Beiträge zu Sozial & Sicher 

Ludwig Hasler: "Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Dr. Ludwig Hasler

Ludwig Hasler

faktuell.ch: Erdogan, Orban, Putin, wohl auch Trump: Autokraten sind, wie es scheint, nicht zu stoppen. Gleichzeitig haben Bewegungen, die die traditionellen Parteien in Frage stellen, grossen Zulauf. Was wiegt schwerer: die Migrationsprobleme oder das Problem mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten?

 

Ludwig Hasler: Ich glaube das Hauptproblem ist, dass der Fortschritt stockt. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass es immer weiter und aufwärts geht, eine positive Dynamik herrscht. Das ist ein Projekt der Moderne. Es gibt immer mehr Freiheit, Bequemlichkeit, Glück, Besitz usw. Der Glaube ist vielleicht nicht verschwunden, aber eher vakant momentan. Wir sind heute überfordert von den grossen Aufklärungsidealen der Moderne: Freiheit, Vernunft, Toleranz, Weltoffenheit. Das hat prächtig funktioniert, solange man davon profitierte, aufstieg, mehr Freiheitsspielraum hatte. Und jetzt ist man skeptisch, glaubt nicht mehr so recht dran und sieht nicht mehr, was man davon hat. Dabei spielt vieles eine Rolle, auch die Migration. Jetzt kommen plötzlich Fremde, die einfach Teil haben, sich bedienen wollen. Für eine bestimmte Schicht ist dies kein grosses Problem…

 

faktuell.ch: … aber für den Teil der Bevölkerung schon, der nicht im Überfluss lebt…

 

Ludwig Hasler: …und der entwickelt das Gefühl, er sei betrogen um das, was man ihm versprochen hatte. Deshalb bildet sich eine Disharmonie zwischen so genannter Elite und dem Fussvolk. Die Elite spricht nach wie vor die Aufklärungssprache. Gegen Toleranz und Vernunft an sich hat niemand etwas. Aber wenn man befürchtet, von diesen Idealen nicht mehr profitieren zu können, sondern eher eins aufs Dach bekommt, eingeschränkt, eingeengt wird, dann verlieren die Ideale ihre Strahlkraft. Dann wird auf jene geprügelt, die diese Ideale jeden Morgen verkünden. Politik und Wirtschaft sind nicht die ursprünglichen Treiber dieser Entwicklung, sondern sie sind darin verhängt.

 

faktuell.ch: Sie waren lange Jahre Journalist in einer Zeit, da das Wort von Journalisten, kurz: ihre veröffentliche Meinung, etwas zählte. Hat die «Vierte Gewalt» ausgedient bzw. braucht es gar keine «Vierte Gewalt» mehr in einer Welt der «Bewegungen», die der politischen «Ochsentour» keinen Respekt mehr zollt?

 

Ludwig Hasler: Ich glaube nicht, dass sich die Funktion der Medien verändert hat. Aber wir haben auch historisch ein schiefes Bild, wenn wir meinen, in früheren Zeiten hätten hundert Prozent der Bevölkerung es nicht erwarten können, am Morgen die Zeitung zu lesen. Die Artikel waren damals kompliziert verfasst, vollkommen humorlos, eine Art Predigt-Fortsetzung oder -Ersatz. Seither haben sich die Medien nur vervielfältigt durch technologische und ökonomische Entwicklungen. Dass dies gleichzeitig der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht, ist ja klar. Es gibt nicht mehr «das Volk», sondern ein segmentiertes Volk mit ganz unterschiedlichen Interessen. Politik – das sehen wir sogar in der Schweiz und jetzt vor allem in Frankreich – erneuert sich ausserhalb der traditionellen Parteien. Ich halte dies weitgehend für einen normalen Vorgang. Es gibt keine Organisation, die sich über lange Fristen dauernd aus sich heraus erneuert

 

faktuell.ch: Früher oder später gehen aus Bewegungen auch immer wieder politische Organisationen hervor, die nach dem Muster traditioneller Parteien strukturiert sind.

 

Ludwig Hasler:  Politik hat sich insgesamt enorm ausgedehnt. Sie sorgt flächendeckend für die Menschen oder gibt dies zumindest vor und verspricht es. Politik im neuzeitlichen Verständnis ist Sicherheitspolitik. Der traditionelle Staat ist ein Sicherheitsstaat, er schützt die Bürger voreinander und vor Eindringlingen. Heute geht der Staat weiter und schützt mich vor mir selber, vor meinen internen Gefährdungen, vor meinen Süchten und vielleicht sogar vor meinen Sehnsüchten, jedenfalls vor sonntäglichen Konsumorgien an Tankstellen. Das ist jetzt staatliche Fürsorge. Und wenn die Fürsorge geritzt wird – zum Beispiel durch etwas gar viele Eritreer im Land – dann kommt ein Zweifel an den politisch Verantwortlichen auf bis hin zu einer Gegnerschaft, weil die Politik vermeintlich nur so tut, als würde sie für uns sorgen und uns schützen, in Wirklichkeit aber die Grenzen aufmacht und Fremde unter dem Stichwort «Asylrecht» an unsere Töpfe lässt. Ich glaube, dass dies ein Kernpunkt ist im momentanen Unbehagen.

 

faktuell.ch: Wie gross ist der Toleranz-Spielraum der Gastgeber-Länder, bevor sie Gefahr laufen, nicht nur ihre bisherigen Privilegien, sondern auch ihr Selbstbestimmungsrecht bis zur Unkenntlichkeit dem Anspruch des sogenannten «Gutmenschentums» zu opfern?

 

Ludwig Hasler: Ich hätte erwartet, dass man stringenter über Asyl, Asylrecht und Asylsuchende diskutiert. Eritrea ist nur ein Beispiel, aber ein aufschlussreiches. Man kann natürlich sagen, viele Leute in Eritrea seien «nicht sicher» oder hätten dort «keine Perspektive». Und jetzt? Eine Perspektive hat man nicht einfach so, für eine Perspektive muss man etwas tun. Es entsteht der Eindruck: Manche Eritreer laufen einfach davon. Okay. Wer kann weglaufen? Sicher nicht die Schwächsten. Sicher nicht die Ärmsten. Was bedeutet: Die Perspektivlosigkeit im Land Eritrea wird grenzenlos. Mit unserer Hilfe. Auf unsere Kosten? Die Skepsis ist völlig rational. Auch der emotionale Reflex ist verständlich: Dass wir in der Schweiz Perspektiven haben, ist nicht Schicksal, unsere Vorfahren haben es geschafft, von der Armut wegzukommen, gegen allerlei Widerwärtigkeiten. Ist eine Erfolgsstory, mit verdammt viel Schweiss und Erfindungsgeist. Es ist unser Erfolg. Und selbst wenn wir ihn mit den jungen Eritreern teilen möchten: Die meisten von ihnen kriegen doch auch hier nicht wirklich eine Perspektive.

 

faktuell.ch: Also macht man ihnen falsche Hoffnungen?

 

Ludwig Hasler: Ja, schon. Und das ist ihnen gegenüber auch nicht fair. Hinzu kommt der Sicherheitsaspekt. Wenn man das Asylrecht derart ausdehnt und aufnehmen will  wer «nicht sicher» ist, dann hätte momentan ein Drittel der Türken Recht auf Asyl bei uns und überlegen sie, wie viele das aus China und Russland sind. Ich halte dieses Kriterium für untauglich. Denn «nicht sicher» heisst noch lange nicht «verfolgt». Selbst bei «Verfolgten» müssten wir als kleines Ländli realistischer werden. Eritreer sind daheim nicht sicher? Was heisst «sicher»? Wir sind jetzt halt mal auf diesem Planeten. Das heisst, wir leben unter irdischen Bedingungen. Und irdische Bedingungen sind immer durchzogen. Die sind im Prinzip nie «sicher». Ich fürchte, mit diesem «Sicherheitsargument» wird unser Asylrecht ausgehöhlt. Momentan profitieren Eritreer davon. Andere werden die Leidtragenden sein. Nicht wirklich fair.

 

faktuell.ch: Helfen Sie Flüchtlingsministerin Sommaruga. Was tun?

 

Ludwig Hasler: Ich habe den Eindruck, dass in der Schweiz eine Mehrheit grundsätzlich dafür ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist aber eine Frage des Vorgehens. Der vormalige australische Premierminister Tony Abbott sagte, als die ersten Flüchtlingsschiffe seine Küste ansteuerten: «Stoppt mir diese verdammten Schiffe.» Man kann das für brutal halten, für mich ist es ein plausibler Reflex. Die Schiffe stoppen genügt natürlich nicht, sondern es müssen Flüchtlingslager organisiert werden. Die Australier – und auch die Kanadier – sagten dann okay, wir nehmen 10’000 auf. Aber die holen wir im Lager ab und bringen sie mit dem Flugzeug zu uns. Das ist eine Lösung. Denn was im Mittelmeer passiert, ist einfach schrecklich. Ich kenne die Situation natürlich nicht im Detail. Man schützt sich ja auch gerne vor solcher Detailwahrnehmung. Aber es ist zumindest umstritten, dass die Rettung wirklich zugunsten der Flüchtenden ist. 2016 gab es 6000 Tote im Mittelmeer. Wer kann denn so etwas verantworten?

 

faktuell.ch: An der Migration beteiligen sich «nur» drei Prozent der Weltbevölkerung. Doch in konkreten Zahlen bedeutet dies, dass rund 220 Millionen Menschen ausserhalb ihres Geburtslandes leben. Und nochmals 700 Millionen würden gemäss einer Gallup-Untersuchung emigrieren, wenn sie könnten. 700 Millionen sind das «Migrationspotenzial». Wird uns die Frage – wer ist Flüchtling, wer ist Migrant – nicht mehr loslassen?

 

Ludwig Hasler: Kaum. Umso wichtiger sind prinzipielle Überlegungen. Bei derart massenhaften Bewegungen müssen wir unsere Asyl-Philosophie überdenken. Traditionell nahmen wir entweder ideologisch verfolgte Einzelne auf. Oder verfolgte Gruppen wie die Hugenotten, die aber kulturell mit uns verbunden waren. Oder politische Flüchtlinge aus aktuellem Anlass, siehe Ungarnaufstand, siehe Balkankrieg. Nun haben wir eine völlig neue Situation: globale Migration. Quantitativ sind wir eh überfordert. Also brauchen wir neue Kriterien. Als Motto stelle ich mir vor: Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische. Ohne ausgeglichenes Geben und Nehmen scheitert mit der Zeit jede noch so gut gemeinte Affäre. Und zwar für beide: Bleibt der Fremde Fremdling in der Gesellschaft, ist seine Migration gescheitert. Fühlt sich der Gastgeber auf Dauer nur ausgenutzt, wird er sich gegen Migration auch dann sperren, wenn sie plausibel ist. Also müssen wir radikal unterscheiden zwischen Migrant und Flüchtling.

Für Migranten ist Integration das A und O. Flüchtlinge aus Syrien nehmen wir ohne diese Bedingung auf, klar. Aber zeitlich begrenzt. Aus einem syrischen Flüchtling kann ein bestens integrierter Migrant werden. Das ist in unserem Sinn. Wir brauchen Leute. Kluge Leute. Leute mit Biss. Leute mit Hunger. Wir regenerieren uns zu schwach…

 

faktuell.ch: …auf der Strasse gewinnt man seit ein paar Jahren nicht diesen Eindruck…

 

Ludwig Hasler: … ich spreche von den eigenen Genen. Wenn wir uns nur aus diesen reproduzieren würden, müssten wir uns etwas mehr Mühe geben. Eine Frau müsste 2,2 Kinder gebären. Davon sind wir weit entfernt. Also Integration – fragt sich nur: wo hinein? Wie steht es mit unserer Identität? Wir sind zwar ziemlich scharf auf Schwingfeste und auf 1.August- Feiern. Wir führen uns gern als Superpatrioten auf, gehen dann allerdings nach Konstanz einkaufen und decken uns beim chinesischen Online-Händler ein. Es ist ziemlich schizophren, was wir tun. In der Selbstdarstellung geben wir uns als Bergler und trommeln zum nationalen Lagerfeuer, weil es draussen angeblich kalt und zügig ist. Wir sind aber permanent unterwegs in alle Winkel dieser Erde. Das finde ich ziemlich schief.

 

faktuell.ch: Haben wir noch eine eigene Kultur?

 

 Ludwig Hasler: Das ist für mich eine wichtige Frage, weil eine Gesellschaft wie unsere vom Glauben an den Fortschritt lebt. Immer mehr und besser muss es werden. Generell braucht der Mensch entweder ein Gott oder eine Zukunft. Der Mensch – anders als alle anderen Lebewesen, die kompakt, dicht, problemlos sind und sich nicht jeden Morgen neu orientieren müssen – ist ein zwiespältiges Wesen. Das ist seine Grösse und auch seine Hinfälligkeit. In diesem Hin und Her zwischen Geist und Animalischem muss er sich dauernd justieren, sich zurechtfinden. Geist und Trieb in uns sind ewig im Widerstreit. Deshalb haben wir ja dauernd Probleme mit uns selbst. Diese Probleme lösen, heisst irgendwo einen Halt haben. Das war lange das Göttliche, das Auge Gottes, das alles sieht. Heute ist es das Google-Auge, das sieht auch alles. Das Schöne beim Auge Gottes war, dass es für sich behielt, was es sah. Bei Google ist dies nicht mehr der Fall. Ein Mensch kann nicht in der Gegenwart verharren, er muss etwas vorhaben, er braucht eine Zukunft. Dasselbe gilt für die ganze Gesellschaft. Wir haben heute Mühe, den Rank zu finden, weil die Zukunft in der Rückschau immer leuchtend war, voller Versprechungen, Abhebungen, eine wahre Hymne an die Veränderungen.

 

faktuell.ch: Und jetzt: Um Gottes Willen, bloss keine Veränderungen?

 

 Ludwig Hasler: Wenn man dort angelangt ist, wo wir als Schweiz sind, wenn es einem so gut geht, ja dann will man alles, bloss keine Veränderung. Genauer gesagt, man will eigentlich gar keine Zukunft. Man will eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Genauer noch: eine Fristerstreckung für eine problembereinigte Gegenwart. Ein paar Probleme werden noch ausgebügelt, wie 70 Franken mehr für die AHV-Neurentner, ein paar zusätzliche Velostreifen. Das riecht nun wirklich nicht nach Zukunft. Das ist eine ausgebügelte Gegenwart. Wenn man so in der Gegenwart sitzenbleibt und die Probleme trotz der Heidenmühe, die wir uns geben, nicht aufhören, dann werden wir miesepetrig. Jetzt kommen auch noch diese Migranten, trampen uns auf die Füsse und hocken auf der Sozialkasse. Man erträgt dann einfach nichts mehr. Wir haben gedacht, wir seien auf dem Berg angekommen. Es ist nicht schlau, so etwas anzunehmen. Menschen kommen nie auf dem Berg an, sie sind immer «am» Berg. Wie Sisyphus. Das ist das menschliche Pensum. Kraxeln, Varianten suchen, runterfallen, ausruhen, dann wieder hoch am Berg. Was uns heute fehlt, ist eine Art Vista. Wir müssen etwas im Blick haben, das zu erreichen sich lohnt. Vielleicht ein Silicon Valley Europas. Das wäre gar nicht so dumm.

 

 faktuell.ch: Die Frage ist, ob es bei uns funktioniert?

 

 Ludwig Hasler: Unsere Kultur war durch und durch christlich. Das zeigt sich noch im Jahresrhythmus mit Auffahrt, Pfingsten, Ostern. Das strukturiert heute noch, das Jahr strukturiert das Leben, es gibt ihm Feierlichkeit, ohne diese Festtage hätten wir flache Autobahn durchs Jahr. Auch Musik und Dichtung sind christlich geprägt, bis hin zu politischen Idealen wie Gerechtigkeit und Menschenrecht. Aber was tun wir nun schon seit geraumer Zeit? Wir entrümpeln. Das Christentum kommt im öffentlichen Gespräch nur noch vor, wenn wieder mal ein pädophiler Pfarrer am Werk ist. Sonst kann man es offenbar «kübeln». Ich glaube nicht, dass wir da was Gescheites machen. Soweit ich sehe, ist kein Ersatz vorhanden.

 

faktuell.ch: Dem Islam das Feld überlassen?

 

Ludwig Hasler:  Jaaa … Das will doch eher keiner, oder? Das Christentum hat immerhin die Aufklärung mitgemacht, die Religionskritik integriert. Der Islam – schon nur mit seinem Frauenbild – wäre ein Rückschritt. Der Mensch braucht – wie gesagt – entweder Gott oder Zukunft. Gott hält man in unserer Gesellschaft weitgehend für überflüssig. Wir sollen laut Umfragen zwar mehrheitlich religiös sein. Aber natürlich nur gefühlsmässig. Barfuss über eine nasse Wiese laufen oder so etwas. Hauptsache Empfindung. Das ersetzt aber nicht die Religion als höheres Koordinatensystem, das sie immer war. Diese Vakanz hat Folgen bis in die Sozialpolitik. Die so genannte Resilienz, die seelische Widerstandkraft, sinkt dramatisch ab. Die brauchen wir immer, wen etwas schiefläuft, bei Enttäuschungen, Versagen, Entsagen, Scheitern, Frustrationen.

 

faktuell.ch: Wir Schweizer gehören weltweit zu den glücklichsten Menschen. Auf 1000 Bewohner haben wir allerdings auch die grösste Psychiater-Dichte. Hohes Glücksgefühl und tiefe Resilienz: Woher kommt der Widerspruch?

 

Ludwig Hasler: In den letzten Jahrhunderten war für die Resilienz immer auch Religion zuständig. Wir waren in eine höhere Geschichte eingebettet. Welttheater. In diesem Theater spielten alle eine Rolle, eine kleine, grosse, völlig egal, Hauptsache eine Rolle. Das gibt einen Sinn. Der Sinn kommt nicht aus mir, der Sinn kommt aus der Teilnahme an etwas, das grösser ist als ich. Diese Teilnahme hat auch das Negative aufgehoben, das es in jeder menschlichen Existenz gibt. Hiob hatte eine Adresse für seine Debakel. Er konnte klagen. Ja, bei wem will ich heute klagen? Ich habe keine Adresse mehr und bin mit Entsagen und Versagen allein und zerbreche daran. Das stellt die Psychiatrie immer deutlicher fest. Heute sind wir körperlich gesünder denn je, clean sind wir, haben weniger Süchte, weniger Drogen, weniger Rauchen, weniger Saufen, nur mit Kiffen bleibt’s beim Alten. Je braver wir uns verhalten, desto mehr steigt die Gefahr der Depressionen.

 

faktuell.ch: Warum?

 

Ludwig Hasler: Wenn ich allein mit mir bin, nicht eingebettet in eine grosse Geschichte, in ein kosmologisches Drama, bin ich sozusagen verwaist. Alleinsein mag gehen, solange alles toll läuft. Sobald mich aber etwas piesackt, sinkt die Resilienz dramatisch. Resilienz hat unmittelbar etwas mit Kultur zu tun. Die Kultur, die einen höheren Sinn hat, ist nicht mehr da. Wenn wir schon keine eigene Kultur mehr haben, keine Christen mehr sind und keine mehr sein wollen, dann machen wir eine Vermischung, kulturelle Biodiversität. Seitdem die Aussicht auf ewige Himmelsfreude nicht mehr so klar ist, wollen wir ja sozusagen alles in der irdischen Lebensfrist ausschöpfen. Wenn es schon kein Leben danach gibt, dann zumindest zu Lebzeiten gleich zwei bis drei führen. Ich glaube, mit der Multikultur verhält es sich ähnlich. Auf die Idee kommt man erst, wenn man der eigenen Kultur misstraut, wenn sie ihre Stärke verliert.

 

faktuell.ch: Nicht nur der kulturelle, sondern auch der technische Wandel mischt unsere Gesellschaft auf. Wie beeinflusst die Digitalisierung unseren Sozialstaat?

 

 Ludwig Hasler: Wir sind von der Moderne überfordert. Es kommt zu Irritationen. Die Ideale überfordern uns. Der Fortschrittsglaube serbelt. Und jetzt heisst es: Alles wird ganz anders – und das ohne den Menschen. Na bravo. Digitalisierung heisst, dass die Maschine erwachsen und selbständig wird. Da denken Normalmenschen, o Gott, o Gott, wo bleiben wir? Gemäss Oxford-Studie übernehmen Maschinen 47 % aller herkömmlichen Tätigkeiten…

 

faktuell.ch: und Facebook will das menschliche Gehirn direkt mit dem Computer vernetzen…

 

Ludwig Hasler: …und das macht jetzt nicht alle froh, weckt in vielen Ängste, übrigens zum Teil die völlig falschen. Es ist nämlich nicht so, dass vor allem die minder Gebildeten überflüssig werden. Es wird auch in 50 Jahren noch eine Coiffeuse brauchen…

 

faktuell.ch:  … aber den Steuerverwalter nicht mehr…

 

Ludwig Hasler: … ja und ganz angesehene Berufe werden verschwinden. Wenn ein Arzt nichts anderes macht als Allgemeinstudienwissen auf unseren Fall runterzubrechen, ist er heute schon überflüssig. IBM’s Star-Doctor Watson ist besser im Diagnostizieren und Operieren. Das heisst auf der anderen Seite – und das wäre jetzt wirklich eine Zukunft – der Mensch muss sich neu erfinden. Der Mensch hat sich über Jahrhunderte hinweg profiliert durch rationale Intelligenz: Wissenserwerb, Rechnen, Berechnen, Kontrollieren. Das was man heute als Fachkompetenz bezeichnet. Heute bauen wir Maschinen, die uns genau bei dieser Kompetenz überlegen sind. Jetzt wird es interessant. Aber noch fehlt es uns an Fantasie, die Chance zu nutzen. Nehmen wir die Pflegerin. Ja was ist denn gegen einen Pflege-Roboter einzuwenden? Der soll doch die Zimmer reinigen, die Intimhygiene übernehmen. Gemäss Umfragen würden weit über die Hälfte der zu Pflegenden den Roboter vorziehen – aus Schamgefühl. Mit dem Roboter würde der Pflegerin ganz viel erspart bleiben. Jetzt hat sie endlich Zeit, wofür sie bisher keine Zeit hatte. Nämlich für das Wichtigste. Zuneigung, Interesse, Ermutigung, Beziehung. Das menschliche Hirn ist eine schlechte Rechnungsmaschine, es ist ein Sozialorgan.

