jahren. Neueste Zahlen
der Konjunkturforschungsstelle ETH Zürich: Die Gesundheitskosten in der Schweiz werden 2018 erstmals über 10'000 Franken pro Person betragen – exakt 10'176 Franken. Ein Drittel der
Krankenkassen-Versicherten braucht staatliche Prämienverbilligung. Immer mehr Leute konsultieren den Arzt wegen jeder Bagatelle und die Ärzte empfehlen oft unnötige, aber einträgliche
Operationen.
Wohin führt diese Entwicklung und wo sehen Sie den Lösungsansatz?
Pierre Alain Schnegg: Wir dürfen nicht träumen. Die Kosten können wir nicht reduzieren, nur das Wachstum bremsen. Wir brauchen eine bessere Indikationskontrolle. Eingriffe nur dort, wo zwingend notwendig. Auch der Transfer von stationär auf ambulant kann die Kosten senken. Mit Tarifen müssen wir flexibler werden. Gewisse Leistungen sind billiger geworden, und wir sind noch mit Tarifen blockiert, die vor zehn Jahren angemessen waren.
faktuell.ch: Die korrekte Abrechnung der Dienstleistungen als Stolperstein?
Pierre Alain Schnegg: Ich nehme ein Beispiel. Ein Mann mit gesundheitlichen Problemen lebt im Heim. Wenn wir Pflege und Dienstleistung richtig fakturieren wollen, dann muss er in ein Spital überwiesen werden. Das verursacht Transportkosten, dann wird das teure DRG fakturiert und dann wird der Mann wieder ins Heim gebracht. Nochmals Transportkosten. Und dass Wichtigste: Die ganzen Veränderungen sind für den geschwächten Heimbewohner sehr negativ. Er muss sie über sich ergehen lassen, nur damit sich die Dienstleistung richtig verrechnen lässt. Anderes Beispiel: In einem Spital ist die Langzeitpflege auf den oberen Etagen, die Akutsomatik unten. Wenn ein Akut-Patient eine Dienstleistung der Langzeitpflege benötigt, wird er im Bett nach oben gerollt, sogar wenn er vom selben Arzt behandelt wird, nur damit richtig fakturiert werden kann.
faktuell.ch: Sie stehen für Wettbewerb wo immer möglich. Swiss DRG sollte Wettbewerb und damit Kosteneinsparungen bringen. Fünf Jahre nach der Einführung sind die durchschnittlichen stationären Spitalaufenthalte teurer denn je. Nach Ihrer Schilderung hat DRG auch die Abläufe komplizierter gemacht. Ein Reinfall?
Pierre Alain Schnegg: Ich würde nicht sagen, dass DRG nichts gebracht hat. Aber man müsste gewisse Leistungen flexibler gestalten und finanzieren können. Damit könnte man viel sparen.
faktuell.ch: In unserer Gesellschaft gibt es mittlerweile einen ganzen Fächer an Familienmodellen. Die Unterhaltspflichten sind bis hin zur Patchwork-Familie geregelt. Aber mit der Migration haben wir neuerdings auch den Clan und die Polygamie im Schweizer Alltag. Wie sieht eine vernünftige Regelung in der Sozialhilfe aus?
Pierre Alain Schnegg: Das ist ein schwieriges Problem und eine einfache Antwort gibt es nicht. Sicher ist, dass wir Grundwerte haben in unserem Land, an denen wir absolut festhalten müssen. Polygamie gibt es bei uns nicht und es kann nicht sein, dass wir in diese Richtung setzen.
faktuell.ch: Von Sozialdiensten kann ein Mann mit mehreren Frauen und Kindern dieser Frauen als Haushaltsverband betrachtet werden. Also ein Kunstgriff, um auszublenden, dass die Leute in einer bei uns verbotenen Konstellation leben. Um unser Wertesystem erhalten zu können, müssten unsere Sozialbehörden sagen, das gehe nicht…
Pierre Alain Schnegg: …für mich ist es klar, dass wir Polygamie nicht unterstützen dürfen. Aber den Menschen können wir die Unterstützung nicht verweigern. Sollen wir zwei der drei Frauen in ihr Land zurückschicken? Das müsste schon sehr gut begründet sein.
faktuell.ch: Wie lässt sich das Problem konkret lösen?
