faktuell.ch im Gespräch mit Daniela Merz und Dr. Lynn Blattmann, CEO und COO der Sozialfirma Dock Gruppe AG
Daniela Merz, Lynn Blattmann
faktuell.ch: 1997 hat die Stadt St. Gallen für Langzeitarbeitslose das Programm „Arbeit statt Fürsorge“ lanciert. Sie beide, Frau Merz und Frau Blattmann, haben daraus nach der Jahrtausendwende die Sozialfirma Dock Gruppe AG aufgebaut – mit heute 12 Betriebs-Standorten und rund 1300 Beschäftigten im Monatsdurchschnitt. Wie definieren Sie „Sozialfirma“?
Lynn Blattmann: Eine Sozialfirma ist ein Betrieb, der gegründet wird, um Arbeitsplätze für Leute zu schaffen, die keine Stelle haben, und zwar idealerweise so viele Arbeitsplätze wie es braucht. Unsere Dock Gruppe versucht, Arbeiten in der Schweiz zu behalten, die sonst ins Ausland ausgelagert würden und übernimmt Jobs, die sich für den ersten Arbeitsmarkt nicht lohnen.
faktuell.ch: Das sind Montagen, Recycling, Verpacken von Produkten etc. Und wie finanziert sich eine Sozialfirma wie die Dock Gruppe?
Lynn Blattmann: Hauptsächlich über die Aufträge der Leute, die hier arbeiten. Die Sozialdienste übernehmen die Lohnkosten. Aus der Sozialhilfe wird ein Lohn. Das entspricht der Idee: Arbeit statt nur Sozialhilfe.
faktuell.ch:Ticken Sozialunternehmer anders als gewöhnliche Firmenchefs?
Daniela Merz: Jein, auch bei uns geht es darum, möglichst viel von dem zu übernehmen, was der erste Arbeitsmarkt vorgibt. Wir müssen die Grundprinzipien des ersten Arbeitsmarktes in eine Tätigkeit für arbeitslose Menschen übersetzen. Allerdings ist die Gewinnorientierung bei uns eine andere.
faktuell.ch: Auch die Haltung?
Daniela Merz: Ja. Im ersten Arbeitsmarkt hat Gewinn eine andere Bedeutung als bei uns. Wir müssen keinen Gewinn machen, nur eine schwarze Null schreiben und vormals Arbeitslose möglichst optimal einbinden können. Das ist eine andere Herausforderung.
faktuell.ch:Sehen Sie sich als NGO?
Daniela Merz: Wir sind gemeinnützig, steuerbefreit, gehören quasi der Allgemeinheit und sind nicht gewinnbeteiligt. So gesehen haben wir viele Gemeinsamkeiten mit einer NGO. Darüber hinaus haben wir aber einen klaren unternehmerischen Auftrag. Wir haben einerseits betriebswirtschaftliche Zielsetzungen mit ganz klaren Kennzahlen, andererseits auch soziale Zielsetzungen. Man erfüllt nie beide Ziele zu 100 Prozent. Wäre es so, käme etwas anderes zu kurz. Wir haben gelernt, mit einem Fünfer oder Viereinhalber zu leben. So sind alle zufrieden.
faktuell.ch: Klingt nach Spagat zwischen sozialer und unternehmerischer Ausrichtung?
Daniela Merz: Ja, in diese Rolle muss man hineinwachsen. Was geht? Was geht nicht? Wie können wir es anders angehen? Das müssen wir auch mit den Kadermitarbeitern und den Betriebsleitern üben. Ich nenne das Haltungsturnen. Und wir müssen uns klar sein: Als Sozialfirma werden wir nie einen Blumentopf gewinnen, nie ein „best of“, nie „Unternehmer des Jahres“. Denn wir müssen immer wieder Abstriche in Kauf nehmen und die Richtung laufend korrigieren.
faktuell.ch: Dann überwiegt doch die soziale Ader, die Unternehmerinnen wie Sie veranlasst eine Sozialfirma zu führen?