 

faktuell.ch: Soziale Fähigkeiten sind in der Medizin, der Pflege wichtig. Wie sieht es in Berufen aus, bei denen mathematische Fähigkeiten im Zentrum stehen?

 

 Ludwig Hasler: Ich hatte kürzlich mit Architekten zu tun. Die haben heute schon eine Entwurfs-Software, die der Qualität eines durchschnittlichen Schweizer Architekten ziemlich gut entspricht. Aber die Software schafft das in zehn Minuten! Da fragen die Architekten, was um Gottes Willen sie denn jetzt tun sollen. Meine Antwort: «Denken! Jetzt kommen Sie mal zum Denken. Wenn ich so durch die Gegend gehe, sieht für mich nämlich nicht jeder Bau durchdacht aus. Denken Sie also über den Menschen nach. Was braucht der Mensch um zufrieden zuhause zu sein?» Es fragt sich generell, was ein Mensch braucht, um seine soziale Natur in Hochform zu bringen. Nehmen wir den Banker. Fintech (digitale Finanzdienstleistungen) macht heute zwei Drittel aller Finanzgeschäfte. Braucht’s da überhaupt noch einen Menschen in der Bank? Ja – wegen des Vertrauens! Aber dieser Mensch muss wirklich menschlich sein, das Gegenteil einer Maschine. Heute sind wir in der Ausbildung immer noch auf dem Trip, den Menschen möglichst zu einer perfekten Maschine zu machen. Nein, sage ich. Wir müssen Anti-Maschine werden. Das wäre für mich wirklich eine Zukunft.

 

 faktuell.ch: Noch läuft es anders: Kundenkontakte finden zunehmend über Internet statt, Kundenanfragen werden von der elektronischen Assistentin bearbeitet. Es besteht die Gefahr, dass vor allem ältere Menschen vom sozialen Leben ausgegrenzt werden.

 

 Ludwig Hasler: Ich glaube, dass schon wieder eine Umkehr stattfindet. Der Kanadier David Sax hat ein tolles Buch geschrieben: «Die Rache des Analogen – warum wir uns nach realen Dingen sehnen». Er listet auf, was wieder im Kommen ist. Beispielsweise Vinyl-Schallplatten. Der Renner im letzten Weihnachtsgeschäft waren Werkzeugkisten. Wieder etwas von Hand machen. Interessant finde ich auch, dass die grossen Autobauer mit durchautomatisierter Fertigung wieder Leute anstellen. Begründung: Die Automatisation sei unfähig, sich zu entwickeln. Ein Roboter kann aus Erfahrung zwar lernen, aber er ist nie unzufrieden. Weshalb soll eine Blechkiste unzufrieden sein?

Der Roboter hat keinen Körper. Er weiss nichts von seiner Endlichkeit. Er weiss nicht, dass er übermorgen entsorgt wird. Er war noch nie verliebt, er war noch nie betrunken, er weiss nichts. Er ist ein perfekter Idiot. Dass dieser Roboter uns überflügeln sollte, ist absoluter Schwachsinn. Natürlich ist seine Rechenleistung grösser. Logisch. Obschon das menschliche Hirn ein absolutes Unikum ist im ganzen Kosmos, soweit wir ihn kennen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Wir haben 86 Milliarden Hirnzellen. Was wäre, wenn Vollbeschäftigung herrschen würde? Das wäre unglaublich. Die grösste künstliche Intelligenz hat eine Milliarde Neuronen, braucht aber ein halbes Atomkraftwerk Energie, um sich in Gang zu halten. Wissen Sie, was Ihr Hirn braucht? 20 Watt. Das ist das Geheimnis. Und das ist nur wegen des Körpers. Das heisst wir müssen «verkörperlichen», versinnlichen, wenn wir eine Zukunft wollen. Nur als Körper Mensch ist der Mensch besser; als Rechenmaschine – vergessen Sie es!

 

 Zur Person: Dr. Ludwig Hasler,

Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim „St. Galler Tagblatt“, dann bei der „Weltwoche“. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schweizweit bekannt für seine Vorträge.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses faktuell-ch-Gespräch hat im Mai 2017 stattgefunden.)

 


Stefan C. Wolter: "Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45"

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Bildungsökonom

 

faktuell.ch: Wir haben ein vorbildliches duales Bildungssystem in der Schweiz. Aber jährlich bleiben 10'000 Lehrstellen unbesetzt. Es entsteht der Eindruck, dass es Schülerinnen und Schüler reihum an die Universität zieht. Wie ist es tatsächlich, Herr Wolter?

 

Stefan Wolter: Die aktuelle Lehrstellenlücke ist vor allem eine demographische Konsequenz. Was den Sog an die Universitäten anbelangt, so ist festzuhalten, dass die Maturaquote in den letzten 20 Jahren praktisch unverändert geblieben ist. Von anfangs 1980er bis Mitte 1990er-Jahre stieg sie stark an und verdoppelte sich von 10% auf 20%, weil die Mädchen auf- und dann sogar überholten. Seit diesem Anstieg schwankt die Maturaquote immer um die 20%. Eintrittsticket an Uni ist die Maturität und die wird gesamtschweizerisch immer noch restriktiv vergeben.

 

faktuell.ch: Sie haben 2015 eine gross angelegte Bevölkerungsumfrage zu Bildungswünschen und -aspirationen durchgeführt...

 

Stefan Wolter: … wir haben 6000 Leute befragt. Wir wollten wissen, was sie für die ideale Ausbildung ihres Kindes halten.

 

faktuell.ch: Mit welchem Ergebnis?

 

Stefan Wolter: Zu meiner Überraschung schlägt die Lehre die Universität! Der Berufsbildungsweg ist immer noch «Number One» in der Schweiz.

 

faktuell.ch: Sinkt der Leistungsanspruch bei der Maturität, damit möglichst viele Jugendliche die Zulassung erhalten, wie böse Zungen behaupten?

 

Stefan Wolter: Die Quoten sind ja wie erwähnt stabil geblieben, damit kann nicht von einem sinkenden Leistungsanspruch ausgegangen werden. Zudem verfügen wir auch nicht über Leistungsmessungen über die Zeit, d.h. niemand kann es wissen. Was wir aber in unseren Bildungsberichten immer wieder thematisieren – ist der Umstand, dass zu einem zu grossen Teil die Falschen ans Gymnasium gelangen. Für Eltern mit guter Ausbildung, für Akademiker gibt es für den Nachwuchs tatsächlich nichts anderes als die Universität. Auch wenn das Kind die Leistungen nicht bringt, muss es trotzdem auf Biegen und Brechen an die Universität.

 

faktuell.ch: In welcher Grössenordnung setzen ehrgeizige Eltern privates Geld ein, um ihren Nachwuchs für die Uni fit zu machen?

 

Stefan Wolter: Mit Geld beziffern lässt sich das nicht. Wir wissen aber seit kurzem, wie viel Kinder Nachhilfeunterricht nehmen. Im 8./9. Schuljahr ist es ein Drittel. Das ist viel! Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler braucht sogar Langzeit-Nachhilfe. Da ist eine sozioökonomische Abhängigkeit klar vorhanden. Die Intensität des Nachhilfeunterrichts ist in jenen Kantonen besonders hoch, in denen der Zugang zum Gymnasium noch über Prüfungen und Vorschlagsnoten reglementiert wird. In den Kantonen, in denen der Zutritt am grünen Tisch entschieden wird, sagt man einfach „Ich will ins Gymnasium“, dann kommt man ins Gymnasium und braucht auch keine Nachhilfestunden. Im ersten Jahr fällt man dann allerdings schon durch oder muss repetieren. Ähnlich wie beim Medizinstudium. Da kennen die Deutschschweizer Kantone den Numerus Clausus mit Eignungstest und an den Westschweizer Universitäten kann jedermann studieren, wird aber spätestens nach dem zweiten Jahr rausgeschmissen, wenn er oder sie es nicht bringt.

 

faktuell.ch: Volkswirtschaftlich nicht gerade sinnvoll?

 

Stefan Wolter: Jaaa… darüber gibt es viele Diskussionen. Die Universitäten Genf und Lausanne begründen dieses Vorgehen damit, dass es gerechter sei, wenn ein Student ein Jahr lang seine Eignung unter Beweis stellen kann als nur beim eintägigen Test. Für mich sind allerdings die Kosten für ein Jahr verlorene Zeit zu hoch!

 

faktuell.ch: Wie sieht es in der Bildung mit der Chancengleichheit aus.
Reicht die Förderung der Lehrerschaft, Kinder aus einem nichtakademischen, gar bildungsfernen Elternhaus eine tertiäre Ausbildung zu vermitteln?

 

Stefan Wolter: Chancengerechtigkeit ist, wie bereits beim Zugang zum Gymnasium erwähnt, leider noch nicht überall gegeben. Allerdings sind unterschiedliche Bildungswege nicht nur auf Probleme bei der Chancengerechtigkeit zurückzuführen, es gibt auch Unterschiede bei den Bildungsaspirationen und –wünschen. So sind beispielsweise Erstgenerations-Ausländer mit unserem Bildungssystem noch wenig vertraut und orientieren sich nach dem Herkunftsland. Selbst Eltern, die auch aus Ländern mit einer Berufsbildungstradition kommen, müssen deswegen auch eine Präferenz für die Schweizer Lehre haben. Unsere Daten zeigen beispielsweise, dass gerade deutsche Einwanderer ihre Kinder gar nicht in die Lehre schicken wollen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Abiturquote in Deutschland sich der 50% Marke nähert, d.h. dort ist die Lehre schon ein Auslaufmodell. Wenn der Weg zum staatlichen Gymnasium verbaut ist, dann haben die Eltern das Geld, um eine private Alternative zu zahlen. Und das tun sie auch!

 

faktuell.ch: Welche Ausbildung rentiert volkswirtschaftlich am meisten?

 

Stefan Wolter: Das hängt von der Sichtweise ab. Aus fiskalischer Sicht lautet die Frage: Wer zahlt am meisten zurück von dem was in seine Ausbildung investiert wurde. Aus persönlicher Sicht: Rentiert sich die Ausbildung für mich? Die private Rendite bezogen auf die Bildungsjahre ist momentan bei Fachhochschulen und bei höherer Berufsbildung am höchsten. Denn die Ausbildungsgänge sind in einer relativ kurzen Zeit absolviert und es lässt sich damit ein gutes Einkommen generieren. Die Uni schneidet schlechter ab, nicht weil die Löhne absolut gesehen tiefer liegen, sondern weil man viel mehr Bildungsjahre gebraucht hat, um den erwarteten Lohn zu erzielen. Kurz: Mit einem Bachelor an einer Fachhochschule kann man praktisch dasselbe Einkommen erzielen wie mit dem Master an einer Universität.

 

faktuell.ch: Was raten Sie einem jungen Menschen, der möglichst schnell möglichst viel verdienen will?

 

Stefan Wolter: Bezüglich des Studienfachs kann ich keine grossen Ratschläge machen, da kennen wir die Löhne nur bis fünf Jahre nach dem Abschluss. Aber das ist gerade in einer akademischen Laufbahn noch nicht das Ende der Geschichte. Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45. Zwischen 25 und 45 liegt man mit dem Lohn unter oder auf gleicher Höhe wie mit anderen tertiären Abschlüssen. Dann werden die Einkommen höher bis zur Pensionierung. Aber mit diesen Kenntnissen können wir keine Ratschläge für eine Lebensperspektive geben.   

 

faktuell.ch: Warum werden nicht nur Studiengänge finanziert, von denen Wirtschaft und Staat profitieren können?

 

Stefan Wolter: Man weiss jeweils nur aus Vergangenheitsbetrachtung, was rentiert hat. Zu meiner Zeit wäre Linienpilot bei der Swissair wohl das non plus ultra gewesen. Piloten hatten eine Villa und gingen früh in Pension. Auch Journalist war ein gut bezahlter und angesehener Beruf. Aber an den Beruf des Informatikers dachte man damals nicht im Ansatz. Es entstehen also immer neue Berufe, die beim Studieneintritt noch gar nicht auf dem Radar waren oder von denen man noch nicht wusste, wie vielversprechend sie sein würden. Und Berufe, die super aussahen, versinken in die Bedeutungslosigkeit. Nichts gegen Piloten, aber heute sagt man „fliegende Tramchauffeure“...

 

faktuell.ch: … und der Nimbus schwindet…

 

Stefan Wolter: … auch noch. Man muss aber in der Beurteilung auch berücksichtigen, dass viele Studiengänge gar nicht eindeutig mit einem Beruf verbunden sind. Jemand kann Philosophie mit Schwerpunkt Logik studieren – ein schwieriges Gebiet. Was damit nach dem Studium anfangen? Finanzanalyse wäre eine Möglichkeit. Damit verdient sich ein Haufen Geld und die Tätigkeit ist der Gesellschaft und Wirtschaft auch dienlich. Das Studienfach allein entscheidet also nicht über den beruflichen Erfolg. Was konkret aus unseren Daten hervorgeht: Geistes- und Sozialwissenschaftler haben eine heterogenere Verteilung des Erfolgs nach dem Studium. Jobs für diese Leute sind begrenzt. Nur wer ausgezeichnet abgeschnitten hat, erhält geeignete Arbeit. Dann allerdings verdient er gleich viel wie jemand, der Naturwissenschaften oder exakte Wissenschaften studiert hat. In diesen Fächern haben auch Studienabsolventen recht gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt wenn sie im Studium schlecht abgeschnitten haben. Geistes- und Sozialwissenschaften führen somit nicht per se zu schlechten Arbeitsmarktergebnissen, sondern sind nur mit einem höheren Risiko behaftet nicht dort und zu den Bedingungen arbeiten zu können, wie man sich dies bei der Studienwahl vorgestellt hatte…

 

faktuell.ch: ... beispielsweise in der Bundesverwaltung zu arbeiten?

 

Stefan Wolter: Tatsächlich ein wichtiger und interessanter Punkt! Der grösste einzelne Arbeitgeber für Akademiker ist der Staat. Der Staat beschäftigt Akademiker praktisch aller Studienfächer. Er zeichnet sich gegenüber der Privatwirtschaft aber dadurch aus, dass man bei ihm i.d.R. kleinere Bildungsrenditen erzielt. Das hat damit zu tun, dass der Staat eine viel kleinere Lohnspreizung hat als die Privatwirtschaft. Mit andern Worten: Wenn der Staat in die Studienwahl eingreifen würde, in dem er beispielsweise die gesamten Studienkosten auf die Studierenden überwälzen würde, müsste er auf der Lohnseite aktiv werden. Sonst würden ihm aufs Mal die Leute fehlen, die er selbst anstellen will. Der ehemalige Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, Hansueli Stöckling pflegte dazu jeweils sinngemäss zu sagen: „Wenn der Staat die Studienkosten dem Studenten anhängen würde, dann könnte er keinen Veterinär mehr einstellen.“ Und das stimmt heute noch.

 

faktuell.ch: Die CS hat eine Studie in Auftrag gegeben, die Aufschluss über die Lebensweise junger Menschen gibt. Wichtig sind für sie Geld, Status und Konsum. Die Jugendlichen wollen später im Beruf zwar viel Geld, aber auch viel Freizeit. Wenn der Chirurg nur 50% arbeitet, um viel Quality Time mit seinen Kindern zu verbringen, dann wird sich die staatliche Investition in seine Ausbildung nie lohnen. Wie lässt sich das Problem lösen?

 

Stefan Wolter: In der Schweiz ist die fiskalische Rendite für praktisch alle Ausbildungstypen positiv. Wenn der Staat einem jungen Menschen die tertiäre Ausbildung bezahlt und der nach dem Ausbildungs-Abschluss Vollzeit arbeitet, dann muss sich die Gesellschaft keine Sorgen machen. Sie kann auch einem Studenten aus gutem Haus die Ausbildung finanzieren, weil sie über Steuern, insbesondere die Steuerprogression, alle ihre Investitionen mit Zins und Zinszinsen zurückerhält. Wenn ein Studien-Absolvent aber nicht Vollzeit arbeitet, dann ist es für den Staat und somit auch die Gesellschaft schnell ein Verlustgeschäft.

 

faktuell.ch: Ausbildung ist doch ein Menschenrecht…

 

Stefan Wolter: … aber nicht alle haben den gleichen Zugang zu diesem Recht und wenn sich jemand seine Bildung von der Gesellschaft bezahlen lässt, und dann freiwillig darauf verzichtet, Vollzeit oder überhaupt zu arbeiten, dann überbürdet er die Bildungskosten der Gesellschaft ohne ihr etwas zurück zu geben. Damit käme es zu einer nicht vertretbaren Finanzierung von unten nach oben, die sicherlich nicht gerecht wäre.  

 

faktuell.ch: Weshalb nicht eine Bedingung an die Ausbildung knüpfen - wie bei den Militärpiloten. Die Ausbildung kostet eine Million und als Gegenleistung haben sie mindestens 5 Jahre bei der Luftwaffe zu dienen.

 

Stefan Wolter: Das wäre eine Möglichkeit. In andern Ländern wird sie schon praktiziert. In Australien häuft der Student ein virtuelles Schuldenkonto an und muss den vollen Betrag zurückbezahlen. Mit ungefähr 40 ist er dann schuldenfrei. Im kanadisch-amerikanischen Modell macht man es umgekehrt. Der Student trägt die Kosten von vorneweg und wenn er es sich nicht leisten kann, nimmt er einen Kredit auf. Ich bin gegen dieses Modell, weil es wieder zu einer Chancen-Ungleichheit führt. Abgeschreckt von den Schulden, verzichten viele auf ein Studium.

 

faktuell.ch: Wie sieht das übertragen auf die Schweiz aus?

 

Stefan Wolter: Noch bezahlt die Mehrheit in der Schweiz durch Arbeitstätigkeit ihr Studium zurück, also besteht meiner Meinung nach für die Mehrheit der Studierenden auch kein Handlungsbedarf. Aber man könnte eine Notfalllösung einführen und sagen, wer freiwillig nicht arbeitet, muss die Studienkosten akonto zurückzahlen. Das würde auch als Anreiz dienen zu arbeiten.

 

faktuell.ch: Paradox ist, dass wir in der Schweiz zu wenig Fachleute haben.

 

Stefan Wolter: Ja. Wir haben auf der einen Seite Leute, die ausgebildet sind, aber nicht arbeiten wollen, und auf andern Seite haben wir Fachkräftemangel. Bisher war das kein Problem, wir haben die Fachleute aus dem Ausland geholt. Wenn wir jetzt keine Ausländer mehr wollen, müssen wir das Problem anders lösen.

 

faktuell.ch: Ohne Diplome scheint heute nichts mehr zu gehen. Nehmen wir den Sozialbereich. Der Sozialarbeiter mit fürsorgerischer Frontarbeit ist – plakativ gesagt – ersetzt worden durch den Case-Manager auf dem Bürostuhl. Was bringt das den Klienten, der Gesellschaft?

 

Stefan Wolter: Man kann nicht am Berufsbedürfnis vorbei reglementieren. Die Berufe werden anspruchsvoller und durch die Ansiedlung auf tertiärem Niveau kann man auch deren Spektrum erweitern. Es reicht nicht mehr, dass man einen Sozialarbeiter ausbildet, damit er einen Jugendtreff leiten kann. Er muss eine Job-Perspektive haben, damit er – wenn er mit 40 genug vom Jugendtreff hat – auch in eine Kaderposition in einer Sozialbehörde aufsteigen kann. Dazu braucht er aber auch Kenntnisse von unserem Rechtssystem oder vom Personalwesen.

 

faktuell.ch: Das verhindert doch die Anstellung von Leuten, die eine Aufgabe mit natürlicher Affinität und gesundem Menschenverstand angehen. Warum kann der Sozialarbeiter den Jugendtreff nicht leiten so lange es ihm gefällt und dann einen Eignungstest für Weiterbildung machen?

 

Stefan Wolter: Unser Bildungswesen hat heute schon über die höhere Berufsbildung viele Möglichkeiten sich in einem Beruf ständig weiter zu qualifizieren. Daneben ist aber zu beachten, dass wir den Jugendlichen von heute mit der Berufsmaturität auch die Möglichkeit geben ohne sehr grosse Umwege zu einer tertiären Ausbildung zu gelangen, d.h. man muss auch Job-Profile schaffen, die auf diese jungen Leute zugeschnitten sind.

 

faktuell.ch: Aber ist es nicht so, dass die Berufe ohne Grund „verakademisiert“ werden?

 

Stefan Wolter: Ich denke nicht. Lassen Sie mich das am Beispiel der viel kritisierten Tertiarisierung des Lehrberufs machen: Auch wenn ein Primarlehrer oder eine Primarlehrerin einem Erstklässler „nur“ erste Schritte in Mathematik beibringen will, muss sie mehr mitbringen als „Ich habe es selber gelernt“. Schülerinnen und Schüler sind ganz unterschiedlich strukturiert. Nicht nur von ihren Fähigkeiten, sondern auch von ihrem Zugang zur Materie her. Die Lehrerin muss auf Meta-Ebene wissen, wie sie den unterschiedlichen Lern-Typen den Lerninhalt vermitteln muss. Wenn sie das nicht kann, lässt sie vielleicht mehr als die Hälfte der Schüler zurück. Und bevor sie denselben Lerninhalt unterschiedlich vermittelt, muss sie oder er noch Diagnostik beherrschen. Man muss herausfinden, welches Bedürfnis welcher Schüler hat: Hat ein Kind einen Lernrückstand? Braucht es besondere Zuwendung? Ist es hochbegabt und braucht einen zusätzlichen Lerninhalt? Dazu braucht man eine tertiäre Ausbildung.  Man kann die Lehrpersonen nicht mehr jahrzehntelang dem „learning by doing“ überlassen. Dann hätten sie bereits zu viele Jahrgänge potentiell mit „trial and error“ verloren.