Pierre Alain Schnegg: Ja konkret…wir könnten diese Leute in ihrer Heimat unterstützen statt hier, wo sie keine Chance haben, sich korrekt zu integrieren. Nochmals: Es gibt Werte in unserer Gesellschaft, die wir nicht aufs Spiel setzen dürfen.
faktuell.ch: Da macht sich – nicht nur bei Ihnen, sondern auch auf Bundesebene – eine gewisse politische Hilflosigkeit bemerkbar…
Pierre Alain Schnegg: …ja, es gibt eine gewisse Hilflosigkeit. Aber es ist auch zu sagen, dass wir nicht konsequent sind bei unseren Entscheiden. Wir haben zwar Gesetze, finden dann aber, so genau könnten und wollten wir sie nicht umsetzen. Ein Asylant Asylbewerber muss rasch erwerbstätig werden. Wenn er es nicht wird, gibt man ihm lieber noch etwas, in der Hoffnung, er werde später arbeiten. Da müsste man konsequenter sein. Ich habe absolut nichts dagegen, dass jemand, der an Leib und Leben bedroht ist, in die Schweiz kommt. Den andern müssen wir in ihren Ländern zu helfen versuchen.
faktuell.ch:
Vorläufig Aufgenommene (VA), die länger als sieben Jahre in der Schweiz sind und anerkannte Flüchtlinge und Migranten, die
längerfristig in der Schweiz bleiben, nimmt Ihre Abteilung Integration unter die Fittiche.
Was wollen Sie mit der Integration erreichen und wie viel darf sie kosten. (gegenwärtig Fr. 6000.- pro Person)?
Pierre Alain Schnegg: 6000 Franken sind ja nur der Bundesbeitrag. Wir sollten in die Richtung arbeiten, dass dieser Betrag ausreicht. Die VA und Flüchtlinge müssen verstehen, dass sie in der Schweiz die Verantwortung für sich selbst übernehmen und sich integrieren müssen. Der Staat muss die Instrumente zur Verfügung stellen, aber die Verpflichtung und Verantwortung liegt nicht beim Staat, sondern bei der Person. Es gibt viele Leute in der Schweiz, die keine Flüchtlinge sind, die nicht an Leib und Leben bedroht sind. Das erkennt man leicht daran, dass sie in ihr Land in die Ferien gehen. Solche Leute gehören nicht in die Schweiz. Tut mir leid.
faktuell.ch: Egal, ob wirtschaftlicher oder politischer Flüchtling: Das weltweite «Flucht- bzw. Migrationspotenzial» wird auf 700 Millionen Personen geschätzt. 220 Millionen sind bereits unterwegs, die andern 500 Millionen würden sich auf den Weg machen, wenn sie könnten und wüssten wie. Braucht es vor diesem Hintergrund eine neue Asyl-Philosophie?
Pierre Alain Schnegg: Wenn wir hier weiter Leute aufnehmen wollen, deren Leben wirklich bedroht ist, dann gibt es keine andere Möglichkeit als über unsere Methoden nachzudenken.
faktuell.ch: Wie sollten die Aufnahme-Kriterien denn lauten?
Pierre Alain Schnegg: Wir müssen die Kriterien noch viel schärfer definieren. Wer nicht bedroht ist, gehört nicht in die Schweiz. Jedenfalls nicht mit staatlicher Unterstützung. Ich habe kein Problem mit Ausländern die in die Schweiz ziehen, einen Job haben und arbeiten. Nicht akzeptabel ist es, wenn Leute in die Schweiz kommen, um von staatlicher Unterstützung zu leben.
faktuell.ch: Das Kriterium «an Leib und Leben bedroht» ist schwer zu prüfen, weil die Einreisenden in der Regel ihre Ausweispapiere weggeworfen haben und wissen, welche Geschichten sie erzählen müssen, damit sie überhaupt in ein Asylverfahren kommen.