Daniela Merz: Als ich hier begann, übernahm ich ein kapitalisiertes Unternehmen mit der gesamten unternehmerischen Freiheit. Wer hat das schon? Wir sind nicht abgesichert. Niemand bezahlt unsere Defizite. Aber wenn wirklich etwas schief läuft, dann haben wir andere Möglichkeiten als eine normale Firma. Das würde zwar heissen…
Lynn Blattmann: …dass wir dann nicht mehr viel selbst entscheiden könnten.
Daniela Merz: Stimmt. Aber das Szenario ist nicht schwarz-weiss, wir sind nicht entweder in der Gewinnzone oder im Konkurs. Das ist komfortabel, aber darf nicht zur Bequemlichkeit führen. Was uns wirklich reizt, ist das Unternehmerische.
Lynn Blattmann: Das Unternehmerische können wir als Sozialfirma völlig anders leben als im ersten Arbeitsmarkt, in der die produzierende Industrie mit Weltpreisen vergleichen muss und vom Euro verhagelt wird. Klar, die Konjunktur wirkt sich auch auf uns aus, aber unsere Sachzwänge sind andere. Auf diese versuchen wir Einfluss zu nehmen, um für die Leute neue Stellen zu schaffen und wieder einen grossen Auftrag an Land zu ziehen. Und sie ziehen gerne mit, leisten auch mal Überstunden. Weil wir vorwiegend Teilzeitangestellte haben, sind wir mit Überzeit noch nicht bei der Ausbeutung, aber doch bei einem Sondereffort. Da merkt man, dass man nicht alleine ist. Das gemeinschaftliche Gestalten zieht mehr als das Gutmenschentum im Sinne von: lch bin ach so sozial und möchte Gutes tun für die Welt. Das mag mitschwingen, aber es ist nicht der Haupttreiber.
faktuell.ch: CEOs und COOs in der grossen Welt des Kapitals verbinden Erfolg gewöhnlich nicht mit dem Gemeinschaftsgefühl. Sie schon?
Lynn Blattmann: Ja, wir sind alle „Docker“. Das verbindet uns und treibt uns an. Das treibt einem die Schweissperlen auf die Stirn. Und wenn einer nur drei Tage in der Woche mitmachen kann, dann hat er es immerhin drei Tage geschafft und kann sagen: Ich gehöre dazu, ich arbeite für mein Geld. Das hat etwas mit Stolz zu tun, aber auch mit Würde. Denn wenn man nur Empfänger ist, wird man auch so behandelt.
faktuell.ch: Sie vertreten die Auffassung, dass der Mensch sich weitgehend durch seine Arbeit definiert. Gibt es unter den 70 Nationen, die bei Ihnen vertreten sind, nicht auch Kulturen, in denen Arbeit einen weniger zentralen Stellenwert hat?
Daniela Merz: Die gibt es sicher. Aber auch unter den Schweizern. Ein paar wenige Prozent werden diese Grundveranlagung haben. Interessant ist, dass wir in Sachen Religion, Frauenbild und vielen andern Fragen mit andern Kulturen keinen gemeinsamen Nenner finden. Aber Arbeiten – das funktioniert in allen Ländern plus-minus gleich. Man muss irgendwann mal anfangen, etwas tun, und dann erhält man etwas dafür. Dieses Grundverständnis hat jeder, egal, woher er kommt…
Lynn Blattmann: … und das Ideologische tritt absolut in den Hintergrund. Es ist kein Thema, dass wir zwei Frauen sind, die die Dock Gruppe leiten. Es gibt keine Diskriminierung, keine blöden Sprüche. Die Rollen sind klar verteilt. In einer Sozialfirma kann man die Leute nicht übers Geld steuern und mit Geld motivieren. Deshalb ist es wichtig, dass die richtigen Leute am richtigen Ort sind. Wenn ein fauler Kerl Vorarbeiter ist, und Leute zugewiesen werden, die eigentlich mehr können, dann müssen wir handeln. Und zwar schnell. Wer eine bestimmte Position hat, muss es auch bringen. Wir können bei unserem festen Mitarbeiterstab nicht sozial sein. Die Hierarchie muss stimmen.