 

faktuell.ch: Hat man sich vor 20, 30 Jahren mit einer nicht adäquaten Ausbildung zufrieden gegeben oder ist die Gesellschaft und damit die Bildung heute schlicht komplexer?

 

Stefan Wolter: Natürlich sind die Anforderungen komplexer geworden. Ich glaube aber eher, dass wir uns früher einfach mit weniger und schlechteren Ergebnissen zufriedengegeben haben. Dass Migranten im Unterricht nicht mitkamen, war eben weil sie Migranten waren und nicht, weil man die falsche Pädagogik und Didaktik anwendete oder falsch diagnostiziert hatte.

 

faktuell.ch: Im Gymnasium und an der Universität sind eigenständiges Lernen und damit Eigenverantwortung angesagt. Das heisst heute vorwiegend Informationsbeschaffung im Internet und via Social Media. Wie soll dies im so genannten postfaktischen Zeitalter noch möglich sein, in dem fake-news und Filterblasen – Facebook und Google zeigen dem Leser nur was seinem Weltbild entspricht – seriöse Information ersetzen?  

 

Stefan Wolter: Selbststudium gehört zur intellektuellen Entfaltung. Eigenständiges Lernen heisst aber nicht, dass die Studenten allein gelassen werden. Als Dozent muss ich ihre Defizite erkennen, sie anleiten, zur Eigenständigkeit erziehen. Der Zugang zum Wissen war noch in den 1980er-Jahren schwierig und teuer. Wissen war einer Elite vorbehalten und diese Elite hat uns mit dem ausgebildet was sie wusste und für richtig befand. Als Studenten waren wir unseren Professoren ausgeliefert. Und mehr oder weniger dazu verdammt zu glauben, was sie einem sagten. Das war ein Nachteil. Dem Nachteil der leicht zugänglichen Gratisinformation im Internet, dass sie falsch sein kann, steht der Vorteil gegenüber, dass leicht und schnell überprüfbar ist, ob auch stimmt, was ein Lehrer oder Dozent erzählt. Wenn ich bei einer Vorlesung einen Begriff verwende und ein Student mir sagt, Google meine dazu etwas Anderes, dann ist das nicht schlecht. Der Student setzt sich kritisch mit dem Thema auseinander und glaubt nicht einfach, was ich da vorne erzähle.

 

faktuell.ch: Welches ist denn heute die Hauptaufgabe der Lehrpersonen und der Dozierenden, wo sich die Schüler und Studenten die Informationen selbst besorgen können?

 

Stefan Wolter: Wir müssen ihnen beibringen, woran man richtige und falsche Information erkennt. Das ist mehr als nur „Medienerziehung“. Dazu würde ein Geschichtsstudent „Quellenstudium“ sagen. Also das Original finden und sich nicht auf ein Werk verlassen, das der Autor anhand unzähliger Quellen verfasst hat. Was früher nur Geschichtsstudenten leisten mussten, sollte heute jeder Student und jeder Bürger tun. Internet ist ein Riesenvorteil und diesen Vorteil erkauft man sich mit „noise“ – Informationen, die im Hintergrund herumschwirren und in denen viele Fehler stecken. Ich habe heute also hohe Kosten, weil ich herausfinden muss, was stimmt, dafür finde ich die Informationen deutlich schneller.

 

faktuell.ch: Welches ist denn die wichtigste Kompetenz, die Studierende brauchen, um sich im Bildungswesen durchsetzen zu können?

 

Stefan Wolter: Die heutige Forschung sagt, dass es die gleichen Fähigkeiten sind, die man auch sonst im Leben und bei der Arbeit braucht:  eine hohe Aufmerksamkeitsspanne und Hartnäckigkeit. Das sind Fähigkeit, die man üben muss und kann, sie sind nicht einfach angeboren.

 

faktuell.ch: Junge Menschen wollen Geld, Konsum und Status. Karriere macht sich vorzugsweise global, am besten im Silicon Valley. Die Schweiz finanziert das Studium, hat aber nichts davon. Wie sehen Sie das?

 

Stefan Wolter: Momentan sind wir eher die Netto-Gewinner beim globalen Braindrain, d.h. wir haben ein „Braingain“. Mehr Ärzte, die in einem anderen Land für Millionen ausgebildet worden sind, kommen in die Schweiz, um zu arbeiten, als beispielsweise Schweizer Ärzte auswandern.

 

faktuell.ch: Aber wie steht es mit dem Ehrgeiz der Schweizer Uni-Absolventen, im Silicon Valley rasch Millionär zu werden?

 

Stefan Wolter: Ehrzeiz ist nicht schlecht und Informatikausbildung auch nicht, aber das Silicon Valley ist wie das Hollywood der Wirtschaft. Für die meisten nur ein Traum. Nur wenige schaffen es. Im Silicon Valley gibt es ein grosses Proletariat, über welches die Medien wenig berichten. Jugendliche und auch ihre Eltern sehen häufig nicht, dass man eher im Lotto gewinnt als dort Millionär wird.

 

faktuell.ch: Und was ist mit den Jugendlichen, die es auch ohne Ausbildung zu Ruhm und Reichtum bringen wollen?

 

Stefan Wolter: Wir haben TV-Sendungen wie «Die Schweiz sucht den Superstar». Das sind bildungsmässig desaströse Programme. Denn es wird den Leuten vorgegaukelt, dass man es auch ohne Ausbildung – sei es in dem gewünschten Fach oder allgemein – an die Spitze schaffen kann. Lehrerinnen und Lehrer versuchen täglich zu vermitteln, dass im Leben nichts aus einem wird, wenn man nicht lernt. Diese Botschaft wird ständig konterkariert mit medial vermittelten Beispielen von Leuten, die es ohne Bildung zu etwas bringen. Sicher, man kann sozial und finanziell auch ohne Bildung Erfolg haben, nur ist die Wahrscheinlichkeit winzig klein.  

 

faktuell.ch: Eine neue Herausforderung ist die Migration. Welche Art von Bildungsoffensive ist angesagt, um Analphabeten und Verweigerer, aktuell zum Beispiel muslimische Frauen, marktfähig zu machen?

 

Stefan Wolter: Bei der legalen Arbeitsmigration sehen wir eine Polarisierung. Wir sehen eine Einwanderung von mehr als doppelt so vielen unqualifizierten Leuten als wir sie schon im Land haben. Gleichzeitig haben wir auch eine viel grössere Anzahl sehr gut ausgebildeter Migranten, aber die Mitte fehlt. Das ist verständlich. Unten holen wir Leute rein für Arbeiten, die wir selber nicht machen wollen. Oben holen wir Spezialisten rein für Funktionen, die uns fehlen. Statt zehn Jahre zu warten, bis wir die Spezialisten selber ausgebildet haben, nehmen wir sie aus dem Ausland. Hingegen das mittlere Spektrum der Qualifikationen können wir gut im Inland abdecken und haben wenig Bedarf nach Ausländern.

 

faktuell.ch: Und was bedeutet dies für die Ausbildung?

 

Stefan Wolter: Da gibt es eine Polarisierung. Die „unten“ haben das Gefühl, dass ihnen die Ausländer die Arbeitsplätze wegnehmen, und „oben“, an der Zürcher Goldküste, stöhnen Schweizer Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr ins Gymnasium können wegen der Migranten.

 

faktuell.ch: Dann haben wir die Flüchtlinge, die Asylbewerber…

 

Stefan Wolter: … die aktuelle Flüchtlingskrise ist glücklicherweise noch nicht ein sehr grosses Problem für die Schweiz. Was daraus noch wird, ist aber schwierig abzuschätzen. Jede Flüchtlingsgeneration nach dem 2. Weltkrieg hat sich komplett unterschieden. Tibeter, Ungarn, Tschechen, Tamilen in den 80er-Jahren, die Vertriebenen nach dem Kosovo- und Exjugoslawien-Krieg, heute arabische Flüchtlinge aus dem Raum Syrien, afrikanische Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea. Der Ausbildungsbedarf war bei jeder Flüchtlingswelle anders, ebenso die Motivation der Leute. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gab es früher nicht. Ich sehe das Problem, dass wir wenig von der Erfahrung, die wir mit früheren, grösseren Flüchtlingsströmen machten, auf die heutige Situation übertragen können – eben weil sich die Art der Flüchtlinge unterscheidet. Eine kulturelle Integration ist sicher das A und O. Aber nicht alle haben die Absicht, länger als nötig hier zu bleiben.

 

faktuell.ch: Integration erfolgt in erster Linie über die Sprache. Die Ressourcen sind allerdings beschränkt. Im Kanton Zürich hat die Bildungsdirektion beschlossen, die Mittel für Deutsch- und Analphabeten-Kurse per 2017 für drei Jahre zu streichen. Sparmassnahmen! Was halten sie davon?

 

Stefan Wolter: Das kann ich nicht verstehen. Die Sprache ist nicht nur wichtig für die Integration, sondern auch zur Verhinderung einer Ghettoisierung. Die Integration gelingt am besten dort, wo die Leute möglichst fern von Landesgenossen angesiedelt werden, weil sie die Landessprache und Landesbräuche schneller lernen. So viel weiss man aus der Literatur über Migrantenströme. Wenn die Sprachbindung wegfällt, provoziert man einen Druck, die neue Sprache zu lernen. Es gibt auch keinen Beruf mehr, den man ohne Sprache ausüben kann. Auch so genannt unqualifizierte Berufe sind sprachlastig.

 

faktuell.ch: Was zeigt die Erfahrung?

 

Stefan Wolter: Ich habe schon vor 20 Jahren, als ich noch Chefökonom im BIGA war, Probleme mit Jugendlichen gehabt, die einen schlechten Sprachhintergrund hatten. Ein paar Jahre nach dem Jugoslawienkrieg waren sie in der Schweiz, fanden keine Lehrstelle und wir meinten, sie könnten doch etwas Unqualifiziertes machen, zum Beispiel Gleisarbeiter bei der SBB. Da sagte uns der SBB-Vertreter: “Und was ist, wenn ich denen sage, wenn ein Zug kommt, winke ich dann mit einem roten Fähnli und die verstehen mich nicht?“ Wir haben uns auch gesagt, Industriearbeiter könnten Leute ohne Kenntnisse der Landessprachen werden, weil die ja nur bestimmte Handgriffe zu machen haben. Schon wieder lagen wir falsch. „Nein“, lautete der Bescheid, „wir haben Schichtwechsel oder Produktionswechsel, dann steht das im Aushang. Als Firmenchef kann ich die Leute nicht in 40 Sprachen bedienen.“

 

faktuell.ch: Welchen volkswirtschaftlichen Beitrag leisten eigentlich die verschiedenen Generationen im Vergleich – Vorkriegsgeneration, 68iger, Babyboomer, Millennials?

 

Stefan Wolter: Es fragt sich, ob diese Generationen nur eine Erfindung der Journalisten sind. Wissenschaftlich gesehen gibt es die nicht. Kulturelle Verschiebungen in den Jahrgängen sind unbestritten. Aber ich glaube nicht, dass man Leute aufgrund ihres Geburtsjahres homogen beurteilen kann. Klar ist, dass der Mensch durch das geformt wird, was er erlebt. Wenn jemand seine Bildungsentscheidung in einer Zeit der Rezession treffen muss, tut er dies anders als derjenige, der sich in einer Zeit entscheidet, in der wirtschaftlich Milch und Honig fliesst, und er damit rechnen kann, dass jeder Entscheid zum Erfolg führt. Das kann schon ganze Generationen prägen und auch längerfristige Auswirkungen haben.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Stefan C. Wolter

Ist seit 1999 Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und somit auch für die Bildungsberichterstattung der Schweiz zuständig. Er leitet auch die Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern und unterrichtet als ständiger Gastdozent auch an der Universität Basel. Wolter vertritt die Schweiz seit 1995 in verschiedenen Gremien der OECD und ist seit 2011 Präsident von deren Expertengruppe für Berufsbildung.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Dieses Gespräch fand im November 2016 statt)


Martina Bircher: "Wer in Eritrea ohne Ausbildung an Motoren rumgeschraubt hat, findet hier in einer Garage keine Arbeit."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Martina Bircher, als Gemeinderätin der 7500-Personen-Gemeine Aarburg im Kanton Aargau zuständig für Soziales, Gesundheit und Jugend.

faktuell.ch: Frau Bircher, 200 der 400 Sozialhilfebezüger Ihrer Gemeinde sind Flüchtlinge – 170 aus Eritrea. Auf dem Papier sieht es so aus, als ob die Asylverordnung des Bundes bis hin zum Fingerabdruck jede Ausgabe mit Bundesgeld abdeckt. An sich sollten Sie zumindest finanziell sorgenfrei sein, solange der Bund zahlt. Sind Sie aber nicht – warum?

 

Martina Bircher:  Der Bund kommt für die ersten 5 respektive 7 Jahre ab Einreise in die Schweiz für diese Personen auf – aber nicht für alles. So ist es nicht. Die grosse Herausforderung sind die Kinder. Sobald die Eltern in Aarburg Wohnsitz haben, sind wir auch für die Kinder zuständig. Wir haben beispielsweise eine Familie mit zwei fremdplatzierten Kindern. Kosten pro Kind und Monat: 7000 Franken. Da sind uns die Hände gebunden. Wir haben einfach die 14‘000 Franken zu bezahlen.

 

faktuell.ch: … „fremdplatziert“ verursacht offenbar Kosten wie in einem Pflegeheim…

 

Martina Bircher: … genau.

 

faktuell.ch: Warum wurden die Kinder fremdplatziert?

 

Martina Bircher: Das wissen wir nicht. In der vorherigen Wohngemeinde muss die Kesb so entschieden haben.

 

faktuell.ch: Wie wurde Ihre Gemeinde als neue Wohngemeinde ausgewählt?

 

Martina Bircher: Es handelt sich um anerkannte, resp. vorläufig aufgenommene Flüchtlinge und die haben freie Wohnungswahl. Wenn sie einen Mietvertrag in Aarburg haben, sind sie hier registriert. In diesem spezifischen Fall sind die fünf Jahre noch nicht abgelaufen, bis dahin können wir die Kosten weiter an den Kanton verrechnen.

 

faktuell.ch: Sehen wir uns den Kreislauf an: Menschen kommen in die Schweiz, stellen einen Asylantrag, erhalten Status N und werden auf die Kantone verteilt. Der Kanton verteilt sie weiter an die Gemeinden, wo sie in einem Asylzentrum leben. In Aarburg ist dies eine Kantonsunterkunft. Sie haben also weder Kosten noch Aufwand…

 

Martina Bircher: … doch, wir haben als Gemeinde das Problem, dass die Kinder sofort die Schule besuchen müssen und kein Wort Deutsch sprechen. Wir haben auch zu wenig Schulraum. Unser Asylzentrum ist eine Familienunterkunft und hat 90 Plätze. Da kann es sein, dass aufs Mal zehn Kinder im gleichen Jahrgang sind, was dann eine zusätzliche Klasse erfordert, für die wir Raum, Schulbücher, Pulte, Stühle und Lehrer bezahlen müssen. In dieser Hinsicht werden wir als Gemeinde vom Kanton allein gelassen.

 

faktuell.ch: Die Kantone erhalten vom Bund im Schnitt je Flüchtling und Monat pauschal rund 1500 Franken, als ca. 50 Franken pro Tag. Davon erhalten die Gemeinden etwas mehr als 30 Franken – für Unterbringung, Sozialhilfe und Betreuung. Reicht das bei Ihnen nicht?

 

Martina Bircher: Nein. Der Bund zahlt immer Pauschalbeträge, die er regional nach den unterschiedlichen Wohnkosten berechnet und die reichen selten aus.

 

faktuell.ch: Was kommt hinzu?

 

Martina Bircher: Deutschkurse – viele müssen zuerst das Alphabet lernen –, Kinder, Fremdplatzierungen, Familienbegleitung etc. Die Differenz bezahlt bei uns die ersten 5/7 Jahren der Kanton und dann die Wohngemeinde. Neu müssen wir als Gemeinde ab dem nächsten Jahr die Sozialhilfe zunächst voll selber bezahlen. Die Ausgaben fliessen dann in die Berechnung ein, wieviel uns aus dem kantonalen Finanzausgleich zusteht. Gegenwärtig ist es so, dass wir als Gemeinde mit vergleichsweise extrem hohen Sozialhilfe-Lasten fast 50 Prozent der Kosten vom Kanton zurückerhalten. Gemeinden, die weniger Sozialhilfebezüger haben, erhalten keine Rückvergütungen.

 

faktuell.ch: Klingt alles heillos kompliziert. Wann kommen die Ansätze gemäss den sogenannten Skos-Richtlinien hinzu?

 

Martina Bircher: Wer anerkannter oder vorläufig aufgenommener Flüchtling ist, hat innerhalb des Kantons freie Wohnungswahl. Er meldet sich an, bezieht eine Wohnung und ab diesem Zeitpunkt ist er jedem Schweizer in Sachen Sozialansprüche gleichgestellt. Er erhält nicht mehr wie in der Asylunterkunft 7 bis 9 Franken pro Tag, sondern 1000 Franken pro Monat nach Skos-Richtlinien. Und jetzt finanziert ihm der Bund via Kanton eine einmalige Integrationspauschale von 6500 Franken.

 

faktuell.ch: Damit die Integration Fortschritte machen kann, fordert die Skos eine Verdreifachung der Integrationspauschale. Darüber können Sie sich freuen.

 

Martina Bircher: Alle wissen, dass die meisten Flüchtlinge mit grösster Wahrscheinlichkeit in der Schweiz bleiben werden. Deshalb sollen die Integrationsbemühungen verstärkt werden. Daran ist soweit nichts auszusetzen. Das Problem sehe ich in der hohen Anerkennungsquote. Das Staatsekretariat für Migration anerkennt rund 60 Prozent der Asylbewerber als vorläufig aufgenommene Flüchtlinge oder als Flüchtlinge. Und weitere 20 Prozent erhalten den Status als vorläufig aufgenommene Ausländer. Aber auch die werden nicht in ihre Heimat zurückgehen.

 

faktuell.ch: Was hält „den Flüchtling“ davon ab?

 

Martina Bircher: Der anerkannte Flüchtling bleibt, weil er relativ schnell eine Niederlassungsbewilligung erhält, der vorläufig aufgenommene Flüchtling kann nach fünf Jahren in der Schweiz das Gesuch stellen, als Flüchtling anerkannt zu werden, und bleibt also auch. Der vorläufig aufgenommene Ausländer kann nach 5 Jahren ein Härtefallgesuch stellen und dann wird auch er als Flüchtling anerkannt.

faktuell.ch: Sind die unterschiedlichen Ausweise folglich gar sinnlos?

 

Martina Bircher: Sehr speziell finde ich, dass die Eritreer als Flüchtlinge anerkannt werden und den B-Ausweis erhalten. Die Begründung lautet, dass jeder von ihnen persönlich an Leib und Leben bedroht ist. Syrer sind vorläufig aufgenommene Flüchtlinge mit F-Ausweis. Diesen Status sieht der Bund für Leute aus Kriegsgebieten vor, die bis Kriegsende hier in Sicherheit leben und sich dann in der Heimat am Wiederaufbau beteiligen können. Iraker und Afghanen sind vorläufig aufgenommene Ausländer, ebenfalls mit F-Ausweis, die man nicht zurückschicken kann, weil sie das Land nicht mehr aufnimmt...

 

faktuell.ch: … und wie wirkt sich das auf Ihre Gemeinde aus?

 

Martina Bircher: Beim anerkannten Flüchtling, Status B, ist die Sozialhilfequote am höchsten, weil er auf Familiennachzug Anrecht hat, auch wenn er von der Sozialhilfe lebt. Der vorläufig aufgenommene Flüchtling, Status F, kann nur Familiennachzug (Eltern, Ehepartner, Kinder) geltend machen, wenn er nicht mehr von der Sozialhilfe lebt. Für ihn ist der Anreiz zu arbeiten folglich grösser. Das spüren wir bei uns.

 

faktuell.ch: Wie lang kann Aarburg die Flüchtlingsausgaben noch stemmen?

 

Martina Bircher: Ohne Finanzausgleich wäre Aarburg bereits heute zahlungsunfähig. Wir geben für Sozialhilfe im Jahr durchschnittlich fünf Millionen Franken aus.

 

faktuell.ch: Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

 

Martina Bircher: Die Sozialhilfeausgaben werden steigen. Eritreer stellen am meisten Gesuche und haben die höchste Anerkennungsquote. 2007 wohnte kein einziger eritreischer Flüchtling in Aarburg, heute sind es mit Zuzug und Geburten 170.

 

faktuell.ch: Wie viele von ihnen arbeiten?

 

Martina Bircher: Zehn Prozent. Vorwiegend alleinstehende Männer. 90 Prozent leben von der Sozialhilfe. Angeblich waren sie in Eritrea alle Schafhirten. Es fehlt generell an brauchbaren Qualifikationen. Wer in Eritrea ohne Ausbildung an Motoren rumgeschraubt hat, findet hier in einer Garage keine Arbeit. Unsere Automechaniker sind halbe Informatiker.

 

faktuell.ch: In jüngster Zeit sind die Hilfswerke in die Kritik geraten, die bis zum Wechsel aus der Bundesobhut mit der Betreuung der Asylanten mandatiert werden.

 

Martina Bircher: Hilfswerke sind keine Institutionen, die den Leuten auf die Füsse treten, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Dass die Hilfswerk-Mitarbeitenden immer helfen wollen, ist ja schön und gut, aber gerade bei den Eritreern funktioniert meist nur autoritäres Auftreten, „Könntest du“ und „Würdest du“ funktioniert nicht, weil sie das in Eritrea wohl auch nicht kennen.

 

faktuell.ch: Wenn die Leute von den Hilfswerken übergeben werden, wäre es zielführend, sie wären RAV-fähig.