Pierre Alain Schnegg: Ich glaube, hier fehlt uns der Wille zur Kontrolle. Ich habe noch nicht viele Asylbewerber ohne Mobiltelefon getroffen. Mit dem Handy lässt sich leicht feststellen, aus welchem Land ein Asylbewerber kommt. Wenn er in seinem Herkunftsland nicht gefährdet ist, muss er zurück. Solange wir nicht konsequent sind, ist die Schweiz attraktiv. Ich würde gleich reagieren, wenn ich in der Situation dieser Leute wäre. In der Schweiz geht es einem gut, man erhält jeden Monat Geld, die Wohnung wird vermittelt und man kann sich ziemlich frei bewegen. So können wir nicht weiterfahren. Sonst werden wir in grosse Schwierigkeiten kommen.
faktuell.ch: Die zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben schulische und sprachliche Defizite. Geschieht nichts, ist der Weg in die Langzeitarbeitslosigkeit vorgezeichnet – zulasten der Sozialhilfe in den Gemeinden und Kantonen. Über den Daumen gepeilt kommen auf diese in den nächsten Jahren, wenn die grossen Kontingente (2014,2015) der anerkannten Flüchtlinge und Vorläufig Aufgenommenen aus der Bundesverwaltung abgegeben werden, jährlich zusätzliche Sozialhilfekosten von 600 bis 700 Millionen Franken zu. Was muss passieren, damit der politische Wille umschwenkt?
Pierre Alain Schnegg: Ja ich frage mich auch, was passieren muss und was unsere nationalen Politiker zu tun gedenken. Wenn wir jetzt nicht die richtigen Massnahmen treffen, wird die Kostenexplosion grosse gesellschaftliche Probleme generieren, die der Schweiz ganz direkt schaden.
faktuell.ch: Neu sind in Ihrer Direktion – um wieder auf den Kanton Bern zurückzukommen – die Asylunterkünfte angesiedelt. Welche allfälligen Massnahmen sehen Sie vor, die Sie in eigener Regie umsetzen können?
Pierre Alain Schnegg: Gemäss unserer Strategie werden wir mit regionalen Partnern arbeiten, die in engem Kontakt zum Regierungsstatthalter und den Gemeinden stehen. Diese Partner können Unterkünfte selber oder mit auf diesem Gebiet bewanderten Partnern betreiben und werden die Gesamtverantwortung tragen. Für mich ist wichtig, dass die Flüchtlinge – vor allem die VA – in eine Wohnung ziehen können, wenn sie erwerbstätig sind und eine gewisse Integrationsstufe erreicht haben. Vorher bleiben sie in Kollektivunterkünften. Der Kanton Graubünden hat mit diesem System sehr gute Erfahrungen gemacht und diese Lösung wollen wir im Kanton Bern übernehmen.
faktuell.ch: Wie viel an zusätzlichen Mitteln wünschen Sie vom Bund?
Pierre Alain Schnegg: Was wir vom Bund bekommen, deckt unsere Kosten nicht. Das Problem mit den Unterkünften ist, dass die Belegung stark schwankt. Ist sie schwach, dann kommen wir nicht auf die budgetierten Kosten, ist sie stark, dann brauchen wir Notlösungen und die kosten mehr. Wenn der Markt den Kanton in einer Notsituation weiss, dann steigen die Preise. Aber alle diese Kosten sind im Budget des Kantons und werden letztlich von den Steuerzahlern des Kantons Bern bezahlt.
faktuell.ch: Hinzu kommen die Kosten der «Sozialindustrie». Da wird beraten, betreut, gecoacht und diskutiert zu ansehnlichen Stundenansätzen…
Pierre Alain Schnegg: ...ja das ist heute ganz klar eine Industrie. Ich habe – etwas überspitzt ausgedrückt – den Eindruck, dass die Leute in der Sozialindustrie Angst haben, die Ausländer könnten sich zu schnell integrieren und sie dadurch ihre Kunden verlieren. Ich bin der Meinung, dass wir viel enger mit dem ersten Arbeitsmarkt, der echten Wirtschaft, zusammenarbeiten müssen. Es ist immer die Rede von Fachkräftemangel. Es gibt sicherlich nicht für alle, aber doch für gewisse Asylanten Beschäftigungsmöglichkeiten. Dafür brauche ich auch nicht 20 Spezialisten und Psychologen, Soziologen und Sozialarbeiter. Ich brauche echte Patrons, die die Leute integrieren und ihnen zeigen, wie man in der Schweiz arbeiten muss.