Daniela Merz: Ein zweiter Führungsschwerpunkt ist es, extrem darauf bedacht zu sein, sich selber zu erkennen zu geben – wer bin ich? wie ticke ich? Die Rollensicherheit ist uns eine Herzensangelegenheit. Was darf man von mir erwarten als Vorgesetzte? Was darf ich von meinem Mitarbeiter erwarten? Das muss man klar offenlegen. Keine Spielchen. Nicht zynisch. Nicht ironisch. Humor ist ganz heikel. Die Kulturen sind unterschiedlich. Also ganz einfach bleiben, damit die Leute alles richtig verstehen und einordnen können.
faktuell.ch: Können Sie beziffern, was die Arbeitsintegration in der Sozialfirma den Steuerzahler kostet?
Lynn Blattmann:
Klar. Was diese in der Dock Gruppe AG kostet, können wir genau sagen. Dafür haben wir ein Berechnungsmodell erarbeitet. Volkswirtschaftlich ist der passiv- aktiv Transfer irrelevant (=
Umwandlung von Sozialhilfe in Lohn pro geleistete Arbeitsstunde, rund Fr. 16.-). Darum rechnen wir Aufwand und Ertrag der öffentlichen Hand aus unserer Tätigkeit aus.
Aufwand = Beiträge der öffentlichen Hand, die in unsere Institution fliessen: Fr. 2.25 pro Stunde, die ein Zugewiesener bei uns arbeitet.
Ertrag = Abgaben der Dock Gruppe an die öffentliche Hand pro Stunde, die ein Zugewiesener bei uns arbeitet: Fr. 2.41 pro Stunde an die AHV,
Fr. 1.48 an die übrigen Sozialversicherungen, Fr.-.85 an die BVG, Fr.-.23 an die MwSt. Total unserer Abgaben: Fr. 4.98. Das ergibt eine volkswirtschaftliche Wirkung von Fr. 2.73. Der Staat macht
also, weil es uns gibt, Fr. 2.73 pro Arbeitsstunde vorwärts.
Wir haben 2014 eine Million Stunden gearbeitet. Damit haben wir dem Steuerzahler satte 2,73 Millionen Franken eingespart. Darauf sind wir stolz. Und das macht uns auch unabhängig.
faktuell.ch: Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?
Daniela Merz: Wir, die Dock Gruppe, haben am Markt pro Stunde Arbeit, die unsere Leute 2014 geleistet haben, Fr 6.99 verdient. Dies zeigen unsere betriebswirtschaftlichen Kennzahlen. Bei einer Million Arbeitsstunden gibt das 7 Millionen Franken und mit denen müssen wir uns irgendwie finanzieren. Mit andern Worten: Das grosse Sparpotenzial sind wir. Je weniger Festangestellte wir im Einsatz haben, desto weniger Kosten generieren wir. Je bescheidener wir leben und uns einrichten, desto tiefer sind die Kosten. Das ist ein Grundverständnis, zu dem wir in den letzten Jahren gelangt sind. Vor zwei Jahren hatten wir 10 Festangestellte mehr. Wir sind bewusst runtergefahren, um Raum zu schaffen für Langzeitarbeitslose. Deswegen haben sie bei uns eine unbefristete Anstellung. Man kann mit ihnen genauso Personalentwicklung machen wie mit den Festangestellten.
faktuell.ch: Es ist Ihr erklärtes Ziel, möglichst viele Ihrer Mitarbeitenden wieder für eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt fit zu machen – „Hilfe zur Selbsthilfe“. Wie vielen von ihnen gelingt der Einstieg?
Lynn Blattmann: 10 bis 20 Prozent der Durchschnittsbelegschaft der Dock Gruppe pro Jahr finden wieder eine Stelle. Austrittsgrund: Stelle. Die Integrationsquote ist jedoch massiv zurückgegangen. Vor fünf Jahren fand noch ein gutes Drittel der Belegschaft wieder eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt.
faktuell.ch: Die Integrationsquote ist konjunkturell bedingt. Können Sie – wenn sie ansteigt – nicht auch einen Teil des Erfolgs für sich verbuchen?