 

Martina Bircher: Sind sie aber nicht! Beim RAV wird ein gewisses Deutsch-Niveau erwartet. Erst wenn es – zertifiziert – vorhanden ist, kann man jemanden überhaupt erst anmelden. Und solange man jemanden dort nicht anmelden kann, findet er auch keinen Job. Von 172 Eritreern ist bei uns gerade mal einer beim RAV angemeldet. Deshalb macht unser Sozialamt jetzt mit jedem Flüchtling eine Zielvereinbarung. Ein erstes Ziel kann sein, dass der Flüchtling jeden Tag den Deutschkurs besucht. Oder dass er pünktlich ist. Dann hat man ein erstes Feedback und weiss, in welcher Klasse er ist und wann wir ihn beim RAV anmelden können.

 

faktuell.ch: Stichwort „Mentalitätsunterschiede“. Wie sieht es damit zum Beispiel vor dem Hintergrund der Integration in den Arbeitsprozess bei Eritreern und Syrern aus?

 

Martina Bircher: Als wir in Aarburg vor einiger Zeit auf öffentlichem Boden Abfall einsammelten, führte ich eine Gruppe von Eritreern und Syrern aus dem Asylzentrum. Die Syrer arbeiteten und die Eritreer fanden das Ganze eher lustig und hatten einfach den Plausch. Bei den Syrern gibt es dafür andere Probleme: Das Frauenbild. Bei dieser Abfall-Aktion kamen auch Frauen mit. Aber nur die Männer hoben den Abfall mit der Zange auf, die Frauen gingen neben ihnen her.

 

faktuell.ch: Flüchtlinge befinden sich in einer Notsituation. Kann man sie nicht dazu anhalten, den Kinderwunsch etwas zurückzustellen?

 

Martina Bircher: Dreinreden dürfen wir nicht. Immerhin erhalten die Frauen im Kanton Aargau die Pille gratis. Nach der Geburt eines Kindes schicken wir die Eltern in eine Väter- und Mütterberatung, wo Verhütung auch immer ein Thema ist. Es werden auch Schwangerschaftsvorbereitungs-Kurse angeboten – in allen Sprachen. Aber eben, wir haben es mit einer andern Mentalität zu tun. In Afrika sind Kinder statt einer AHV die Altersvorsorge. Hinzu kommt, dass hier in der Schweiz mehr Kinder die Position innerhalb der Sozialhilfe verbessern. Es gibt mehr Geld und man ist vor Sanktionen geschützt. Wenn wir einem Paar mit vier, fünf Kindern die Beiträge kürzen wollen, weil sie sich nicht an die Regeln halten, dann gilt das nicht für die Kinder. Kürzen dürfen wir nur den Erwachsenen.

 

faktuell.ch: Nach den neuen SKOS-Richtlinien wird ab sechs Personen pro Familie nicht mehr linear erhöht.

 

Martina Bircher: Wir haben Familien, in denen Grosseltern, Eltern und vier Kinder leben.

 

faktuell.ch: Damit erhält die Grossfamilie mehr Geld, als sie mit Erwerbstätigkeit der Eltern verdienen könnte.

 

Martina Bircher: Das ist so, ja. Das Problem liegt bei den Zusatzleistungen. Der Betrag, den die Leute auf Sozialhilfe erhalten, ist steuerfrei. Der Zahnarzt wird zusätzlich bezahlt, bei der Krankenkasse werden Franchise und Selbstbehalt bezahlt. Im Gegensatz zum Erwerbstätigen fallen beim Sozialhilfebezüger keine zusätzlichen Kosten an. Wenn der Familienvater 4500 Franken im Monat verdient, überlegt er sich zweimal, ob er sich eine Zahnfüllung für 500 Franken leisten kann. Dieses Problem hat der Sozialhilfeempfänger nicht. 

 

faktuell.ch: Wie setzen sich die Sozialhilfe-Empfänger bei Ihnen in Aarburg zusammen?

 

Martina Bircher: Etwa 25 Prozent sind Schweiz, 30 bis 35 Prozent Ausländer, der Rest ehemalige Asylbewerber. Insgesamt haben wir 400 Sozialhilfeempfänger.

 

faktuell.ch: Spüren sie zwischen jenen, die aus widrigen Umständen in die Sozialhilfe abgerutscht sind, zuvor aber jahrelang in die Sozialversicherungen eingezahlt haben, und Asylanten, die ohne Vorleistungen die gleichen Ansprüche haben, Animositäten?

 

Martina Bircher: Ja, das spüren wir. Ich erhalte auch entsprechende Briefe. Die Schweizer, aber auch die andern Ausländer, die hier leben und gearbeitet haben,  sind gegenüber den Flüchtlingen schlechter gestellt. Sobald einer als Flüchtling anerkannt ist, gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, die besagt, dass ein Flüchtling den Einheimischen gleichgestellt ist, also Anspruch auf Sozialhilfe in derselben Höhe hat. Auch wenn es um Verwandten-Unterstützung geht, ist der Flüchtling bessergestellt, weil der keine Verwandten hat, die für ihn zahlen können; der Schweizer oder ein hier lebender Ausländer meistens aber schon. Zudem muss ein Schweizer oder Ausländer, der wieder einen Job findet, die Sozialhilfeleistungen der Gemeinde zurückzahlen. Bei den Flüchtlingen kann man das vergessen. Sie schaffen es auch nicht ansatzweise, die grossen Beträge zurückzuzahlen.

 

faktuell.ch: Und die Schweizer zahlen tatsächlich zurück?

 

Martina Bircher: Ja. Das muss sein, sonst sind wir unglaubwürdig. Wir haben in Aarburg eine 40-Prozent-Stelle geschaffen, die prüft, wo wieviel Geld als Rückerstattung fällig ist. Es sind 120‘000 bis 150‘000 Franken pro Jahr.

 

faktuell.ch: Die Verpflichtung, die aufgelaufenen Schulden zurückzuzahlen, ist nicht gerade ein Anreiz, wieder zu arbeiten.

 

Martina Bircher: Aber nur weil die Meisten heute eine Anspruchsmentalität haben, eigentlich wäre Sozialhilfe quasi eine vorübergehende Nothilfe.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfekosten für die ganz grossen Flüchtlings-Kontingente der Jahre 2014 bis 2016, rund 45‘000, kommen ab 2019 bis 2021 auf Sie zu. Hat es in Ihrem Budget noch Luft nach oben?

 

Martina Bircher: Wir leben bereits jetzt vom Finanzausgleich. Ich habe Bruttokosten in der sozialen Wohlfahrt von 10,5 Millionen – bei 17 Millionen Steuereinnahmen! Damit habe ich noch keine Schule und auch keine Verwaltung bezahlt. Das Schlimme ist, dass fast 90 Prozent unserer Ausgaben gebundene Ausgaben sind. Das ist das Gesetz, wir müssen bezahlen.

 

faktuell.ch: Wie gross ist der Sozialhilfeanteil an den Kosten der sozialen Wohlfahrt?

 

Martina Bircher: Rund fünf Millionen Franken. Hinzu kommen Fremdplatzierungen und die ganze Palette der bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie Alimentenbevorschussung, Eltern-Beistandshilfe, Sonderschulen etc.  Weil unser Budget derart belastet ist, erhalten wir knapp die Hälfte der 10,5 Millionen vom Kanton wieder zurück.

 

faktuell.ch: Wie kommen die Flüchtlinge, in Aarburg vorwiegend Eritreer mit ihren 1000 Franken Taschengeld pro Monat aus, die sie nach SKOS-Richtlinien erhalten zurecht?

 

Martina Bircher:  Viele sagen mir, dass sie etwa die Hälfte brauchen. Die andere Hälfte schicken sie in ihre Heimat, was eigentlich verboten ist.

 

faktuell.ch: Das setzt aber wohl voraus, dass sich ein paar Asylanten zur Wohngemeinschaft zusammentun.

 

Martina Bircher:  Folgender Fall: In einer Wohnung wohnen fünf anerkannte Flüchtlinge. Jeder macht geltend, er lebe alleine und will 1000 Franken. Das wären 5000 Taschengeld für die ganze WG. Wir sagten ihnen, dass sich in einer WG die Kosten teilen lassen. Sie  beharrten aber auf ihrem Einzeldasein. Also schickten wir einen Sozialdetektiv vor Ort, der einen Eritreer angestellt hat, weil der besser an seine Landsleute rankommt. Ihm erzählten sie ohne Umschweife, dass im Kühlschrank nicht jeder sein eigenes Regal hat, sondern dass man zusammen kocht. Ohne diese Auskunft hätten wir lediglich 10% kürzen können. So aber hat jeder nur ein Taschengeld von 500 Franken.

 

faktuell.ch: Wie erleben sie die Konkurrenz im Niedriglohn-Bereich – von aussen hat man den Eindruck, dass sich die diversen involvierten Sozialstellen von Bund, Hilfswerken, Kantonen und Gemeinden auf den Füssen herumtreten?

 

Martina Bircher: Ich habe ja nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Schweizer und Ausländer ohne Ausbildung, die einen Job brauchen. So viele Angebote, wie nötig wären, gibt es gar nicht.

 

faktuell.ch: Sozialfirmen als Arbeitgeber gibt es hier nicht?

 

Martina Bircher: Doch, aber das kostet. Wenn ich jemanden ins Beschäftigungsprogramm schicke, kostet er die Gemeinde mindestens das Doppelte eines normalen Sozialfalls. Und ich habe keine Garantie, dass er es mit der Sozialfirma schafft aus der Sozialhilfe rauszukommen. Die Erfolgschancen liegen gerade mal bei 20-30%. Deshalb konzentrieren wir uns im Sozialdienst nur auf die „Crème de la Crème“ – diejenigen, die wirklich wollen, von denen wir wissen, dass sie pünktlich und zuverlässig sind. Die schicken wir dann in solche Programme. Alle andern nicht, weil das nichts bringt. 

 

faktuell.ch: Nur junge Schweizer und Ausländer?

 

Martina Bircher: Gelegentlich auch einen Flüchtling, von dem wir annehmen, er könnte es packen. Es gibt solche, die wirklich arbeiten möchten. Aber sie haben völlig falsche Vorstellungen. Uns spielt das eigentlich keine Rolle, jeder den wir von der Sozialhilfe abmelden können, ist ein Erfolg egal welche Nationalität.

 

faktuell.ch: Es leben 34‘000 Eritreer in der Schweiz. Im Schnitt arbeiten 90 Prozent nicht oder kaum. Die Sozialhilfeempfänger erhalten weit über eine halbe Milliarde Franken. In Eritrea wäre diese Summe in Ausbildung und Projekte wohl deutlich nachhaltiger investiert…

 

Martina Bircher: … absolut. Nur was ich feststelle und was in Bundesbern noch nicht angekommen ist: Das heutige Flüchtlingssystem ist für Eritrea ein Geschäftsmodell. Zwar ein kurzfristiges, aber das interessiert die Machthaber dort nicht. Was zählt, ist der kurzfristige Profit. Sie schicken junge Leute, die für die Regierung potenziell gefährlich werden könnten, nach Europa. Hier erhalten sie Geld und schicken davon die Hälfte nach Hause. Eritrea lebt von diesem Geld und hat gar kein Interesse, an dem Geschäftsmodell etwas zu ändern.

 

faktuell.ch: Gibt es eine bessere Lösung?

 

Martina Bircher: Man sollte endlich diese Zahlungen aus Sozialhilfegeld einstellen. Allen Flüchtlingen auf Sozialhilfe ist verboten, die Sozialhilfe zweckentfremdet zu verwenden. Das Geld muss hier verwendet werden, auch für die Integration. Sonst kann man die Sozialhilfe halbieren. Nur für Essen und Trinken braucht man nicht 1000 Franken im Monat.

 

faktuell.ch: Wie erhalten die Flüchtlinge in Aarburg ihr Sozialhilfegeld?

 

Martina Bircher: Wir überweisen das Geld auf das Bankkonto des Sozialhilfebezügers. Was er mit dem Geld macht, dürfen wir nicht wissen. Wenn er 500 Franken vom Bancomat bezieht und sie beim SBB-Schalter via Western Union in die Heimat überweist, dann handelt es sich eigentlich um eine klare Zweckentfremdung. Aber wie wollen wir das nachweisen?

 

fakutell.ch: Was schlagen Sie vor?

 

Marina Bircher: Ich wollte die Guthaben auf eine Karte laden, auf der die Bargeldfunktion gesperrt ist. Gesetzlich würden wir aber so die Leute unter Generalverdacht stellen, ausserdem wurde mit der Gleichstellung argumentiert.

 

faktuell.ch: Die Skos schlägt vor, jedem Asylanten einen persönlichen Coach zur Seite zu stellen, damit die unabdingbare Arbeitsmarktintegration gelingen kann.

 

Martina Bircher: Es wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, die Leute zu integrieren, bleibt aber Utopie. Es ist ganz einfach nicht finanzierbar und es fehlen die geeigneten Fachleute.

 

faktuell.ch: Die Skos hat ihre Richtlinien überarbeitet, die Jungen erhalten weniger und die grossen Familien auch. Vor allem aber hat sie die Sanktionsmöglichkeiten verschärft. Zufrieden?

 

Martina Bircher: Im Kanton Aargau haben wir die Sozialleistungen schon immer um 30 Prozent gekürzt, wenn sich die Bezüger nicht an die Abmachungen halten.

 

faktuell.ch: Na und – wo liegt das Problem?

 

Martina Bircher: Wenn wir bei Sozialhilfebezüger genau hinschauen wollen, dann müsste ich einen Mitarbeiter nur für diese Aufgabe einstellen. Der Effekt wäre aber gleich null. Zuerst müssen wir eine Verwarnung aussprechen, dann dem Bezüger das rechtliche Gehör geben und anschliessend das Ganze dokumentieren. Um dem Sozialhilfeempfänger, der sich nicht an die Richtlinien hält, das rechtliche Gehör zu geben, müssen wir ihn einladen, damit er Rede und Antwort stehen kann. Da haben wir schon zwei Gespräche geführt, und eingeschriebene Briefe versandt, die er nicht abholt…

faktuell.ch: ...also Griff zum Rotstift: kürzen oder gar streichen …

 

Martina Bircher: … ja, aber dann beginnt das Ganze von vorn. Wir müssen dem Bezüger die Chance geben, alles richtig zu machen. Wenn er dies nicht tut, gibt man ihm wieder das rechtliche Gehör. Das kann drei bis vier Mal durchgespielt werden und dann können wir in begründeten Fällen die Sozialhilfe streichen. Das haben wir auch schon getan. Zwei Tage später kommt der Kandidat aber wieder und meldet sich einfach neu an. Wenn Ich mit dem Kanton telefonierte und meinte, der könne nicht im Ernst wieder aufs Sozialamt kommen und Sozialhilfe verlangen, erhielt ich zur Antwort: Juristisch gesehen ist dies ein neuer Fall und wird neu beurteilt.

 

faktuell.ch: Klingt etwas bitter, Frau Bircher?

 

Martina Bircher: Es ist zu sagen, dass viele Sozialhilfeempfänger anständig sind und die Kürzungen akzeptieren. Aber ich sehe, dass Leute, die nicht arbeiten wollen und das System kennen, immer zu ihrem Geld kommen. Wir müssen jede pingelige Bestimmung einhalten und kriegen auf den Deckel, wenn wir dies nicht tun. Aber wir haben keinen Juristen im Sozialamt. Den könnte ich gar nicht bezahlen. Wir haben Sozialarbeiter, die nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten. Wir werden an jedem Wort aufgehängt und der Klient muss nur einen Fresszettel mit drei Wörtern aufschreiben, die man nicht einmal versteht. Da ist rechtsgültig. Und wenn ein Zweifel besteht, wird ihm gratis ein Anwalt zur Seite gestellt.

faktuell.ch: Gut, aber dann wird entschieden.

 

Martina Bircher: Denken sie. Mit einem Sozialhilfeempfänger mussten wir gefühlte zehnmal beim Kanton antraben. Er immer mit Anwalt. Dann wurde es ihm zu dumm. Er zog um. In seiner neuen Wohngemeinde macht er dasselbe.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Februar 2017 statt.)

 

 

Zur Person:

Martina Bircher,

Jahrgang 1984, war zum Zeitpunkt des Gesprächs u.a. im Gemeinderat von Aarburg für das Ressort Soziales, Gesundheit und Jugend verantwortlich - ein Schlüsselressort, da Aarburg die höchste Sozialhilfequote im Kanton Aargau hatte. Seit 2019 ist sie Nationalrätin (SVP).

 


Andreas Dummermuth: "Wir brauchen keine geschleckten Lobbyisten."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Andreas Dummermuth, dem Präsidenten der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen

faktuell.ch: Herr Dummermuth, warum ist für die Ausgleichskassen die vorgeschlagene  Bundeskompetenz für die Einführung von IT-Mindeststandards im Bereich der 1. Säule gleichsam des Teufels?

 

Andreas Dummermuth: Es ist nicht Aufgabe der Aufsichtsbehörde, die Durchführung sicherzustellen, sondern den Vollzug der AHV-Gesetzgebung zu überwachen. Eine Aufsicht, welche die IT definiert, wird zur wichtigsten Durchführungsstelle. Das widerspricht allen Governance-Konzepten.

 

faktuell.ch: Die Durchführungsstellen werden verpflichtet, sich an Mindeststandards, insbesondere zur Entwicklung und zum Betrieb von gesamtschweizerisch anwendbaren Informationssystemen, zu halten. Was soll daran so schlimm sein?

 

Andreas Dummermuth: Bundesbeamte haben nie und nimmer unsere IT-Durchführungserfahrung. Die Ausgleichskassen und IV-Stellen haben in den letzten Jahren laufend bewiesen, dass alle Aufträge des Parlamentes innert der Frist professionell umgesetzt wurden. Dieser Erfolg wird mit neuen Kompetenzen für die Bundesverwaltung unnötig torpediert.  

 

faktuell.ch: Apropos Frist: Vieles würde mit der Altersreform 2020 ab 1. Januar 2018 nicht einfacher, sondern komplizierter. Auf die IT-Systeme der Durchführungsstellen wartet eine grosse Aufgabe. Sind sie bereit?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben alles für den ganzen Leistungs- und Beitragsbereich – Flexibilisierung des Altersrücktritts, Bezug aller Renten, Vorbezug, Aufschub – in die Wege geleitet: Völlig neue Merkblätter und Formulare sind verabschiedet, die prognostische Rentenberechnung ist vorhanden. Wir werden zusätzlich ein kostenloses Berechnungstool online anbieten, die Schulungen unserer Mitarbeitenden haben begonnen – das heisst, wir gehen davon aus, dass die Volksabstimmung positiv ausfällt. Alles wird am 1. Januar 2018 laufen. Das kostet auf verschiedenen Ebenen insgesamt einmalig etwa zwanzig Franken pro Rentner, also gegen 50 Millionen Franken. Das ist der Preis der Demokratie. Nota bene haben wir das alles ohne die geplanten IT-Standards der Bundesverwaltung hingekriegt. Die brauchen wir nicht. Tipptoppe Umsetzung ist unser Business.

 

faktuell.ch: Der Gesetzesentwurf sieht durchaus vor, dass die Durchführungsstellen die IT-Mindeststandards entwickeln können, damit sie im Massengeschäft AHV praxistauglich sind. Trotzdem stemmen sich die kantonalen Ausgleichskassen, die IV-Stellen und die Verbandsausgleichskassen der Arbeitgeber wie eine Bank dagegen. Riecht nach grossem Misstrauen gegen Bundesbern.

Andreas Dummermuth: Die Engländer sagen: «If it ain’t broke, don’t fix it.» (etwa flick nichts, das nicht kaputt ist). Was uns ohne Not vorgeschlagen wird, verursacht jährliche Mehrkosten von 21 Millionen Franken und das Produkt AHV wird nicht besser. Im Gegenteil. Die damit angestrebte Wirkungssteuer bedeutet eine Bürokratisierung der AHV sondergleichen. Diese unnötigen Kosten werden die Arbeitgeber und die Kantone tragen müssen. Da machen wir nicht mit.

 

faktuell.ch: Reden wir Klartext. Alle Erfahrungen mit IT-Bundesprojekten bis hin zum teuren «Insieme»-Flop der Eidgenössischen Steuerverwaltung sind schmählich abgestürzt. Spüren die Verantwortlichen der Ausgleichskassen bereits den warmen Atem von experimentierfreudigen IT-Bundesbeamten im Nacken?

 

Andreas Dummermuth: Ich halte es für die grösste Gefährdung der AHV seit 1948, wenn Bundesbeamte in die AHV-Informatik reinpfuschen! Man setzt das Erfolgsmodell AHV unnötig auf’s Spiel.

 

faktuell.ch: Fehlt es den Ausgleichskassen an Lobbyisten unter der Bundeskuppel?

 

Andreas Dummermuth: Wir stehen selber hin! Obschon AHV, IV, EO und EL etwa 40 % des Sozialversicherungskuchens ausmachen, geben wir keinen einzigen Franken für Lobby-Arbeit aus. Die Politik will von uns keine geschleckten Lobbyisten...

 

faktuell.ch: … etwas professioneller Lobbyismus könnte vermutlich auch den Ausgleichskassen nicht schaden, wenn man zum Beispiel sieht, dass die Pensionskassen ein Jahr länger Zeit als die Ausgleichskassen bekommen, um sich auf die Neuerungen der Altersreform einzustellen.

 

Andreas Dummermuth: Wir brauchen und wollen das nicht, auch wenn wir uns nicht unbedingt beliebt machen, weil wir immer klar Stellung beziehen. Wir sagen: Die AHV gehört den Versicherten und der Wirtschaft und nicht der Bundesverwaltung. Bundesbeamte haben keinerlei höhere Legitimation über die AHV zu reden als irgendjemand anderer. Politik hat nicht die Bundesverwaltung zu machen, sondern die gewählten Parlamentarier. Und die gehen wir auch aktiv an.

 

faktuell.ch: Bundesbern und seine Beamten haben es mit Ihnen schwer.