faktuell.ch: Nur haben die Arbeitgeber Auflagen zu erfüllen, die nicht gerade den Anreiz bieten, unerprobte Ausländer anzustellen…
Pierre Alain Schnegg: …das ist ein Problem, ich weiss. Deshalb haben wir im Kanton eine Arbeitsgruppe eingesetzt mit einer grossen Anzahl von Vertretern verschiedener Wirtschaftsbranchen. Ich will in Kontakt sein mit Inhabern von Firmen, mit Geschäftsführern, mit Human Resources- Leitern von grösseren Firmen, um zu hören, was Firmen zur Integration von Sozialhilfeempfängern brauchen. Was erwarten sie vom Staat? Was müssen wir zur Verfügung stellen? In welchen Fällen würden sie eine Person berücksichtigen, die vom Sozial- oder Migrationsamt kommt? Die Firmen haben uns bereits Vorschläge unterbreitet
faktuell.ch: Gehört zu den Vorschlägen auch, die administrativen Hürden zu senken?
Pierre Alain Schnegg: Ja sicherlich. Die administrativen Auflagen sind zu hoch. Aber nehmen wir zum Beispiel einen Job zum Mindestlohn. Die Firma würde gerne jemanden einstellen, der von staatlicher Unterstützung lebt. Aber der Mann ist der Arbeit, die er leisten muss, noch nicht gewachsen. Er braucht ein oder zwei Jahre, um sich in den Job einzuarbeiten. Das blockiert die Firma. Ich verstehe, wenn sie ihn zum Mindestlohn nicht anstellen will. Der Mann kann die Leistung für den Lohn schlicht nicht erbringen. Da müssen wir unbedingt etwas bewegen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass Firmen profitieren wollen, behaupten, dass die Leute die Leistung nicht erbringen und dem Arbeitgeber folglich staatliche Unterstützung zustehe. Schwarze Schafe haben wir nicht nur auf einer Seite. Da müssen wir eine gute Lösung finden. Es muss auch eine gewisse Verbindlichkeit geben. Eine Firma, die einen Sozialhilfeempfänger einstellt, muss sich auch engagieren, wenn er seine Arbeit gut macht und ihn nicht nach zwei Jahren auswechseln wollen.
faktuell.ch: Das heisst also, dass Ihnen das Modell der Sozialfirmen nicht zusagt?
Pierre Alain Schnegg: So kann man es nicht sagen. Für Behinderte und psychisch Kranke mögen Sozialfirmen gut sein. Aber es muss eine Verbindung geben, zwischen dem was man liefert und erreicht. Wenn ich bei gewissen Projekten sehe, wie viel ein solcher Arbeiter jährlich kostet, würde ich ihn lieber auf den ersten Arbeitsmarkt schicken und den Betrag der Firma - und damit der Wirtschaft – als Unterstützung geben. Man würde damit mehr erreichen.
faktuell.ch: Wir haben über Integration geredet. Wann halten Sie denn einen Ausländer für integriert?
Pierre Alain Schnegg: Wenn er selbständig unterwegs ist. Dafür braucht er ein gewisses Sprach-Level und muss sein Umfeld kennen. Was ist die Schweiz, was ist eine Demokratie, was sind unsere Grundwerte, wie gehen wir um mit unseren Nachbarn und – was ist Arbeit in der Schweiz.
faktuell.ch: Immer wieder gehen Gerüchte um, dass Asylbewerber und Migranten von der Sozialhilfe grosszügiger behandelt werden als Schweizer (vom teuren Kinderwagen bis zur Gebiss-Sanierung). Wie verhält es sich in Wirklichkeit?
Pierre Alain Schnegg: Diese Gerüchte kommen wohl eher von dem Aufwand, der betrieben wird. Überall werden Programme entwickelt für Sprache, für soziale Integration, für den Beruf. Fast in jeder parlamentarischen Session gibt es neue Vorstösse für die Entwicklung eines wieder neuen Programms für Migranten. Das ist genau das, was die Leute nicht mehr verstehen. Warum muss ein Migrant vom Staat ein Velo erhalten? Warum müssen Migranten einen schnelleren Zugang zu einem Arzt haben, zu einem Spezialisten? In der Schweiz haben wir eine ausreichende Grundversorgung in jeder Region. Und wenn jemand mit dieser Grundversorgung nicht einverstanden ist, dann kann er das Land wechseln. Es tut mir leid, aber ich sehe nicht ein, weshalb ich noch zusätzliche Angebote entwickeln muss für Leute mit Migrationshintergrund. Die Politik akzeptiert zu oft solche Vorstösse im Parlament. Daher entsteht in der Bevölkerung der Eindruck, dass Migranten bevorzugt behandelt werden. Da müssen wir wie bei den Kosten gut aufpassen, dass es nicht zur Explosion kommt.
faktuell.ch: Das Problem liegt also eher in der politischen Haltung, als dass die Sozialarbeiter zu fürsorglich sind?