Daniela Merz: Studien zeigen, dass der grösste Teil der Leute auch ohne uns eine Stelle finden würde. Dafür braucht es uns nicht. Aber es geht um die andern gegenwärtig 80 bis 90 Prozent. Und selbst wenn wir eine Integrationsquote von 40 Prozent haben, messen wir uns nicht an dieser. Denn was machen wir mit den 60 Prozent, die es nicht auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen? Sagen wir denen jeden Tag, du gehörst zu den 40 Prozent. Welch eine Schmach. Nein, auch du hast eine gute Arbeitsstelle verdient. Punkt.
faktuell.ch: Es gibt Leute, die jahrelang bei Ihnen arbeiten?
Daniela Merz: Es gibt Leute, die länger da sind als ich!
faktuell.ch: Und was ist das Schicksal eines Menschen, der auch die Arbeit im Dock nicht schafft?
Lynn Blattmann: Er geht zurück auf die Sozialhilfe und realisiert, dass er nicht mehr rauskommt. Man will – böse gesagt – nicht, dass sich die Leute arrangieren in der Sozialhilfe und dabei zufrieden sind. Gesellschaftlich wäre es allerdings viel gefährlicher, wenn sie alle unzufrieden wären. Es gibt auch Querulanten, die lieber sterben würden, als sich zu arrangieren. Aber das sind Einzelfälle.
faktuell.ch: Sie haben den Fachverband unternehmerisch geführter Sozialfirmen F.U.G.S. gegründet. Boomt die Branche?
Lynn Blattmann: Überhaupt nicht. Aber das kommt noch. Wir glauben daran. Seit den 1960er Jahren beobachten wir die so genannte Professionalisierung im Sozialwesen. Das Sozialwesen wurde dadurch nicht nur aufgewertet, es wurde auch stark psychologisch ausgerichtet. Heute spürt man vielerorts dass die gängigen Methoden keinen grossen Erfolg mehr bringen, aber wahnsinnig viel kosten. Der Druck zur Veränderung ist noch nicht gross, aber er wächst. Das spürt man am stärksten bei den Schwächsten, den Sozialhilfeempfängern. Dort werden am meisten Angebote gestrichen. Die Krux ist, dass es für Sozialunternehmer kein Berufsprofil gibt. Der Fachverband ist auch nicht primär entstanden, um Sozialfirmen zu organisieren. Er soll eine Fachplattform sein für Diskussion und Austausch und sozialunternehmerische Ideen weiterentwickeln.
faktuell.ch: Die Sozialarbeit ist zu einer Sozialindustrie geworden, die zahlreiche Beschäftigungsprogramme und Therapien anbietet. Werden sie durch Sozialfirmen bald alle überflüssig?
Daniela Merz: So allgemein kann man das nicht sagen. Wir haben uns „spezialisiert“ auf Langzeitarbeitslose, die eine sehr tiefe Integrationschance haben. Ich glaube, da wäre es dringend notwendig, dass Sozialfirmen übernehmen. Aber es geht nicht darum, dass man Mittel streicht, sondern sie verlagert und sich gezielt die Frage stellt, für welche Art von Arbeitsintegration wie viel Geld zur Verfügung gestellt werden soll. Jugendarbeitsintegration ist eine ganz andere Herausforderung, da müssen auch andere und viel aufwendigere und vielfältigere Methoden angewendet werden können.
faktuell.ch: Welche Rolle teilen Sie dem Staat bei der Arbeitsintegration zu?
Daniela Merz: Ich finde, der Staat sollte endlich den Mut haben, Rahmenbedingungen festzulegen. Die fehlen im Moment auf allen Ebenen. Das Arbeitsrecht könnte man für den zweiten Arbeitsmarkt modifizieren. Unsere Leute zahlen Arbeitslosenbeiträge, obschon sie nie mehr Taggelder beziehen können. Wie gerecht ist denn so etwas? Das sind die Ärmsten der Armen, die in die Sozialversicherungs-Töpfe einzahlen dürfen, aber nichts mehr erhalten. Das ist keine Versicherung, das ist eine Abgabe. Wenn wir staatliche Rahmenbedingungen hätten, würden für alle Anbieter die gleichen Bedingungen gelten, das ist heute gar nicht so. Was heisst Konkurrenzverbot? Wie viel Wertschöpfung darf eine Arbeitsintegrationsfirma pro Stunde erzielen? Solche Rahmenbedingungen könnten auch einfach kontrolliert werden.