 

Andreas Dummermuth: Ich bin seit 1992 im Sozialversicherungsgeschäft. Ich musste die enormen Probleme der IV miterleben, vor denen ‘Bern’ die Augen damals schloss und noch Mitte der 1990er-Jahre erklärte: „Die IV hat keine Probleme“.  Oder das ganze Drama mit den Ergänzungsleistungen. Da werden jährlich mehrere hundert Millionen Franken völlig überflüssige Ergänzungsleistungen ausgezahlt. Und wiederum: Von Bundesbern kam nichts. Es brauchte vier Vorstösse im Bundesparlament, bis endlich eine EL-Reform an die Hand genommen wurde.

 

faktuell.ch: Stichwort IV. Ende Jahr läuft die siebenjährige Mehrwertsteuer-Aufbauhilfe aus. Das waren jährlich mehr als eine Milliarde Franken. Laut den Verantwortlichen im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wird die IV ab 2018 ohne diese Unterstützung wieder schwarze Zahlen schreiben. Ist das realistisch?

 

Andreas Dummermuth: Nein, das ist das Prinzip Hoffnung. Wir waren ziemlich nah am Sanierungsziel, aber jetzt erfüllt die Politik wieder Zusatzwünsche, die massive Mehrausgaben zur Folge haben – etwa im Bereich von Pflegeleistungen für Kinder, dann im Bereich der Geburtsgebrechen mit Trisomie 21 und aktuell läuft die Vernehmlassung für eine Änderung der Invalidenverordnung – gemischte Methode bei der Invaliditätsbemessung bei Teilzeiterwerbstätigen.

Dummermuth: Entweder man sagt, es ist uns egal, wenn das in zwei Volksabstimmungen versprochene Sanierungsziel aufgegeben wird – das fände ich aber heikel – oder man schaut trotzdem, wie man eben unnötige Ausgaben verhindern kann. Das Hauptproblem der IV ist heute, dass wir weiterhin 40 % IV-Neurentner mit psychischen Problemen haben. Das ist ein gesellschaftliches Desaster. Wenn die Schweiz Menschen mit psychischen Problemen nichts anderes anbieten kann, als eine Rente, entspricht das nicht dem, was man von einem der reichsten Länder der Welt erwarten könnte.

 

faktuell.ch: Klingt aber auch nach Mehrkosten. Was empfehlen Sie?

 

Andreas Dummermuth: Arbeitsmarktintegration! Wir müssen vor allem an der Schwelle am Ende der schulischen Ausbildung, beim Eintritt ins Arbeitsleben, dafür sorgen, dass diese Schwelle nicht zum Stolperstein wird. Es gilt, allen jungen Menschen, auch solchen, die nur Teilzeit arbeiten können, eine berufliche Ausbildung zu geben.

 

faktuell.ch: Wie soll das gehen, ohne ebenfalls zum Prinzip Hoffnung zu mutieren?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben heute in der Schweiz ein sehr gutes System der Arbeitslosenversicherung (ALV). Ein Erfolgsmodell! Um die rund 140'000 Arbeitslosen kümmern sich 5000 Personen – die ALV ist damit personell doppelt so gut «motorisiert» wie die IV. Bei der IV erhalten wir zwar Instrumente, aber es fehlen uns leider die Handwerker.

 

faktuell.ch: Und alles wird gut?

 

Andreas Dummermuth: Ja, irgend jemand muss diese Menschen begleiten! Und genau das können die IV-Stellen mit mehr Fachpersonal am besten machen. Die Krankenkassen helfen uns leider nicht. Mit ihren stetig höheren Prämien spiegeln sie nicht bessere Wirkung, sondern nur den explodierenden Medizinalkonsum. Aber keine einzige Krankenkasse weiss, wo Sie und ich arbeiten. Denen ist das völlig egal. Die Krankenkassen haben keinen «back to work»-Auftrag.

 

faktuell.ch: Sie wollen die Krankenkassen einbinden?

 

Andreas Dummermuth: Sämtliche internationalen Untersuchungen zeigen, dass Länder, die gegen Invalidisierung kämpfen, alle Partner in eine «back to work»-Strategie einbinden. Nach dem heutigen System können wir nichts machen. Die Leute sind von der Gesundheitsindustrie auf Psychopharmaka und Therapie ausgerichtet worden. Und wenn einer 19 ist, sagt man, da ist nichts mehr zu machen. Die IV soll sich mit der Rente um ihn kümmern. Darauf muss die Gesellschaft eine entschiedene andere Antwort geben: Jawohl, wenn du krank bist, haben wir ein Interesse daran, dass du gesund wirst. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dass du wieder arbeiten gehst. Und wenn wir das nicht koppeln, werden wir weiterhin einen derart hohen Anteil von Menschen mit psychischen Problemen haben.

 

faktuell.ch: Was soll die Gesellschaft tun, wenn viele Junge offensichtlich nicht im imstande sind, eine Berufslehre durchzustehen?

Andreas Dummermuth: Auf die Frage nach mangelnder Resilienz gibt es zwei Antworten: Die eine lautet mit der Bach-Kantate: «Kommt, ihr Töchter, helft mir

klagen!» Lamentieren ist aber kein Ansatz. Die andere: Wenn wir nicht wollen, dass junge Menschen mit psychischen Problemen wie heute en masse IV-Rente beziehen, müssen wir ihnen zwei-, dreimal eine Chance geben. Klar ist für mich: Junge Menschen bis zum Alter 25 oder 30 brauchen keine IV-Rente, sondern Begleitung.

 

faktuell.ch: Bis 2030 soll die IV ihre Schuld von zuletzt 11,4 Milliarden Franken bei der AHV abgetragen haben. Das macht jährlich 820 Millionen. Wie soll dies ohne Mehrwertsteuer-Bonus gehen?

 

Andreas Dummermuth: Die Sanierung der Invalidenversicherung ist versprochen, von Volk und Ständen abgesegnet. Damit sie die Schuld bei der AHV abbauen kann, muss sie Gewinn machen. Wenn man jetzt aber der IV – wie schon ausgeführt – zusätzliche Leistungen aufbürdet, ist selbst das Sanierungsziel an sich gefährdet.

 

faktuell.ch: Eigentlich sollten die AHV-Renten gemäss Bundesverfassung «angemessen» existenzsichernd sein, sind sie aber nicht.

 

Andreas Dummermuth: Bis 2008 waren die 1966 als Übergangslösung eingeführten Ergänzungsleistungen ein Provisorium. Bereits 1995 hat sich der Bundesrat in seinem 3-Säulen-Bericht der Realität angepasst und erklärt, dass das Ziel der Existenzsicherung durch die drei Säulen und nicht allein durch die erste Säule erreicht wird. Seit dem 1. Januar 2008 sind die Ergänzungsleistungen definitiv. Für diejenigen, die von erster, zweiter und dritter Säule nicht leben können haben wir seither definitiv die EL...

 

faktuell.ch: … die allerdings bedarfsabhängig ausgerichtet wird und nicht als verfassungsrechtlicher Anspruch.

 

Andreas Dummermuth:  Ich halte das Konstrukt für hervorragend. Aber es gibt noch zwei, drei Sachen, die ausgemerzt werden müssen, sonst wird die EL auch ein System für den Mittelstand und das ist nicht mehr finanzierbar. Die ständig wachsenden Kosten für EL bedrängen andere wichtige Politikbereiche.

 

faktuell.ch: Wo liegt der Hund begraben?

 

Andreas Dummermuth: Die Pensionskassen stehlen sich heute nach dem Woody-Allen-Prinzip von «Take the money und run» oft aus ihrer Verantwortung. Da wird das Risiko der Langlebigkeit und das Risiko der Anlage an Leute übergeben, die nicht in der Lage sind, damit umzugehen. Hier wird ein gutes System, um das uns die ganze Welt beneidet, zu Boden geritten. Wenn jeder sein Kapital mit 65 nach Belieben abziehen kann, macht man einen Lastentransfer zulasten der öffentlichen Hand, der nicht mit dem 3-Säulen-System übereinstimmt. Das ist für mich klar verfassungswidrig.

 

faktuell.ch: Offenbar handeln die Leute nach dem Prinzip von «Den Letzten beissen die Hunde». Es fehlt ihnen das Vertrauen in die Langlebigkeit der 2. Säule.

Andreas Dummermuth: Wenn der Bürger die Möglichkeit zum Abzug seiner Gelder hat, nutzt er sie, ohne Rücksicht auf das System. Das ist sein gutes Recht. Aber mich erstaunt, dass die Pensionskassen-Lobby den Kapitalabzug bis an den Bach runter verteidigt. Wenn jeder sein Geld mit 65 rausnimmt, brauchen wir gar keine

Pensionskassen mehr. Dann brauche ich nur noch eine Lebensversicherung für mich und meine Angehörigen und ein Konto bei der Kantonalbank, von dem ich mein Geld beziehen kann. Als Kapitalabfindungs-Institutionen brauchen wir die 3000 Pensionskassen nicht.

 

faktuell.ch: Mit der Möglichkeit des Kapitalabzugs sind die Pensionskassen die Verantwortung los, ihre einst vollmundig geäusserten Versprechen einhalten zu müssen.

 

Andreas Dummermuth: Genau. Aber das führt auch zu einer Erosion der Sicherheit in der Bevölkerung. Sinn und Zweck der sozialen Sicherheit ist es, dass der Bäcker Brot backen und die Krankenschwester ihre Patienten pflegen kann und beide wissen, dass sie mit ihrem normalen Job auch im Alter einigermassen gut werden leben können. Das Versprechen von «decent life», ein anständiges Leben führen zu können, ist ein hohes Versprechen. Aber Sozialversicherungen – und das ist für mich ganz wichtig – muss man als staatliche Infrastruktur betrachten wie das Bahn- und Strassennetz. Dass ein Staat seine Infrastruktur wissentlich verlottern lässt, so wie die Amerikaner ihre Strassen, scheint mir kein Ziel zu sein.

 

faktuell.ch: Wird die grosse Reform der Altersvorsorge angenommen, kehrt keine Ruhe ein. Sie haben bereits einen «Frühlingsputz» angekündigt. Woran denken Sie dabei?

 

Andreas Dummermuth: Wir richten noch Leistungen aus, die 1948 festgelegt wurden und heute nicht mehr so nötig sind. Altersrentner mit minderjährigen Kindern haben pro Kind zusätzlich Anspruch auf 40 % einer Maximalrente. Das sind pro Monat 940 Franken aus der AHV-Kasse, während die normale Kinderzulage eines Arbeitnehmers monatlich 200 bis 250 Franken ausmacht. Auch die Witwen- und Waisenrenten sind in der heutigen Form überholt. Ich votiere nicht dafür, dass man sie gleich auf Null runterfährt, aber man muss sie der gesellschaftlichen Realität anpassen. So gibt es diverse Leistungen in den Sozialversicherungen, die eingestellt oder reduziert werden könnten.

 

faktuell.ch:  Zurück zu den Ergänzungsleistungen im Besonderen. Es gibt eine Dunkelziffer wie bei allen bedarfsabhängigen Sozialleistungen von Bürgern, die aus unterschiedlichen Gründen auf ihren Anspruch verzichten. In einer Nationalfondsstudie von 1998 war von einer Nichtbezugsquote von 33 % die Rede. Die Eidgenössische Finanzkontrolle kam 2010 in einer Untersuchung zum Schluss, dass diese Quote weit übertrieben sei. Wie hoch schätzen Sie die Nichtbezugs-Quote ein?

 

Andreas Dummermuth: Wir können nur messen, was wir einnehmen und auszahlen. Was nicht ausbezahlt wird, können wir nicht messen. Ich schätze aufgrund meiner Schwyzer Erfahrung, dass es etwa 2 % sind.

 

faktuell.ch: Von 33 auf 2 % zurückgegangen - Sie untertreiben.

Andreas Dummermuth: Es gibt eine Faustregel: Wer AHV zuzüglich einer kleinen Pensionskassenrente hat und zuhause lebt, kommt nicht in die EL rein. Sobald aber das Heim ansteht, steigen die Kosten. In Schwyz treffen wir uns regelmässig mit Vertretern des Heim-Verbandes curaviva und unsere Erfahrung zeigt, dass kein

Heimverwalter jemanden in sein Heim aufnimmt, ohne dass die Finanzierung gesichert ist. Wenn die drei Säulen nicht ausreichen, kommt die EL zum Zug. Die Heime selber haben null Interesse, Inkasso-Risiken einzugehen.

 

faktuell.ch: Das Wort Verzicht kommt auch im umgekehrten Sinn vor – dem Vermögensverzicht zuhanden der Nachkommen zum Beispiel. Im Zusammenhang mit der Erbschaftssteuer-Vorlage hatten sich solche Fälle gehäuft. Wie ist der «courant normal» heute?

 

Andreas Dummermuth: Bei der EL ist das wie beim Doktor: Zunge raus und Hosen runter! Wir stellen im Kanton Schwyz im Rahmen unserer Abklärungen bei 20 % der EL-Neuanmeldungen vorherigen Vermögensverzicht fest. Wenn jemand eine Weltreise für 30'000 Franken macht, hat er das Geld ausgegeben und dafür eine Gegenleistung erhalten. Das wirkt sich bei den EL nicht aus. Überträgt aber jemand seinen Kindern sein Haus, das einen Wert von 800'000 Franken hat, und er dafür bloss 200'000 Franken haben will, dann verzichtet er auf 600'000 Franken. Das akzeptieren wir nicht und rechnen es auf. Das ist bei uns in 20 % der Fälle der Fall.

 

faktuell.ch: Die EL-Ausgaben explodieren seit Jahren förmlich. Was sind die wirklichen Gefahren der EL?

 

Andreas Dummermuth: Wir müssen dafür sorgen, dass jede der drei Säulen die Risiken tragen kann, die wir mit der Volksabstimmung im Jahre 1972 gesellschaftlich vereinbart haben: die Risiken von Invalidität, Tod und Versorgung im Alter. In der 2. Säule heisst das aus Sicht der EL, dass möglichst viele Leute einen Anspruch auf eine Rente aus ihren Pensionskassengeldern haben müssen. Technisch ist jeder Franken Pensionkassengeld, das abgezogen wird, ein Franken EL weniger.

 

faktuell.ch: Ist bereits Gefahr in Verzug?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir den angemessenen Existenzbedarf über die EL sichern wollen – und das ist völlig unbestritten –, dann darf man doch nicht Leuten aus Steuergeldern EL zahlen, deren Existenz gar nicht gefährdet ist. Das heutige EL-System gibt Leistungen weit über den Verfassungszweck hinaus.

 

faktuell.ch: AHV und IV zusammen zahlen heute EL für etwas mehr als fünf Milliarden Franken aus. Wo kann gespart werden?

 

Andreas Dummermuth: Meines Erachtens könnte man mit der Einführung einer Vermögensschwelle von 100'000 Franken ca. 400 Millionen Franken im Jahr sparen. Im Kanton Schwyz haben wir ausgerechnet, dass ca. 12 % unserer EL-Leistungen übertrieben sind, da die Existenz sehr wohl gesichert ist. Da sind sogar Millionäre dabei. Das geht einfach nicht.

 

faktuell.ch: Auch die finanziellen Verhältnisse von EL-Beziehenden können sich verändern – zum Guten wie auch zum Schlechten. Was dann?

 

 Andreas Dummermuth: Es gibt eine Meldepflicht. Seit 2008 sind Meldepflichtverletzungen, die man früher als Kavaliersdelikt betrachtete, strafrechtlich relevant. Die Verletzung der Meldepflicht hat eine Strafanzeige zur Folge.

faktuell.ch: Kommen wir noch auf die Unternehmenssteuerreform II zu sprechen. Sie führt zu einer massiven Verschiebung von AHV-pflichtigem Lohnabzug zur Dividenausschüttung. Lässt sich beziffern, was der AHV-Kasse damit an Einnahmen entgeht?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben leider keinen Einblick in die entsprechenden Steuerunterlagen! Aber es ist ein sehr erheblicher Betrag. Im Kanton Schwyz mit seinen 150 000 Einwohnern sind zwischen 2007 und 2011, also innerhalb von fünf Jahren, 3,7 Milliarden Franken in Dividenden ausgezahlt worden, auf die kaum Sozialabgaben zu zahlen sind. Dies entspricht 80 % des gesamten AHV-pflichtigen Einkommens unseres Kantons.

 

faktuell.ch: Es ist nicht verboten, die Steuern zu optimieren – wozu das System einen erst noch einlädt.

 

Andreas Dummermuth: Stimmt. So hat sich mir gegenüber auch ein Mitglied des Bundesgerichts geäussert. Ich habe darauf geantwortet: „Aber die Renten an Ihre Eltern müssen wir jeden Monat auszahlen!“ Sozialversicherer leben vom Vertrauen. Als Leiter einer Ausgleichskasse habe ich Erklärungsnotstand: Einerseits muss ich jedem Hausdienstarbeitgeber wegen der Putzfrau auf die Finger klopfen und klarmachen, dass auch Bagatelleinkommen sauber abrechnet werden; anderseits habe ich die «Optimierer», die sich mit grossen Beträgen legal schadlos halten können. So wird ein System nicht stabilisiert.

 

faktuell.ch: Sie nennen es «Flucht aus der Solidarität».

 

Andreas Dummermuth: Ja, ganz klar. Das klassische Beispiel sind vor allem solche, die stark profitieren von unserem Gesundheitswesen: Ärzte, die sich en masse in AGs und GmbHs ausgliedern. Es geht mir aber nicht um ein Ärzte-Bashing. Ich möchte auch Architekten und Anwälte nennen, die in der Dreifaltigkeit von Aktionär, Verwaltungsrat und Geschäftsführer Ende Jahr mit dem Treuhänder zusammen entscheiden, was sie als AHV-Beitrag rausnehmen und was sie als steuerprivilegierte Dividende der AHV vorenthalten wollen.

 

faktuell.ch: Fassen wir zusammen: Die Reichen optimieren im Bereich der AHV und die Armen im Bereich der EL. Richtig?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir wissentlich und willentlich in beiden Bereichen entweder zu viel ausgeben oder zu wenig einnehmen, dann höhlen wir unnötig die Sozialsysteme aus. Das ist keine verantwortungsbewusste und nachhaltige Sozialpolitik.

 

 Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Juli 2017 statt.)

 


Carlo Malaguerra: "Wir leben in einer Zeit, in der es sehr schwierig ist, die Zukunft vorauszusehen."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Carlo Malaguerra, dem „Vater“ moderner statistischer Erhebungen in der Schweiz und langjährigen Direktor des Bundesamtes für Statistik (BFS)

faktuell.ch: 1849 – ein Jahr nach Gründung der Eidgenossenschaft – wurde die Statistik ins Eidg. Departement des Innern aufgenommen, 1850 fand die erste Volkszählung statt und 1860 wurde das Eidg. Statistische Bureau eröffnet, der Vorläufer des BFS. Herr Malaguerra, was hat dazu geführt, dass die Statistik zur Bundesaufgabe wurde?

 

Carlo Malaguerra:  Bundesrat Stefano Franscini – ein typisch liberaler Geist des 19. Jahrhunderts – stellte fest, dass es in der jungen Eidgenossenschaft keine Informationen über Bevölkerung, Arbeit, Schulen und die soziale Arbeit gab. Er schlug seinen Kollegen vor, eine Gesamtstatistik der Schweiz zu erstellen. Als Politiker waren sie zunächst skeptisch und nicht sonderlich an Fakten interessiert. Doch Franscini setzte sich durch, die Statistik wurde zu einer Bundesaufgabe und förderte die Kenntnis über das Land. 

 

faktuell.ch: Sie haben das BFS 15 Jahre lang geleitet (1987 bis 2001), länger als alle andern BFS-Direktoren. Welche Bedeutung hatte die Statistik bei Ihrem Amtsantritt?

 

Carlo Malaguerra: Es war eine schwierige Zeit. Die Statistik war nicht anerkannt. Hinzu kam, dass die Sozialstatistiken vom Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA – heute Staatssekretariat für Wirtschaft SECO) erstellt wurden. Eine Koordination von BFS, BIGA und andern Statistik-Produzenten wie Finanzverwaltung, Verkehr etc. konnte nicht erreicht werden.  Es gab ein Chaos von zum Teil widersprüchlichen Informationen. Niemand hatte den politischen Willen, die Lage zu verbessern, das Anliegen für eine nationale Statistik war im Bundesrat blockiert.

 

Ich glaube, die schlechte Konjunktur in den 1990er Jahren hat schliesslich geholfen, aus dieser unmöglichen Situation herauszufinden. Man wurde sich bewusst, dass z.B. keine Angaben zur Zahl der Arbeitslosen in der Schweiz vorhanden waren und auch, dass wir Teil des europäischen Wirtschaftsraums sind. Ausserdem beklagte sich die OECD über das Fehlen von vergleichbaren Statistiken aus der Schweiz.

 

Ich begann, mit meinen Kollegen zu lobbyieren, was zu parlamentarischen Vorstössen führte. Das hat der Bundesrat natürlich nicht gerade goutiert, aber es schien mir der einzige Weg zu sein. Die Sozialstatistiken wurden endlich zum BFS transferiert und 1992 wurde das Gesetz über die Bundesstatistik erlassen. Erst dann kam es zur Erkenntnis, dass die Aufgaben des BFS wichtig sind, auch im Sinne der Aufklärung und der demokratischen Debatte. Eine solche lässt sich nur mit guten Zahlen und Informationen führen.

 

faktuell.ch: Sie haben für einheitliche und vergleichbare Statistiken gekämpft. Trotzdem: Gewisse statistische Erhebungsmethoden wechseln und machen Vergleiche praktisch unmöglich, wie zum Beispiel die unterschiedlichen Erhebungsmethoden für Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich.

 

Carlo Malaguerra: Das ist eine komplexe Sache. Die Sozialhilfestatistik war eine Zangengeburt. Die ersten Resultate waren entmutigend, weil Sozialpolitik, soziale Aufgaben und die Definition von Sozialausgaben von Kanton zu Kanton und besonders von Stadt zu Stadt so unterschiedlich waren, dass man schwierige politische und technische Verhandlungen führen musste.