Pierre Alain Schnegg: Genau. Diese «Ungleichbehandlung» gibt es sogar beim Wohnortwechsel. Wenn ein Franzose von Annemasse (F) nach Bern zieht, wird er von den Behörden offiziell begrüsst. Wenn aber ein Schweizer, der im nur 4 km entfernten Genf nach Bern zieht, gibt’s keine Begrüssung. Das kann ich nicht verstehen.
faktuell.ch: Sind die Richter bei Rekursen zu nachsichtig gegenüber Migranten?
Pierre Alain Schnegg: In der Schweiz haben wir Gewaltentrennung zwischen Politik und Justiz. Diese will ich respektieren.
faktuell.ch: Ihre Abteilung Finanzen und Revision des kantonalen Sozialamts überprüfen die Sozialhilfe- Abrechnungen der Gemeinden, und Sozialdienste und Institutionen, die vom Sozialamt finanziert werden. Wird auch die Notwendigkeit der Ausgaben geprüft?
Pierre Alain Schnegg: Wir haben gewisse Richtlinien besonders für situationsbedingte Leistungen und das wird auch überprüft. Hingegen wird nicht jedes Dossier geprüft. Was ich tief bedaure, ist der Mangel an Daten. Was wir kennen, sind die Kosten pro Gemeinde. Dann haben wir ein schönes Bündel an Statistiken über Alter, Geschlecht und Herkunft. Aber diese Statistiken sind nicht verbunden miteinander. Deshalb können wir auch keine vernünftigen Integrationsprogramme definieren. Wir wissen nicht, wie viel Kosten das Zielpublikum verursacht. Ich hoffe, dass sich das mit dem revidierten Sozialhilfegesetz ändert und wir im Kanton Bern auf eine gute Datenbasis zugreifen können. Ich will nicht kontrollieren, welche Person was tut. Mich interessiert, wo wir Kosten verursachen und welche Massnahmen die Kosten rechtfertigen. Wie können wir helfen, dass gewisse Leute wieder einen Job finden? Ich kann ein Programm für Junge starten. Aber das bringt mir vielleicht nichts. Oder ein Programm für Frauen über 50. Das kann richtig oder falsch sein. Heute kann ich die Frage nicht beantworten.
faktuell.ch: Wenn ein Sozialhilfeempfänger der Stadt Bern Kosten von Fr 100'000.- verursacht hat, dann kann er ins angrenzende Ostermundigen ziehen, wo ein neues Dossier eröffnet wird. Weshalb wird nicht jeder Sozialhilfefall mit all seinen Ortswechseln und Kosten schweizweit erfasst und darüber eine Gesamtbuchhaltung geführt?
Pierre Alain Schnegg: Das ist auch etwas, das wir diskutieren. Wir können das natürlich nur im Kanton, auf Ebene der Gemeinden tun. Wir könnten die unterschiedlichen Lösungen vereinheitlichen und Daten austauschen. Natürlich unter Berücksichtigung des Datenschutzes. Der Datenschutz sollte uns aber nicht hindern uns gut zu organisieren.
faktuell.ch: Wenn Sie einen Wunsch an die Bundespolitik äussern könnten oder auch an die anderen Kantone, was liegt Ihnen am Herzen?
Pierre Alain Schnegg: Ich glaube, wir haben in der Schweiz ein bisschen den pragmatischen Ansatz, den gesunden Menschenverstand verloren. Wir versuchen, gewisse Probleme mit Geld zuzudecken, statt an ihnen zu arbeiten und sie zu lösen. In der Sozialhilfe sind wir mehr willens, Geld auszugeben, als echte Lösungen für die Bezüger zu finden. In der Suchthilfe geben wir viel Geld aus für Programme, so dass wir in der Stadt keine Drogenabhängigen mehr sehen. Dann dürfen wir den Eindruck haben, das Problem sei gelöst. Stimmt nicht. Das sind Menschen, die grosse Probleme haben, und diese haben wir noch nicht gelöst.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
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