faktuell.ch: Das heisst, das ganze Sozialversicherungssystem müsste revidiert werden…
Lynn Blattmann:…zu schön, um wahr zu sein! Man ist lange davon ausgegangen, mehr ist besser, noch mehr ist noch besser. Man müsste einmal über Finanzen und Wirkung reden. Wirkung im Sinn von Franken. Volkswirtschaftlich betrachtet. Wohin fliesst das Geld? Wie viel fliesst in die Institutionen und wie viel kommt den Betroffenen zugute? Diese Subjekt / Objekt – Betrachtung kann sehr viel bringen. Sie sehen nirgendwo so viele USM-Möbel wie in den Sozialinstitutionen, den Sozialämtern. In keinem Industriebetrieb habe ich je USM-Möbel gesehen. Obwohl es eigentlich „industrial design“ ist. Das ist für mich ein Bild für eine Haltung, die mit Sozialem sehr wenig zu tun hat. Da ist etwas schief gelaufen, über das man dringend reden sollte bevor es unangenehm wird.
Daniela Merz: Industrie und Wirtschaft funktionieren ganz anders. Wenn wir eine Lösung brauchen und uns an ein grosses Unternehmen wenden, helfen die uns innerhalb von 10 Minuten. Die Bereitschaft ist sehr gross, weil die Haltung zum Thema Arbeitslosigkeit dieselbe ist. Wir gehen alle davon aus, dass arbeiten wichtig ist. Arbeit gibt mehr als nur Einkommen. Arbeit gibt Selbstwert, Arbeit gibt einen Tagesinhalt. Der Staat ist ein fairer Partner solange er Rahmenbedingungen machen und Kontrollfunktion wahrnehmen kann. Das ist völlig okay. Aber der Staat soll nicht unternehmerisch agieren müssen, weil er das gar nicht kann. Er hat seine eigenen Rahmenbedingungen.
faktuell.ch: Was macht eine gute Sozialfirma aus?
Lynn Blattmann: Sie darf den Staat nicht sehr viel kosten und die Leute müssen reelle Arbeit haben, die so organisiert ist, dass sie sie bewältigen können und dafür einen Lohn erhalten. Es gibt Sozialfirmen, die sich so nennen und keinen Lohn bezahlen und solche, die eher Beschäftigung als Arbeit anbieten, weil sie keine geeignete Arbeit akquirieren können.
Daniela Merz: Es findet ein riesiger Verteilkampf um die öffentlichen Mittel statt! Unser Appell: Lasst uns strukturiert über Geld und Wirkung reden, dann haben wir einen Benchmark! Genauso wie man in der Hotellerie weiss, was die Zimmerreinigung im Dreisternbereich kostet und ab welcher Belegung ein Betrieb rentabel ist, weiss man beispielsweise in der Psychiatrie mittlerweile sogar mit der Fallpauschale wie viel eine Depression kostet. Darüber kann man reden. Nur in der Arbeitsintegration will man partout nicht über Geld reden.
faktuell.ch: Sie haben 2010 zusammen ein Buch geschrieben mit dem Titel „Sozialfirmen – Plädoyer für eine unternehmerische Arbeitsintegration“ (rüffer & rub; ISBN 978-3-907625-48-4). Welche neuen Erkenntnisse haben Sie seither gemacht?
Lynn Blattmann: Der Wind ist viel rauher geworden seither. In der Sozialhilfe will man heute weniger ausgeben. Gelder werden still gestrichen. Wenn einer Sozialhilfe bezieht und keine Stelle findet, dann macht er etwas falsch. Er ist faul. Diese Vorstellung steckt tief in uns drin. In der Hochkonjunktur mit Vollbeschäftigung hat man noch auf dieser Klaviatur spielen können. Da ist halt der eine oder andere Lebenskünstler in der Sozialhilfe gelandet. Heute haben wir eine strukturelle Arbeitslosigkeit – aber nicht einmal die Leute in den Sozialämtern getrauen sich darüber zu reden. Weil es keine Lösung gibt. Scheinbar gibt es nur die teuren Integrationsprogramme. Die Eintrittsschwelle zum ersten Arbeitsmarkt ist seit der Publikation unseres Buches sehr viel höher geworden. Maschinen in der Industrie kosten Millionen von Franken und werden von Leuten mit Berufs- oder sogar Hochschulabschluss bedient. Der Maschinenführer von heute ist nicht mehr „Gustav“.
faktuell.ch: Welche Kurskorrekturen haben Sie in den letzten fünf Jahren aktiv bei der Dock Gruppe AG vorgenommen?