 

faktuell.ch: Zu- und Abwanderung, Geburtenüberschuss: Statistiken sind Basis von Prognosen, die Verhältnisse in 10 bis sogar 50 Jahren abbilden sollen. Wie zuverlässig sind sie?

 

Carlo Malaguerra: Wir leben in einer Zeit, in der es sehr schwierig ist, die Zukunft vorauszusehen. Um Prognosen zu erstellen, braucht man sogenannte Modelle. Sie zeigen, wie sich die Bevölkerung unter verschiedenen Hypothesen entwickelt. Die unbekannte Grösse bleibt die Migration. Während meiner Zeit als BFS-Direktor hat man die Hypothesen über den Umfang der Immigration und der Emigration aufgrund der politischen Annahmen des Bundesrates im Bereich des Arbeitsmarktes und der Flüchtlingsströme entwickelt. Aber die heutigen Bevölkerungsbewegungen  ̶  denken wir nur an die aktuelle Flüchtlingswelle, die niemand so voraussehen konnte!  ̶ , die gesellschaftlichen Veränderungen im Allgemeinen und die neuen Technologien erschweren Prognosen.

 

faktuell.ch: Die gewaltige Flüchtlings- und Migrationswelle, die letztes Jahr eingesetzt hat, wirkt sich absehbar massiv auf die Sozialversicherungen aus. Das BFS bildet diese Entwicklungen aber sehr spät ab, wie ja andere Entwicklungen auch…

 

Carlo Malaguerra: …besser spät als nie! Die Verspätung in der Publikation des BFS war schon immer ein grosses Problem. Man muss aber verstehen, dass mit vielen Verifikationsmodellen gearbeitet wird und die Informationen geprüft werden müssen. Aus „Big Data“ das Gute und Nützliche zu verwerten, ist eine grosse Aufgabe. Das geht nicht automatisch.

faktuell.ch: Welches sind die Selektionskriterien für die Publikation von Daten?

 

Carlo Malaguerra: Schwierig zu beantworten. Das BFS zieht u.a. aussenstehende Experten bei und will von ihnen wissen, wo die Informationsbedürfnisse in einem bestimmten Bereich am höchsten sind. So erfolgt die Auswahl. Das heisst nicht, dass die übrigen Daten im Dunkeln verschwinden. Sie stehen auf Anfrage zur Verfügung. Wenn man interessiert ist, kann man aus diesen Daten sehr viel ablesen.

 

faktuell.ch: Wer sind diese Experten?

 

Carlo Malaguerra: Das sind Vertreter verschiedenster Bundesämter, der Kantone, der Wissenschaft und der Forschungsinstitute.

 

faktuell.ch: Gegen Ende des 20. Jahrhunderts brach die Zahl der Geburten ein und stabilisierte sich auf tiefem Niveau. Schreckensszenarien wurden flink entworfen: Überalterung der Gesellschaft, Mangel an Erwerbstätigen. Heute, 10 bis 15 Jahre später, sieht es ganz anders aus: Die Geburtenrate steigt massiv, ebenso wie die Zuwanderung von jungen Leuten. Es entsteht der Eindruck, dass das BFS mit seinen Daten, je nach politischer Zweckmässigkeit, die Grundlage für Angstmacherei liefert.

 

Carlo Malaguerra: Es gibt den Spruch: „Sobald sie eine Prognose machen, liegen sie falsch.“ Bei Prognosen gibt es so viele Unsicherheitsfaktoren, die man nicht immer mit statistischen Methoden definieren und berechnen kann. Auch wenn sich die Prognose als total falsch erweist, ist sie trotzdem als Versuch wertvoll, die Mechanismen der Gesellschaft zu eruieren und zu quantifizieren. Man hat zumindest ein zeitliches Modell. Und das ist wichtig. Deshalb sollte man sich nicht demoralisiert fühlen, wenn die Realität die Prognose nicht bestätigt und umgekehrt.

  

faktuell.ch: Aber Sie räumen ein, dass Statistiken einen psychologischen Einfluss auf die politische Stimmungslage haben. Inwiefern beeinflussen sie die Dringlichkeit politischer Massnahmen?

 

Carlo Malaguerra: Ich glaube, dass beispielsweise die erste nationale Vollerhebung nach einheitlicher Erhebungsmethode der Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich in der Politik einen Schock verursachen wird: „Um Gottes Willen, so viel geben wir aus, so viele Milliarden Franken kostet das!“ Bisher hatte man nur partielle Informationen, z.B. von einer Stadt wie Lausanne oder Zürich oder von einem Kanton. Das ging noch an. Aber wenn man die Globalzahlen für die Schweiz zur Verfügung hat, dann ist die Politik gefordert und wird aktiv.

 

faktuell.ch: Die öffentliche Wahrnehmung hängt auch davon ab, welche Zahlen von der Politik herausgegriffen und von wem sie interpretiert werden…

 

Carlo Malguerra: …ja natürlich...

 

faktuell.ch: … und lässt sich damit manipulieren?

 

Carlo Malaguerra: Das geschieht leider öfters. Deshalb sagt man ja, man könne mit Statistik auch das Gegenteil beweisen. Aber das ist natürlich unredlich. Das BFS sollte intervenieren, wenn Daten, die es publiziert, falsch interpretiert werden.

 

faktuell.ch: Ist das schon passiert?

 

Carlo Malaguerra: Ja. Ende der 1990er Jahre sandte die SVP ein Papier an alle Haushalte zwischen Weihnachten und Neujahr. Da standen Angaben über die Entwicklung des Bruttosozialproduktes, die schlicht falsch waren. Immerhin erklärte sich Christoph Blocher nach einem Hinweis auf den Fehler bereit, das BFS künftig vor Publikationen mit BFS-Statistiken zu kontaktieren.

 

faktuell.ch: Welche „Gebrauchsanweisung“ gibt das BFS, damit die Öffentlichkeit die Statistiken richtig versteht?

Carlo Malaguerra: Es gibt eine Interpretation der Zahlen, die dazu dient, die Zahlen zu verstehen. Diese darf nicht politisch oder ideologisch gefärbt sein. Die Versuchung ist aber gross. Der Statistiker darf nicht sagen, die Flasche sei halb leer oder halb voll, sondern zur Hälfte gefüllt.

 

faktuell.ch: Wohin führt der Weg in der Statistik?

 

Carlo Malaguerra: Wichtig ist, dass dem BFS genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um Transparenz über die Verhältnisse im Land zu ermöglichen. Statistik ist ein wichtiger Pfeiler unserer Demokratie und Basis für die demokratische Debatte. Der Datenschutz muss aber absolut garantiert sein. Nur die Forschung darf anonymisierte Personendaten verwenden, sie jedoch nicht veröffentlichen. In unserer sehr komplexen und sich rasch verändernden Gesellschaft ist es die Aufgabe des BFS, Ordnung zu garantieren und eine gewisse Abgeklärtheit zu zeigen, was bedeutet: Sich nicht nur auf die aktuellen Daten zu stürzen, sondern die Informationen auch unter dem Gesichtspunkt der historischen Entwicklung zu publizieren.

 

faktuell.ch: Wo besteht noch statistischer Nachholbedarf?

 

Carlo Malaguerra: Im Bereich Telekommunikation und Informatik sind neue Statistiken nötig. Dafür braucht es Zeit, ein Konzept und die richtigen Quellen. die Entwicklung einer Statistik nimmt im Minimum zwei bis drei Jahre in Anspruch. Deshalb ist es so wichtig, die Bedürfnisse im Voraus zu klären. Eine Statistik zu führen ist heute eine schwierige Aufgabe und sie rennt der Zeit ein bisschen hintennach. Das ist eigentlich unser aller Schicksal.

 

faktuell.ch: Wo sind die Grenzen dessen, was in Sachen Statistik mit Steuergeldern zu finanzieren ist?

 

Carlo Malaguerra: Seit einigen Jahren arbeitet die schweizerische Statistik aufgrund eines bilateralen Abkommens mit der EU zusammem. Sie ist jetzt dem EUROSTAT angeschlossen, dem statistischen Institut der europäischen Union. Nebst Rechten hat man auch Pflichten übernommen, nämlich Angaben zu liefern, damit sich die Schweiz mit EU-Ländern vergleichen lässt. Das Budget des BFS erlaubt knapp das Volumen dessen zu liefern, was die EU verlangt.

 

faktuell.ch: Was bringt das?

 

Carlo Malaguerra: Den Vergleich der Schweiz mit andern Länder! Nehmen wir eine aktuelle Grösse: die Arbeitslosigkeit. Wenn sie aufgrund der Sozialverssicherungsregister erhoben wird, kann sie nicht von Land zu Land verglichen werden, weil die Sozialversicherungssysteme in jedem europäischen Land verschieden sind und Arbeitslosigkeit unterschiedlich definiert wird. Deshalb verwendet man eine Definition des Internationalen Arbeitsamtes, die auch von EUROSTAT übernommen wird. Das erlaubt eine objektive Messung und damit den Vergleich der Arbeitslosigkeit in allen EU-Staaten mit der Schweiz. Eine Aussage wie „der Schweiz geht es doch besser als…“ ist nur aufgrund umfangreicher Arbeit möglich.

 

faktuell.ch:  Aufgabe des Statistikers ist es, Daten zu analysieren und Überlegungen zur Zukunft anzustellen. Kommen beim Blick in die Zukunft auch Ängste auf?

 

Carlo Malaguerra: Ja, eine gewisse Angst vor Veränderungen, die andere Veränderungen nach sich und unsere Gesellschaft damit in einen Wirbel ziehen. Man muss verstehen, dass die Quantität die Natur des Problems bestimmt. Wenn wir tausend Migranten pro Monat registrieren, dann sind das nicht 10 mal 100. Das ist eine Zahl, die nicht skaliert. Da sind wir mit ganz neuen Problemen konfrontiert.

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faktuell.ch: Sehen Sie unsere Sozialversicherungen gefährdet?

 

Carlo Malaguerra: Nein, nicht gefährdet, aber man muss die Entwicklung im Auge behalten. Ich halte eine Reform für notwendig. Bei der AHV sind Massnahmen zur Sicherung der höheren Leistungen fällig: eine Erhöhung des Pensionsalters oder des Mehrwertsteuer-Satzes.

 

faktuell.ch: Machen Sie diese Aussage als Statistiker?

 

Carlo Malaguerra: Ja, gestützt auf meine Erfahrung. Aber als Direktor des BFS hätte ich diese  Aussage nicht machen dürfen, weil sie politisch gefärbt ist.

 

faktuell.ch: Sie haben 1987 das erste Modell für die AHV-Prognose entwickelt…

 

Carlo Malaguerra: …aufgrund des demografischen Modells und der wirtschaftlichen Entwicklung. Das war unter CVP-Bundesrat Flavio Cotti. Eine schöne Arbeit. Aber natürlich haben sich alle diese Prognosen mit den Jahren als unzutreffend erwiesen. Die Gesellschaft hat anders reagiert und die Wirtschaft hat sich anders entwickelt als man glaubte. Aber es war ein Modell da, ein Systemdenken. Alles ist mit allem verbunden. Und diese Verbindungen, wenn sie nicht gerade offensichtlich sind, müssen zuerst entdeckt werden. Wie funktionieren die Subsysteme? Das zu erkennen ist wichtig bei dieser Arbeit. Die AHV ist auch modellartig leichter zu prognostizieren als die Pensionskasse. Die Pensionskasse bereitet Kopfzerbrechen. Man muss ein Magier sein, um ihre Zukunft vorherzusagen. Eine heikle Sache …

 

faktuell.ch: Sie lagen 1987 mit den Prognosen aufgrund Ihres AHV-Modells etwas daneben. Gibt es auch Prognosen, die überhaupt nicht zutrafen, weil sich gesellschaftliche Entwicklungen anders zutrugen als angenommen?

 

Carlo Malaguerra: Bei der Geburtenhäufigkeit hat man schlecht prognostiziert. Sie stieg zunächst dank der Ausländerinnen in der Schweiz. Wir basierten unsere Annahmen auf der sehr hohen ausländischen Fertilität, wie man dies in der Demografie nennt. Aber bereits nach fünf bis sechs Jahren pendelte sie sich auf dem schweizerischen Durchschnitt ein. Wahnsinn! Man konnte nicht ahnen, dass das Verhalten der ausländischen Frauen sich so schnell dem der einheimischen anpassen würde. Und dann die wirtschaftliche Entwicklung. 1987 ging es der Wirtschaft noch gut. Aber in den 1990er Jahren kam es zur Krise in der Schweiz. Fast ein Jahrzehnt lang entwickelte sich das Bruttosozialprodukt negativ. Die Konjunktur brach ein. Das hat man 1987 nicht vorhersehen können. Und wenn die Wirtschaft schwächelt, gibt es weniger Einnahmen und die roten Zahlen rücken näher.

 

faktuell.ch:  Jürg Brechbühl, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen, meint, ohne qualifizierte ausländische Arbeitskräfte wäre die AHV schon seit 15 Jahren in die roten Zahlen gerutscht. Und in den Medien melden sich nur Bedenkenträger mit ihren AHV-Endzeit-Szenarien zu Wort.

 

Carlo Malaguerra: Ja, so ist halt der Schweizer. Aber es ist eigentlich eine gute Eigenschaft, dass man aufpasst. Wir haben in Europa Beispiele, wo das Gegenteil eintrat und man horrende Defizite im Sozialbereich hinnehmen muss. In dieser Beziehung ist der Schweizer sehr verantwortlich. Wenn die Warnlampe leuchtet, schenken dem sowohl die Wirtschaft als auch die Gewerkschten  ̶  in unterschiedlichen Tönen natürlich  ̶  grosse  Beachtung. Daraus entsteht eine fruchtbare Diskussion. Eine Änderung der AHV wie jedes andern Systems ist, politisch gesehen, sehr schwer. Wenn man im System AHV einen Mechanismus ändert, wirkt sich dies in andern Systemen aus, in der Wirtschaft, bei den Lohnkosten und so weiter. Aber ich muss sagen, ernsthaft gefährdet war die AHV nie. 

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses Gespräch fand im April 2016 statt.)

 


Art. 65 der Bundesverfassung (Revision 18.4.1999):

  1.  Der Bund erhebt die notwendigen statistischen Daten über den Zustand und die Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Forschung, Raum und Umwelt in der Schweiz.
  2. Er kann Vorschriften über die Harmonisierung und Führung amtlicher Register erlassen, um den Erhebungsaufwand möglichst gering zu halten.

Das Bundesstatistikgesetz vom 9.10.1992 regelt die Grundlagen der öffentlichen Statistik der Schweiz (Datenbeschaffung, Veröffentlichung, Dienstleistungen und Datenschutz.

 

 



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Otto Pfister: "Wenn der Afrikaner ein gewisses Knowhow hat, ist er von sich überzeugt."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Otto Pfister, Jahrgang 1937, der in den letzten 45 Jahren als Cheftrainer zahlreiche Fussball-Nationalmannschaften und Spitzenmannschaften in Afrika und im arabischen Raum betreut hat. Seit 2017 ist er Cheftrainer der afghanischen Fussball-Nationalmannschaft. Er soll die Afghanen in der Qualifikationsgruppe gegen Jordanien, Vietnam und Kambodscha an den Asien-Cup 2019 führen.

faktuell.ch: Herr Pfister, Europa und mit ihm die kleine Schweiz kommen mit der viel gepriesenen Integration von Migranten und Flüchtlingen nicht vom Fleck. Wie sieht umgekehrt die Integration zum Beispiel in den Ländern Afrikas aus, in denen Sie als «Fremder» gearbeitet haben?

 

Otto Pfister: Wer aus eigenem Interesse nach Afrika geht, will Geld verdienen. Ein Handwerker hat dort viel grössere Chancen als hier, wo die Konkurrenz gross ist. Hinzu kommen Auflagen wie Gesetze, Steuern, Versicherungen, Bewilligungen. Das ist in Afrika alles viel einfacher. Ich kenne einen Schweizer, einen Automechaniker, der hat hier die Nase voll gehabt, an der Elfenbeinküste eine Garage aufgemacht und den Regierungsmitgliedern die Luxusautos geflickt. Nach einem halben Jahr machte er schon eine Tankstelle auf und nach einem Jahr war er Millionär.

 

faktuell.ch: Klingt einfach. Gibt’s keine Probleme?

 

Otto Pfister: Selbst in Ländern, wo man noch nicht einmal gelernt hat, sich das Tier nutzbar zu machen, ist alles was aus Europa kommt neu und erstrebenswert. Sie lernen alles von uns, auch das Negative. Wenn du also als Ausländer kommst, musst du dich natürlich richtig verhalten und dich auf die einheimische Mentalität einstellen. Als Fussballtrainer habe ich damit kein Problem. Ich habe einen Auftrag, ein Pflichtenheft und versuche die Mentalitäten unter einen Hut zu bringen, damit ich meinen Job erfüllen kann. Viele scheitern, weil sie dort all das einführen wollen, was wir von der Erziehung her so kennen: Pünktlichkeit, Fleiss, Ehrlichkeit, selbst Tischmanieren…

 

faktuell.ch: … Tischmanieren?

 

Otto Pfister: Ich habe einen Trainer gekannt, der sah im «First Class»-Hotel mit Entsetzen, wie seine afrikanischen Spieler Poulet, Reis und Sauce mit blossen Händen gegessen haben. Das ist in Afrika auch in gehobenen Kreisen üblich. Aber mein Bekannter hatte kein Einsehen. Er baute sich vor dem Spielertisch auf und erklärte: «Alle mal herhören, ab heute wird mit Messer und Gabel gegessen!» Die Spieler erhoben sich und gingen aufs Zimmer. Damit war er als Trainer «tot».

 

faktuell.ch: Das heisst im Umkehrschluss, wenn die Migranten und Asylbewerber schon hier sind, dann sollen sie…

 

Otto Pfister: …gefälligst unsere Gewohnheiten annehmen. Am Anfang dürfen sie noch Fehler machen, aber man muss sie darauf aufmerksam machen. Das ist ein Prozess, der geht nicht von heute auf morgen.

 

faktuell.ch: Geht’s überhaupt?

 

Otto Pfister: Wenn einer aus Ruanda kommt, dann hat er erst mal einen Kulturschock. Es gibt Leute, die haben in einem Kaufhaus noch nie eine fahrbare Treppe gesehen. Für einen Mann aus einer zentralafrikanischen Republik ist es unbegreiflich, dass in der Kleiderabteilung Anzüge nach Grössen aufgehängt sind. Da muss er sich erst mal dran gewöhnen. Oder erklären sie einem Afrikaner, was eine Parkbusse ist, warum er beim Parken die Parkuhr füttern muss. Oder die ganzen Pflichten mit Ämtern, in der Schule mit den Kindern – damit haben die Leute Probleme. Das ist klar. Und da muss man sich natürlich drum kümmern. Was man hier aber auch zur Kenntnis nehmen sollte: Viele Afrikaner haben ein unglaubliches technisches Talent. Wenn man in Afrika zum Beispiel mit dem Computer ein Problem hat, findet sich in einer Runde garantiert einer, der einem helfen kann.

 

faktuell.ch: Herr Pfister, Sie haben unter anderen die Nationalmannschaften von Ruanda, von Obervolta (heute Burkina Faso), von Senegal, der Elfenbeinküste, von Zaire (heute Dem. Rep. Kongo) und von Ghana trainiert. Haben sie dabei festgestellt, dass es «den Afrikaner» gibt, von dem wir immer summarisch sprechen?

 

Otto Pfister: Ja, den gibt’s. Das ist primär eine Mentalitätsfrage. Natürlich gibt es ethnische Unterschiede und auch eine unterschiedliche Erziehung. In Ruanda beispielsweise, da war ich noch ein junger Mann, erlebte ich einen totalen Kulturschock. Es gibt dort zwei Bevölkerungsgruppen, die Hutus und die Tutsi. Ich musste gut darauf achten, dass die beiden Gruppen im Team ausgewogen vertreten waren. Die Tutsi haben jahrelang die Hutus unterdrückt. Ich habe den Umsturz erlebt. Die haben eine ganz unterschiedliche Erziehung. Ein Hutu schaut zum Beispiel den andern beim Essen nicht ins Gesicht. Bei den Tutsi dürfen die Kinder beim Geschlechtsverkehr der Eltern zuschauen. Das muss man sich vorstellen, das sind andere Welten. Damit sind sie aber gross geworden. Und jetzt kommen die nach Europa…

 

faktuell.ch: … ebenso wie Menschen aus dem arabischen Raum. Sie haben dort ebenfalls Spitzenmannschaften trainiert, inklusive das Nationalteam von Saudi-Arabien. Was erwartet uns von ihnen?

 

Otto Pfister: Nach Riad war ich auch in Kairo, im Libanon und in Tunesien. Dort ruft der Muezzin in der Moschee mehrmals täglich zum Gebet auf. Dann schliessen jeweils alle Geschäfte für eine Stunde. Das passiert fünfmal am Tag! Wenn sich jetzt hier in der Schweiz ein Araber hinkniet und betet, wundern sich alle, was mit dem los ist…

 

faktuell.ch: ... worauf wollen Sie hinaus?

 

Otto Pfister: Es geht nicht nur darum, diese Leute zu integrieren, sondern erst müssen die Einheimischen mal informiert werden, wer hierherkommt.  

 

faktuell.ch: Das wird in den Aufnahmezentren ja gemacht – mit Übersetzern aus den einzelnen Ländern. Aber es reicht offenbar nicht, um diese Menschen mit unserer Mentalität vertraut zu machen. Warum bringen wir die Integration nicht auf die Reihe?

 

Otto Pfister: Da muss ich grundsätzlich werden. Nicht wenige stellen sich vor, man müsse einfach vor Ort, in den Ländern Afrikas, die Bedingungen mit Entwicklungshilfe verbessern, damit diese Leute nicht mehr zu uns kommen. Das ist fertiger Unsinn. Die kommen trotzdem, weil sich nichts verbessert. Die afrikanischen Länder sind auf dem Papier alles Demokratien, aber sie haben kein Demokratieverständnis. Man muss dort erst politische Bildung betreiben und das Hauptproblem, die Korruption, bekämpfen. Und wenn man Geld gibt, müsste der Geldfluss von jedem Rappen genau kontrolliert werden können. Geht aber nicht, weil die Länder unabhängig sind und sich nicht mehr dreinreden lassen.

 

faktuell.ch: Klingt nicht besonders optimistisch.

 

Otto Pfister: Schuld an der heutigen Lage in Afrika sind die Kolonialländer. Das Drama ist, dass sie nicht in die Pflicht genommen werden. Sie haben jahrzehntelang die Menschen dort ausgenutzt und tun es zum Teil immer noch. Ich war drei Jahre im Kongo, der damals von Mobutu mit seinem Clan regiert wurde. Ein wunderschönes Land, gemessen an seinen Bodenschätzen eines der reichsten Länder der Welt. Die haben Diamanten, Gold, Kobalt, das Basismaterial für Nuklearwaffen. Nichts davon kommt der Bevölkerung zugute. Ich finde, zuerst sollten eigentlich jene zum Handkuss kommen, die diese Länder kolonialisiert und mit geraden Strichen die Grenzen mitten durch ethnische Gruppen gezogen haben…

 

faktuell.ch: … und die Sie beispielsweise in Senegal zu einem Nationalteam formten.

 

Otto Pfister: Ja, in Westafrika gibt es Familiennamen, die auf die gleiche ethnische Gruppe hinweisen, aber über mehrere Länder verteilt sind, mithin über ein Viertel des afrikanischen Kontinents hinweg.

 

faktuell.ch: Sie sagten zwar, dass sich zuerst die ehemaligen Kolonialisten wie Frankreich, Portugal, Spanien, Grossbritannien etc. um die Flüchtlinge kümmern sollten. Die zeigen aber wenig bis keine Neigung dazu, mehr als das Nötigste beizutragen. Damit gilt: Die Migranten sind hier und es kommen absehbar immer mehr. Was raten Sie?

 

Otto Pfister: Zuerst muss man die Bedingungen schaffen, dass sie kommen können. Jeder Kanton sollte eine Analyse machen, wie viele Flüchtlinge er aufnehmen kann. Dann geht es darum, dass der Afrikaner korrekt wohnt und einen Arbeitsplatz hat. Wenn beides nicht gegeben ist, können wir ihm nicht helfen und er muss zurück.

 

faktuell.ch: Denken Sie, dass sie sich bei uns überhaupt integrieren wollen, wenn es möglich wäre?

 

Otto Pfister: Die wollen, ja. Aber es geht nicht, weil wir mit ihnen nicht reden. In Afrika setzt man sich zu Fremden an den Tisch, auch wenn an den meisten anderen Tischen keiner sitzt. Man sucht das Gespräch, den Kontakt. Wenn sich bei uns einer zu einem an den Tisch setzt, ruft der gleich die Bedienung und will wissen, was mit dem andern nicht gut ist. Sehen sie sich mal in Bern oder Zürich im Bahnhof um. Die Afrikaner stehen herum, keiner kümmert sich um sie, keiner will etwas mit ihnen zu tun haben. Und jetzt frage ich mich, wo ist hier die Regierung? Was machen die? Gibt’s hier ein Ministerium oder eine Abteilung, die sich nur um Integration bemüht?

 

faktuell.ch: Welches ist die grösste Barriere für eine erfolgreiche Integration – die Religion oder die Sprache?

 

Otto Pfister: Die Sprache. Das muss zuallererst gemacht werden. Wenn die Bundesliga einen Spieler verpflichtet, hat der jeden Tag morgens vor dem Training Deutschunterricht. Das steht im Vertrag.

 

faktuell.ch: Und das sollte auch für Asylbewerber und Migranten gelten?

 

Otto Pfister: Ja. Jeder der kommt, muss zwingend die Sprache lernen. Das ist die Aufgabe des Staates. Wenn ich das Sagen hätte, wäre es so: Man gibt ihnen ein Minimum mit Auflagen. Dazu gehört Sprache. Nummer eins.

 

faktuell.ch: Sprechen wir vom völkerverbindenden Fussball. Fast jede Mannschaft in Europa hat mittlerweile Afrikaner, bis in die unteren Ligen. Wo kommen die her?

 

Otto Pfister: Das hat mit Sport sehr wenig zu tun. Er ist ein reines Business. Hier ist der Agent A, der geht zu dem Präsidenten B und sagt: «Du, ich habe Dir da einen Mittelfeldspieler, einen Afrikaner, der ist besser als Deine. Ich bring Dir den. Du musst mir dafür aber was geben». Dann geht er zu dem Spieler und sagt: «Du, ich habe Dir einen Klub, aber du musst mir was geben». Dann kassiert er von beiden Seiten.

 

faktuell.ch: Sie sprechen von den Spieleragenten, die ähnlich wie die Schleuser mit ihrer Dienstleistung gross abkassieren?

 

Otto Pfister: In der Schweiz hat es Hunderte, im Internet unter «FIFA agents» gar tausende weltweit.  Ich kenne einen im Tessin, der hat in seinem Mercedes immer zwei, drei Afrikaner hinten drin. Er bietet sie in Ländern wie Tschechien, der Slowakei oder Polen an wie warmes Bier. Wer so einen Spieler vermarktet, macht hier fünftausend, dort dreitausend und wenn er zehnmal dreitausend gemacht hat, hat er auch 30’000. Das ist ein reines Geschäft.

 

faktuell.ch: Moderner Sklavenhandel.

 

Otto Pfister: Sklavenhandel, Menschenhandel. Und dann gibt es viele Agenten, die in Fernsehinterviews sagen, sie schauten auf die Karriere des Spielers. Aber das interessiert die nur in zweiter Linie. In erster Linie wollen sie Geld verdienen.

 

faktuell.ch: Den Migranten wird oft unterstellt, es fehle an der Leistungsbereitschaft…

 

Otto Pfister: … nicht im Fussball, da ist das anders. Die Leistungsbereitschaft der Spieler ist sehr gross. Die kommen zu 99 Prozent von ganz unten. Da steht im Dorf ein Fernseher, der überträgt die Champions League. Dann sitzt das halbe Dorf davor. Und die Buben sehen auch die NBA, die amerikanischen Basketballspiele. Sie sehen ihre schwarzen Brüder spielen – in Farbe am Fernsehen. Und dann haben sie nur ein Ziel: Da will ich hin und da kann ich Geld verdienen.

 

faktuell.ch: Sie sprechen aus Erfahrung?

 

Otto Pfister: Ja, ich habe das erlebt, ich war Juniorenweltmeister mit Ghana. Die Buben waren 17. Da hätte ich ein Training morgens um drei ansetzen können, mitten in der Nacht. Da wäre keiner zu spät gekommen. Machen sie das mal hier. Kommt keiner. Zwei, drei meiner Mannschaft haben es auch geschafft. Einer ist heute mehrfacher Millionär. Der wusste damals nicht was hundert Dollar sind. Geld ist schon ein Anreiz.

 

faktuell.ch: Sie betrachten afrikanische Spieler als mental stark, was Sie auf deren meist schwierige Lebensumstände zurückführen. Sie könnten sich also auch bei uns und überall durchbeissen.

 

Otto Pfister: Ja, wenn ein Afrikaner ein gewisses Knowhow hat, ist er von sich überzeugt. Im Fussball geht das. Da zählt nur die Leistung. Aber selbst wenn einer die richtige Ausbildung mit Leistung verbindet, kann er hier nicht einfach in eine Bank einmarschieren und gleich die Nummer zwei nach dem Direktor werden.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im November 2017 statt.)

 


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Mathias Binswanger: "Über mehr als ein Jahr hinaus kann man eine Wachstumsprognose nicht allzu ernst nehmen.“

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit dem Ökonomen und Publizisten Mathias Binswanger

Mathias Binswanger

 faktuell.ch: Herr Binswanger, ökonomische Prognosen bewahrheiten sich kaum je – das sieht selbst der Laie. Sie erklären dies damit, dass auch in der Wissenschaft der Glaube eine Rolle spielt, nämlich der Glaube an die eigene postulierte Hypothese. Sind Prognosen «fake news»?

 

Mathias Binswanger: Nein. Die Ökonomie ist keine präzise Wissenschaft. Sie kann nicht voraussagen, was in Zukunft passiert. In der Physik geht das noch einigermassen, da sich das Verhalten von Atomen in der grossen Masse mathematisch ziemlich gut beschreiben lässt. In der Ökonomie ist das aber unmöglich, da sich Bedingungen ständig verändern und Haushalte und Unternehmen auf diese Veränderungen reagieren. Dennoch verlangt man von der Ökonomie genau das, was sie am wenigsten kann, nämlich die Zukunft vorauszusehen...

 

faktuell.ch: … einen Blick in die Kristallkugel zu werfen…

 

Mathias Binswanger: …ja genau. Es ist so: In Zeiten, in denen alles normal läuft, kann man relativ gut Prognosen machen, braucht sie aber nicht. In Zeiten, die turbulent sind, braucht man Prognosen, aber dann können auch Ökonomen keine wirklich guten Prognosen für die Zukunft stellen.

 

faktuell.ch: Prognosen, Umfragen und eine Unmenge von Studien gehören inzwischen wie ein Führungsinstrument zum politischen Alltag. Mehr und mehr wirken die publizierten Ergebnisse wie bestellt.

 

Mathias Binswanger: Es gibt viele Institute in der Schweiz, die einen breiten Fächer verschiedener Werte anbieten. Positivere und negativere. Entscheidungsträger suchen nicht unbedingt die richtige Prognose, sondern eine, auf die sie sich abstützen können. Wenn zum Beispiel ein Investitionsentscheid begründet werden muss, dann stützt man sich gerne auf eine möglichst positive Prognose. Sollte es dann schief herauskommen, kann man argumentieren, man habe sich auf eine Prognose eines renommierten Instituts gestützt, womit man die Verantwortung für den Fehlentscheid an die Prognose delegiert. Umgekehrt, wenn Politiker Massnahmen gegen Arbeitslosigkeit fordern, bevorzugen sie eine möglichst pessimistische Prognose, welche die Dringlichkeit der Massnahmen untermauert. In einer Wirtschaft mit einer grossen Produktvielfalt gibt es nicht überraschend auch eine gewisse Prognosevielfalt, so dass für jeden etwas Passendes dabei ist.

 

faktuell.ch: Klingt nach Manipulation. Beispiel Sozialversicherungen, wo teilweise desaströse Prognosen bis ins Jahr 2060 zirkulieren. Positive Entwicklungen – positiver Wanderungssaldo, seit 25 Jahren die höchste Geburtenrate, auf hohem Niveau erstmals seit vielen Jahren gedrosselte Alterung – werden bestenfalls am Rande thematisiert. Wie seriös ist das alles noch?

 

Mathias Binswanger: Schon eine einjährige Prognose für das Bruttoinlandprodukt ist relativ langfristig. Beim demografischen Wachstum kann man die Entwicklung über eine längere Frist voraussehen. Was in der Öffentlichkeit haften bleibt, ist aber oft nicht die Prognose an sich, sondern die mit ihr verbundenen Botschaften. Das dient oft politischen Zwecken. Man kann mit Prognosen Angst schüren oder Zuversicht schaffen. Neutral werden sie selten verwendet.

 

faktuell.ch: Wo bleibt der wissenschaftliche Anspruch – ist es für Ökonomen nicht problematisch, sich in den Dienst von Interessen zu stellen?  

 

Mathias Binswanger: Das heutige Wissenschaftssystem zwingt Wissenschaftler dazu, möglichst viele Drittmittelprojekte zu akquirieren. Damit haben automatisch auch die Interessen der Auftraggeber einen gewissen Einfluss auf die wissenschaftlichen Arbeiten.

 

faktuell.ch: Gekaufte Forschung?

 

Mathias Binswanger: Kein Forscher, den ich kenne, ist direkt käuflich und die wenigsten Wissenschaftler würde Ergebnisse publizieren, die den Fakten widersprechen. Nur sind die Fakten eben nicht immer klar. Durch geeignete Auswahl von Daten oder von statistischen Verfahren, können Ergebnisse beeinflusst werden. Und ein Auftraggeber möchte ja im Normalfall einen bestimmten Nutzen aus einem Forschungsprojekt ziehen. Man kann deshalb nicht erwarten, dass er längere Zeit Geld für Forschung ausgibt, deren Resultate seinen eigenen Interessen widersprechen. Das wäre eine sehr naive Annahme.

 

faktuell.ch: Seit Einführung der obligatorischen Krankenversicherung steigen die Krankenkassenprämien pro Jahr im Schnitt um 4,6 Prozent. Vermag die Ökonomie der Politik eine Handlungsbasis in Form von Szenarien zu geben, bevor sich die Prämien niemand mehr leisten kann?

 

Mathias Binswanger: So wie die Anreize im System gesetzt sind, ist es logisch, dass die Prämien von Jahr zu Jahr steigen. Wer Leistungen bezieht, bezahlt zum grössten Teil nicht selbst dafür, weil diese über die obligatorische Krankenversicherung und Steuern finanziert werden. Zudem besteht eine Informationsasymmetrie auf dem Gesundheitsmarkt: Die Anbieter von medizinischen Leistungen, Medikamenten und Therapien wissen wesentlich besser Bescheid als die Nachfrager, die Patienten. In dieser Kombination haben wir den idealen Wachstumsmarkt. Die Nachfrage lässt sich leicht über das Angebot steuern. In diesem System ist in Wirklichkeit niemand daran interessiert, dass die Kosten nicht steigen. Alle profitieren davon. Die Kosten sollen immer nur bei den andern nicht weiter steigen.

 

faktuell.ch: Das Gesundheitswesen ist gierig und expandiert, die Kosten steigen. Wiegen die neuen Jobs die Kosten auf?

 

Mathias Binswanger: Das Gesundheitswesen wird absehbar zum wichtigsten Arbeitgeber in der Schweiz. Diesen positiven Aspekt muss man auch sehen. Allerdings hat ein immer grösserer Anteil der Arbeit nicht unmittelbar mit ärztlichen oder pflegerischen Leistungen zu tun, sondern mit Administration oder Controlling. Die Fallpauschale hat beispielsweise dazu geführt, dass Spitäler Kodierer anstellen. Auch die Verwaltung und das Management sind viel komplizierter geworden. In den Spitälern muss alles aufeinander abgestimmt und die Qualitätskontrolle flächendeckend sein. Das bedingt sehr viele Arbeitsplätze, die ebenfalls einen erheblichen Teil der Gesundheitsausgaben ausmachen.

 

faktuell.ch: Mehr als anderswo wird das Publikum im Bereich des Gesundheitswesens mit Studien verunsichert, die teils nicht widersprüchlicher sein könnten – mal ist Zucker des Teufels, mal wichtige Energiequelle, usw. Wo bleibt die Seriosität der Forschung?

 

Mathias Binswanger: Man kann die Öffentlichkeit nicht permanent mit falschen Tatsachen zu überzeugen versuchen. Aber man kann steuern, in diese oder jene Richtung, Angst schüren vor gewissen Krankheiten. Das macht es leichter, entsprechende Behandlungsmethoden, Medikamente oder Therapien zu verkaufen. Und dann sind da auch gewisse Forscher, die einfach mit ihren Resultaten auffallen wollen. Und in die Medien gelangt man oft nur, wenn man übertreibt.

 

faktuell.ch: Zurück zur Politik. Die Schweiz hat ein schwerfälliges Politsystem. Bis Entscheide an der Urne gefallen sind, vergehen Jahre. Prognosen, die salopp gesprochen schon überholt sind, bevor die Tinte unter den jeweiligen Forschungsaufträgen trocken ist, passen wie die Faust aufs Auge.

 

Mathias Binswanger: Die Politik verlangt aber Prognosen. Es geht meistens darum, die Verantwortung zu delegieren, so dass ein politischer Entscheid auf eine ökonomische Prognose gestützt werden kann.

 

faktuell.ch:  Also Mutlosigkeit und Absicherung. Was ist die Alternative zur Prognose?

 

Mathias Binswanger: Die meisten Entscheide betreffen die Zukunft. Deshalb muss man auch gewisse Vorstellungen über die Zukunft haben. Es ist oft sinnvoller, mit Szenarien zu argumentieren. Ein Szenario kann einem Entscheid zugrunde gelegt werden, weil es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen wird. Wenn man so argumentiert, ist das realistischer.

 

faktuell.ch: Die Zukunftsszenarien zur Schweiz, die wir vom Bundesamt für Statistik kennen, sind lineare Fortsetzungen des Ist-Zustandes in drei Varianten – tiefe, mittlere, hohe Wahrscheinlichkeit. Reicht das? 

 

Mathias Binswanger: Eine rein lineare Fortsetzung des Ist-Zustands ist auf längere Sicht fast immer falsch. Aber den Bundesämtern fehlt meist der Mut für gewagtere Visionen, weil sie dadurch auch wieder kritisierbar werden. Das Problem in der Ökonomie liegt vor allem auch daran, dass viele der für Prognosen oder Zukunftsszenarien verwendeten Modelle falsch sind.

 

Faktuell.ch: Wie das?

 

Mathias Binswanger: Die Schweizerische Nationalbank beispielsweise arbeitet für Voraussagen über die Inflation permanent mit bestimmten Modellen, die zwar komplex aber unnütz sind. Seit 10 bis 15 Jahren wird deshalb immer vorausgesagt, dass in den nächsten 2 bis 3 Jahren die Inflation ansteigen werde. Dieser Fall ist bis jetzt aber nie eingetreten. Trotzdem arbeitet man weiter mit solchen Modellen, denn die Devise lautet: lieber ein falsches Modell, welches präzis falsche Ergebnisse liefert als eine ungefähr richtige Zukunftsprojektion, die aber nicht modellgestützt ist. Dieser Modellfetischismus ist weit verbreitet.

 

faktuell.ch:  Wenn sich Versicherungen wie bei der 2. Säule mit Prognosen in den Generationenvertrag einmischen, scheint die Interessenlage klar. Aber was bewegt Grossbanken wie UBS und CS, bei Universitätsinstituten Prognosen in Auftrag zu geben, die – wie im Fall der AHV – in der Öffentlichkeit mit Annahmen bis ins Jahr 2060 Angst auslösen?

 

Mathias Binswanger: Die Branche hat tendenziell das Gefühl, dass sich der Staat sonst zu wenig sorgfältig verhält. Aber es geht vermutlich auch um gewisse Interessen. Wenn die AHV als unsicher dargestellt wird, gewinnt die zweite und dritte Säule an Bedeutung und dort mischen die Banken, im Unterschied zur AHV kräftig mit. Die Vorsorge ist letztlich auch ein grosses Business.

 

faktuell.ch:  Die Anreize im Gesundheitssystem sind zu gross, um die Kosten zu dämmen. Dasselbe gilt im übertragenen Sinn auch für die Migration. Sie sind der Meinung, dass die Schweiz die Zustände in den Herkunftsländern nicht ändern kann, also müssten wir die Schweiz als Destination unattraktiv machen. Wie soll das konkret gehen?

 

Mathias Binswanger: Das Problem ist, dass man in der Schweiz nach wie vor von einer Fiktion ausgeht, nämlich von der Fiktion des „politischen Flüchtlings“. Den gibt es aber nur in seltenen Fällen. Zu uns kommen in erster Linie ökonomische Flüchtlinge aus absolut verständlichen Gründen. Sie sind bereit, alles zu riskieren, um ihr Land zu verlassen. Aber nicht, weil sie politisch verfolgt werden, sondern weil die wirtschaftliche Situation in ihrem Land desolat ist. Doch in der Schweiz sind sie dazu gezwungen so zu tun, als ob sie politische Flüchtlinge wären. Diese Tatsache müssten unsere Politiker endlich grundsätzlich anerkennen. Dann würde auch das Theater um die Einstufung einzelner Länder aufhören, aus denen Menschen reingelassen werden und dann plötzlich wieder nicht.

 

faktuell.ch: Sie kritisieren auch die Kommunikation der Behörden, nämlich dass vorgetäuscht werde, Flüchtlinge würden auch abgewiesen…

 

Mathias Binswanger: … wenn sie einmal hier sind, bleiben sie auch. Das ist der Anreiz: zu wissen, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben kann, auch wenn man abgewiesen wird. Sobald diese Menschen hier sind, kann man sie kaum mehr wegweisen. Es ist illusorisch Leute zurückzuschicken, die jahrelang in der Schweiz gelebt haben. Diese vorwiegend jungen Männer sind hier, dürfen aber nicht arbeiten und bekommen wenig Geld. Da ist der Weg in die Kriminalität nicht weit. Wir schaffen damit eine unglückliche Situation.

 

faktuell.ch: Besonders umstritten ist die Aufnahme von Eritreern.

 

Mathias Binswanger: Die grundsätzliche Aufnahme aller Eritreer war ein vorschneller Entscheid, ohne die Situation im Lande wirklich zu kennen. Generell sollten wir die Schweiz jedes Jahr für eine begrenzte Anzahl an Wirtschaftsflüchtlingen öffnen, ohne Eritreer zu bevorzugen. Man kann dann auch Kriterien definieren und Anreize setzen, wer kommen darf. Überlegenswert wäre auch, in den Herkunftsländern Schulen zu eröffnen und den besten Absolventen zu erlauben, sich danach in die Schweiz weiterzubilden und unter Umständen auch dort zu arbeiten. Die Prüfungen in solchen Schulen müssten allerdings von der Schweiz aus durchgeführt werden, da sonst sofort mit Korruption gerechnet werden muss. Es geht also darum, vor Ort in Ländern wie Eritrea Massnahmen zu ergreifen, was zugegebenermaßen nicht immer einfach ist. Aber man sollte zumindest einmal Versuche in diese Richtung unternehmen.

 

faktuell.ch: Forschungsinstitute beziffern die jährlichen Kosten, die eine Million Flüchtlinge in Deutschland verursachen, je nach Institut auf 15, 30 oder gar 50 Milliarden Euro. Gibt es eine annähernd glaubwürdige Kostenberechnung für die Schweiz?