Daniela Merz: Wir haben unser ganzes Finanzierungssystem auf den Kopf gestellt. Wir haben eine Anmeldegebühr einführen müssen. Wir haben das aktuellste ISO- oder Qualitätsmanagementsystem das man sich überhaupt vorstellen kann, weil wir jeden Tag etwas Neues erfinden. Irgendjemand kommt wieder mit einer guten Idee. Damit versuchen Lynn auf operativer und ich auf strategischer Ebene die Leute zu motivieren. Ich glaube das wichtigste Attribut in der ganzen Geschichte ist Vertrauen. In der Sozialhilfe ist Kontrolle angesagt, bei uns im Betrieb Vertrauen auf jeder Ebene. Auch eine Langzeitarbeitslose, die mein Büro putzt, darf einen Schlüssel haben. Die putzt einfach, ganz lieb, und am Schluss riecht es noch besser wenn ich wieder reinkomme. Dieses Vertrauen muss man lernen. Das wäre schwierig, wenn Lynn und ich nicht einen guten Draht zueinander hätten. Wir können unsere Sorgen und Zweifel teilen. Wir sind ein Team.
Lynn Blattmann: Zuerst haben wir gefunden, dass unsere Leistungsträger nur befristete Arbeitsverträge haben sollten. Wir wollten ja nicht, dass unsere Besten dauerhaft bleiben. Das fanden die Arbeitnehmer aber nicht fair. Leute in verantwortungsvollen Positionen müssen gehen und die andern, die weniger Zuverlässigen, können unbefristet bleiben. Das sei denn doch die Höhe. Wir haben das diskutiert und herausgefunden, dass Leute ohnehin freiwillig gehen, wenn sie „draussen“ mehr verdienen können. Aber wenn jemand sehr gut arbeitet und 55 ist, dann muss er dennoch bangen um seinen Job bei uns. Wir haben uns vom Anliegen unserer Arbeitnehmenden überzeugen lassen. Wir haben allerdings unsere Beförderungspolitik angepasst. Ein 35- jähriger wird eher nicht befördert, wenn er gut ist, er soll eine Stelle suchen. Es ist allerdings auch schon vorgekommen, dass wir jemandem gekündigt haben, weil er gezeigt hat, dass er wirklich gut ist.
Daniela Merz: In der Sozialfirma müssen die Besten gehen: Kündigung wegen Arbeitsmarktfähigkeit.
faktuell.ch: Da kommt auch nicht gerade ein Gefühl von Sicherheit auf.
Lynn Blattmann: Kommt drauf an, wie transparent so eine Haltung ist. Nehmen wir den Fall des schweren Alkoholikers, endlich mal halbtrocken und stabil, hat lange auf dem Bau gearbeitet, ist Ende 50, und arbeitet bei uns sehr zuverlässig. Der kann nie mehr auf den Bau. Dafür ist sein Pegel zu hoch, das ist zu gefährlich. Oder er müsste nochmals einen vollen Entzug machen, das ist in seinem Fall unrealistisch. Er braucht einen Job, der ihn fordert, aber nicht überfordert, das hat er bei uns. So jemand pushen wir nicht, er weiss, dass er keine Stelle mehr suchen muss, er fühlt sich sicher und es geht ihm bestens. Wenn der Mann aber 35 wäre und endlich seine Drogensucht überwunden hätte, also ganz stabil, dann müsste ich früher oder später sagen: „Junge, weisst du was? Jetzt flieg!“
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
(das faktuell.ch-Gespräch mit Lynn Blattmann und Daniela Merz fand im August 2015 statt)
Daniela Merz, Lynn Blattmann
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