 

Mathias Binswanger: Nein, nicht dass ich wüsste. Das ist aber normal. Egal, ob es sich um die Kosten von Migranten oder die vom Schwerverkehr verursachten Umweltkosten handelt. Man kann je nach Interessenlage sehr hohe oder sehr tiefe Kosten eruieren, weil es schlicht keine exakten Kriterien für die Abgrenzung gibt. Es ist immer die Frage, was man in die Kostenberechnung miteinbezieht. Sind das bei Migranten nur die unmittelbaren Kosten, die sie verursachen oder soll man weiter blicken und Annahmen treffen, wie viele von ihnen später arbeitslos bleiben, oder welche Kosten sie in Zukunft für unser Gesundheitssystem verursachen? Es ist die Frage, wo man da die Grenzen zieht. 

 

faktuell.ch:  Gut, aber eine aktuelle Vollkostenrechnung, wie es sie in anderen Bereichen auch gibt, müsste doch möglich sein. Wo klemmt’s?

 

Mathias Binswanger: Wahrscheinlich will man die Kosten so nicht ausweisen, weil sie sehr hoch sind. Es besteht wohl die Furcht, dass die Vollkostenrechnung die Stimmung in der Schweiz nicht zugunsten der Regierung beeinflussen würde.

 

faktuell.ch: Wäre es nicht ein hehrer Auftrag für Ökonomen, die Kosten für das laufende Jahr zu erheben?  

 

Mathias Binswanger: Das ist schwierig, weil man die Zahlen dazu erhalten müsste. Und die Zahlen erhält man nur, wenn dies politisch auch erwünscht ist. Sonst ist man auf Schätzungen angewiesen. Bei den Migrationskosten geht es auch um Anwaltskosten, Sozialhilfe, Kosten für medizinische Untersuchungen, Kosten für Polizeieinsätze etc.

 

 

Dr. rer.pol. Mathias Binswanger, Ökonom und Publizist, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St.Gallen. Er beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von (Finanz-) Wirtschaft und Gesellschaft, von Glück und Einkommen und dem Wettbewerb in Forschung, Bildung und Gesundheitswesen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Das Gespräch fand im Oktober 2017 statt)

 


Urban Laffer: „In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines.“

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Urban Laffer, Doyen der Schweizer Chirurgen, über die Kostentreiber im Gesundheitssystem

 faktuell.ch: Herr Prof. Laffer, vom Krankenversicherungsgesetz (KVG) hatte man sich bei der Einführung 1996 kostendämpfende Wirkung versprochen. Wo ist sie geblieben?

 

Urban Laffer: Wer vor 20 Jahren fürs KVG stimmte, wusste nicht, worauf er sich einliess. Die Leute sind mit tieferen Prämien gelockt worden; diese sind aber nicht gesunken. Das hängt allerdings nicht mit dem KVG zusammen, sondern mit der Entwicklung der Medizin, welche die heutigen Behandlungen teurer macht.

 

faktuell.ch: 1996 kamen etwas mehr als 20 Prozent der Versicherten in den Genuss von Prämienverbilligungen durch Steuermittel, heute sind es, je nach Kanton, 30 und mehr Prozent. Ist ein System, das sich nur mit Steuermitteln behaupten kann, ein gutes System?

 

Urban Laffer: Die Prämien sind in der Tat massiv gestiegen und nicht proportional zur Einkommensentwicklung. Insofern ist die Vergünstigung für viele sicher sinnvoll und schlicht auch nötig.

 

faktuell.ch: Wie viel Solidarität jener, die die vollen Prämien bezahlen müssen, ist zumutbar? Wäre es nicht gerechter, die obligatorische Grundversicherung gleich für alle über die Steuern zu finanzieren?

 

Urban Laffer: Im Endeffekt wäre es wieder dasselbe. Wer gut verdient, bezahlt für die anderen. Mich stört nur ein Punkt. Ich habe in meiner Tätigkeit viele Leute kennengelernt, die arbeiten und Steuern bezahlen könnten, dies aus Bequemlichkeit aber einfach nicht tun.

 

faktuell.ch: Was halten Sie vom Vorschlag der Santésuisse, die Minimalfranchise von 300 auf 500 Franken anzuheben, um die Eigenverantwortung zu erhöhen?

 

Urban Laffer: Einen gewissen Effekt hätte die Erhöhung schon. Heute geht man viel schneller zum Arzt als früher. Und der Arzt muss sich jedem annehmen, auch wenn er nur Zeit blockiert, die er für echte Patienten brauchen könnte.

 

faktuell.ch: Wer nur allgemein und erst noch mit Höchstfranchisse von 2500 Franken versichert ist, fährt besser als Zusatzversicherter (halbprivat, privat), wenn er einmal ins Spital muss. Denn mit den eingesparten Prämien kann er sich locker den Komfort eines Einzelzimmers leisten.

 

Urban Laffer: Wenn ein Flugzeug abstürzt, geht es in der ersten und in der Holzklasse allen gleich. Der Pilot kann für die Passagiere erster Klasse nicht besser aufpassen. So ist es auch in der Medizin, mit oder ohne Einzelzimmer. In der Tat ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand jedes Jahr zum Arzt muss, bis etwa 50 gering. Bis dahin kann man sich schon einen gewissen Stock für Spitalkomfort anlegen.

 

faktuell.ch: Bleiben die beiden Vorteile der Zusatzversicherten, den Arzt und das Spital frei wählen zu können.

 

Urban Laffer: Die öffentlichen Spitäler sind Weiterbildungskliniken. Wir bilden den Nachwuchs aus. So gesehen sind das – gerade in der Chirurgie – Lehrlinge. Als Allgemein-Patient nehmen sie in Kauf, dass sie ein Lehrling operiert. Das macht vielen Menschen Angst. Sie kommen ins Spital und es operiert sie irgendwer...

 

faktuell.ch: … der Patient als Versuchskaninchen…

 

Urban Laffer: Neinnein. Wenn ich bei einer Ausbildungsoperation assistierte, passte ich viel besser auf, als wenn ich selber operierte und mir meine grosse Erfahrung zustatten kam.

 

faktuell.ch: Gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwischen öffentlichen und privaten Spitälern?

 

Urban Laffer: Es ist kein eigentlicher Konkurrenzkampf. Die Behandlung im Privatspital ist für die Versicherung teurer. Auch die Honorare der Belegärzte sind höher, weil sie einen Praxisstillstand geltend machen können, was ihnen ausgeglichen wird.

 

faktuell.ch: Kein Kampf um gut betuchte Patienten nach Massgabe von: Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen?

 

Urban Laffer: Das öffentliche Spital muss alle nehmen. Darunter leiden sie zum Teil. In der Cafeteria des öffentlichen Spitals sehen sie die sozialen Probleme einer Gesellschaft. Im privaten Spital haben sie das nicht. Sie können ihre Patienten wählen und andere an die öffentlichen Spitäler verweisen.

 

faktuell.ch: Die Gesundheitskosten in der Schweiz belaufen sich auf rund 70 Milliarden Franken im Jahr, Tendenz steigend. Als besonderer Kostentreiber erweisen sich die Spitäler: von 2011 auf 2012 sind zum Beispiel allein die Spitalausgaben um 2,3 Milliarden oder 9,8 Prozent auf fast 20 Milliarden gestiegen, was rund 2500 Franken pro Einwohner entspricht. Was sind die wichtigsten Gründe dieser Kostenexplosion?

 

Urban Laffer: Allein die Lebenserwartung ist in den letzten 50 Jahren im Durchschnitt um 20 Jahre gestiegen. Dieser Fortschritt hängt mit besseren Medikamenten zusammen, mit generell besserer Gesundheitsversorgung und der Behandlung der Krankheiten. Wenn ich nur die riesigen Fortschritte betrachte, die die Chirurgie in den letzten 20 Jahren gemacht hat…

 

faktuell.ch: ...bis hin zur heutigen Schlüsselloch-Chirurgie…

 

Urban Laffer: …nicht allein wegen der Technik, sondern auch, weil wir daraus viel über die Physiologie gelernt haben, was wir bei andern Operationen anwenden können. Als ich vor 40 Jahren Assistent beim Kantonsspital Basel war, erhielt ein Gallenblasen-Patient mindestens fünf Tage nichts zu essen und musste sicher fünf weitere Tage im Spital bleiben. Heute erhält er nach dem Aufwachen sofort etwas zu essen und ist nach drei bis fünf Tagen wieder zuhause. Als ich vor Jahren meine Arbeit in Biel aufnahm, lag ein Patient im Durchschnitt 13 Tage im Spital, heute sind wir bei 5,5 Tagen.

 

faktuell.ch: Dafür liegt der Patient jetzt länger in der Rehab-Klinik und bezahlt die Sozialindustrie mit Hotelbetrieb statt das Spital.

 

Urban Laffer: Das ist etwas anderes. Früher war der Familienzusammenhalt besser. Der Patient, der nach Hause kam, konnte auf die Pflege in der Familie zählen. Heute muss man für sehr viele – vor allem ältere Patienten – Aufenthaltsorte suchen, weil man weiss, dass sie, auf sich allein gestellt, sich in ihrer Wohnung nicht versorgen können, und sei es nur, dass jemand für sie kochen würde. Das macht das Gesundheitswesen natürlich auch teurer.

 

faktuell.ch: Seit 2012 gilt schweizweit eine neue Spitalfinanzierung: Pauschalfinanzierung dank einheitlicher Zuordnung der Fälle in nach Schweregrad gewichteten Diagnosegruppen („DRG“), multipliziert mit dem verhandelten Preis, der Base Rate.. Im Zeichen von Effizienzsteigerung sollten die Spitäler ihre Leistungen steuern. Wie muss man sich diese Steuerung vorstellen?

 

Urban Laffer: Je grösser eine Operation ist, je mehr Krankheiten der Patient sonst noch hat, desto mehr steigt die Fallschwere bzw. pro Patientengruppe der Case Mix Index  (CMI), bis um das mehrfache der Fallpauschale. Umgekehrt das andere Extrem: Ein Kind, das ja im Prinzip gesund ist, hat beispielsweise bei einem Leistenbruch einen Cost Weight  von etwa 0,3. Das heisst, es steht nur ein Drittel der Fallpauschale zur Verfügung. So wird gesteuert.

 

faktuell.ch: Entscheidend für den Wettbewerb sind aber die schweizweit einheitlichen Fallpauschalen. Sie, Herr Laffer, waren schon bei der Einführung skeptisch, ob die Kantone diese Änderung mittragen würden. War ihre Skepsis berechtigt?

 

Urban Laffer: Grundlage eines fairen Wettbewerbs wäre die freie Spitalwahl. Es ist aber vor der Einführung der neuen Spitalfinanzierung verpasst worden, für alle Spitäler die gleiche Ausgangslage zu schaffen.

 

faktuell.ch: Inwiefern?

 

Urban Laffer: Im Prinzip sollte ein Spital heute nur haben, was es aus der Fallpauschale einnimmt – 45 Prozent zahlen die Versicherungen, 55 Prozent der Kanton. Darüber hinaus sollte der Kanton seine Spitäler eigentlich nicht mehr subventionieren dürfen. Aber das wird hintergangen. Unterschiedliche Fallpauschalen, wobei die Patienten die Differenz selber berappen müssen und nicht ihr Kanton, sind nur das eine; Kantone, die ihre Spitäler mit Steuergeldern „aufrüsten“, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben, das andere. Also kann man die freie Spitalwahl schon wieder vergessen.

 

faktuell.ch: Worin besteht denn der Wettbewerb, wenn die Kosten in allen Spitäler gleich hoch sind – nur in der Reputation?

 

Urban Laffer: Genau. Wir haben in der Schweiz 140 Akutspitäler. 40 würden ausreichen. In den USA, wo ich zwei Jahre gearbeitet habe, nehmen die Patienten Anfahrtswege von einem halben oder einem ganzen Tag auf sich. In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals aus nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines. Mit Schliessungen könnte man aber effektiv Kosten sparen.

 

faktuell.ch: Unser hochstehendes Gesundheitssystem zieht betuchte Patienten aus dem Ausland an. Subventionieren wir mit unseren Steuern und Krankenkassenprämien wohlhabende Ausländer?

 

Urban Laffer: Nein. Sie bezahlen die vollen Kosten. Und ihr Ansatz ist so hoch, weil sie sich das auch leisten können. Ein Spital, das sich das entsprechende Renommee aufgebaut hat, muss das auch tun, weil es da um zusätzliche Einnahmen geht.

 

faktuell.ch: Stichwort: Ökonomie. Passen ökonomische Effizienzüberlegungen überhaupt zum Gesundheitsbetrieb, zum Beruf des Arztes, der doch alles in seiner Macht stehende tun sollte, um dem Patienten zu helfen?

 

Urban Laffer: Heute ist der Arzt zu ökonomischen Überlegungen aufgefordert, weil alles, was er macht, unter die Fallpauschale fällt. Also muss er überlegen, ob eine bestimmte Untersuchung wirklich sinnvoll ist. Oder soll er den Patienten nach Hause entlassen und ihm empfehlen, die Untersuchung beim Hausarzt zu machen, was der Kasse wieder verrechnet werden kann.

 

faktuell.ch: Mit andern Worten: Nichts unversucht zu lassen, ist zu teuer; etwas zu unterlassen aber für den Patienten gefährlich – und für den verantwortlichen Arzt unter Umständen teuer?

 

Urban Laffer: Falsch. Ich komme auf die KVG-Abstimmung von 1996 zurück. Der Bevölkerung hat damals kein Mensch erzählt, was mit einer Annahme des neuen KVG auf die Gesunden zukommen würde…

 

faktuell.ch: ...auf die Gesunden?

 

Urban Laffer: Ja, dass sie mit dem ökonomischen Denken in der Medizin Abstriche auf sich nehmen müssen. Dass man beispielsweise einen Arzt nicht mehr einklagen kann, wenn er etwas nicht untersucht. Oder wenn ein Patient noch drei Tage länger im Spital bleiben wollte, weil zuhause sein Badezimmer renoviert wurde, hat man das selbstverständlich erlaubt. Heute geht das nicht mehr. Das sind Dinge, die der Bevölkerung nicht bewusst waren, als sie dem neuen KVG zugestimmt hat.

 

faktuell.ch: Eine OECD-Studie, die die Häufigkeit von 5 Operationen untersucht hat, stellte fest, dass die Schweiz bei den meisten Operationen zur Gruppe der Länder mit einer hohen Rate gehört. Wir bei uns zu viel operiert?

 

Urban Laffer: Zum Teil, ja.

 

faktuell.ch: Erklärt das die gewaltige Zunahme gewisser Operationen – beispielsweise der Knieprothesen-Operationen, die sich innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt haben?

 

Urban Laffer: Die Knieprothese gibt es noch nicht so lange, und sie hatte am Anfang noch ihre „Kinderkrankheiten“. Heute weiss man, dass es gut herauskommt, dass auch computerassistiert navigiert wird, damit die Flächen richtig stimmen. Das erklärt einen Teil der Zunahme. Der andere hat damit zu tun, dass die Menschen älter werden…

 

faktuell.ch: ...dank der medizinischen Fortschritte…

 

Urban Laffer: … und dank den Ansprüchen der Patienten, die sich verändert haben. Ich wuchs in einem Dorf auf. Da sah ich viele Bauern unter Schmerzen aufs Feld humpeln. Als ich schon Arzt war, riet ich ihnen, die Hüfte untersuchen zu lassen. Aber sie meinten, das gehe ganz gut so, wie es sei. Heute sind wir weniger bereit, mit Schmerzen zu leben. Lebensqualität geht vor.

 

fakutell.ch: In der Schweiz kommen auf 8 Millionen Einwohner 900 Orthopäden, in den Niederlanden auf 17 Millionen nur 650. Ist das der Grund, dass bei uns häufiger zum Skalpell gegriffen wird, wie Bernhard Christen sagte, der frühere Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie?

 

Urban Laffer: Das hat schon einen Einfluss. Es geht immer auch ums Überleben.

 

faktuell.ch: Wäre für Sie eine Altersbeschränkung für Operationen vertretbar, wie sie beispielsweise in Grossbritannien diskutiert wird?

 

Urban Laffer: Nein. Ich hoffe sehr, dass wir in der Schweiz nie so weit kommen, dass wir Altersbeschränkungen für medizinische Behandlungen einführen. Bevor wir rationieren, gibt es noch viel zu rationalisieren.

 

faktuell.ch: Klingt nach weniger Komfort?

 

Urban Laffer: Wir sollten uns bewusst sein, wie hochstehend unser Gesundheitswesen ist. Täglich wird geputzt, die Bettwäsche gewechselt, es gibt drei Menus zur Auswahl etc. Da gibt es noch sehr viel Luxus. In Italien bringen die Angehörigen das Mittagessen ins Spital. Komfort hat einen Preis. Wenn gespart werden muss, sollten wir uns in Ruhe überlegen, was sinnvoll ist und was nicht. Mir ist wichtig, dass die Bevölkerung weiss, wie die Konsequenzen von Sparmassnahmen aussehen, und dass man nicht einfach die Leistungserbringer zum Sparen auffordert.

 

faktuell.ch: Vielleicht ist der Leistungskatalog der Krankenkassen zu breit?

 

Urban Laffer: Das beschäftigt mich schon lange. Aber es ist fast nicht möglich, etwas zu ändern. Heute gibt es Bestimmungen, welche Leistungen nicht bezahlt werden. Aber eine Richtlinie oder Verfügung, welche Leistungen bezahlt werden, gibt es nicht. Wir haben eine Negativliste, aber es fehlt eine Positivliste.

 

faktuell.ch: Gehört die Schönheitschirurgie in den Leistungskatalog?

 

Urban Laffer: Nein, nur die Wiederherstellungschirurgie wie Brustimplantate nach Krebsoperationen oder schlecht verheilte Narben nach Verbrennungen.

 

faktuell.ch: Ein Arzt, der reine Schönheitschirurgie macht, ist eigentlich ein Restaurateur. Die mittlerweile zu einiger Prominenz aufgestiegene Daniela Katzenberger bezeichnet sich als lebendes Ersatzteillager. Wo hört der Spass auf?

 

Urban Laffer: Die Person, die so etwas macht, fällt einen persönlichen Entscheid, der die Allgemeinheit nicht belastet. Problematisch, aber kaum anders zu lösen,  ist allerdings, dass die Versicherungen die Komplikationen solcher Eingriffe zahlen müssen, weil sie unter Krankheit laufen.

 

faktuell.ch: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) spielt im schweizerischen Gesundheitssystem eine Schlüsselrolle. Brauchen wir überhaupt einen gesundheitspolitischen Vormund, wie es das BAG für viele darstellt?

 

Urban Laffer: Wir nähern uns in der Gesundheitspolitik tatsächlich einer Planwirtschaft, statt dass wir den Wettbewerb spielen lassen und gewisse Entscheidungen noch selber treffen können. Das BAG mischt sich immer öfter in die Gesundheitsbehandlung ein, die nicht seine Aufgabe ist. Beispielsweise kann es die Qualitätssicherung, für die sich das Amt jetzt stark machen will, ruhig den medizinischen Fachgesellschaften überlassen.

 

faktuell.ch: Befürchten Sie den manchmal fast missionarisch anmutenden Eifer der Gesundheitsbeamten?

 

Urban Laffer: Nein. Prävention kann ich akzeptieren, solange es bei Empfehlungen bleibt. Sie können als Bürger mitmachen oder nicht. All diese Kampagnen im Namen der Volksgesundheit bewirken, dass die Bevölkerung noch älter wird, die Behandlungen noch teurer werden, und dass wir immer mehr Posthospitalisations-Institutionen brauchen, mehr Pflegeheime – das ist der Effekt.

 

faktuell.ch: Wer ist im Seilziehen der wechselnden Interessen zwischen Patienten, Ärzten, Pharmaindustrie, Krankenkassen und Staat, also BAG, Kostentreiber?

 

Urban Laffer: Das sind alle. Unsere Politiker sind sich dessen aber nicht immer bewusst. Ein Beispiel: Die Übernahme von EU-Normen nach dem Rinderwahnsinn hat das Spital Biel 3,5 Millionen gekostet. Früher hatte man ein Instrumentarium, das nach Gebrauch gewaschen, dann sterilisiert und dann wieder gebraucht wurde. Seit dem Rinderwahn ist das nicht mehr ausreichend. Dabei gibt es eine Statistik, die zeigt, dass in England mehr Lastwagenchauffeure beim Abtransport von getöteten Rindern starben, als Patienten an Rinderwahnsinn.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

 

(Das faktuell.ch-Gespräch mit Prof. Urban Laffer hat im Mai 2015 stattgefunden.)

 

 


Urban Laffer,

Professor für Chirurgie, war von 1995 bis Ende April 2015 Chefarzt der Chirurgischen Klinik am Spitalzentrum Biel. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrere Standesorganisationen präsidiert, so die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie (2002-2004) und den Verband der chirurgisch und invasiv tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz (seit 2004)


Heinz Locher: «Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh.»

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Heinz Locher, Gesundheitsökonom, Unternehmensberater, Publizist und Dozent

 

Heinz Locher

 

faktuell.ch: Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 haben sich die Prämien verdoppelt. Trotz des politischen Versprechens von damals, alles werde billiger. Kostentreiber sind alle Mitspieler im Gesundheitswesen: Ankurbler Wissenschaft / Pharmaindustrie, umsatzinteressierte Krankenkassen, Spitäler und Ärzte, anspruchsvolle Versicherte und eine Politik, die die Exzesse nicht kontrollieren kann. Beginnen wir mit der Wissenschaft. Wie kann man sie bremsen, laufend neue Krankheiten zu finden, Herr Locher?

 

Heinz Locher: Die muss man nicht bremsen. Die Wissenschaft hat ihre eigene Gesetzmässigkeit. Der Wissenschafter muss tun, was es braucht, um in den Peer Review- Zeitschriften publizieren zu können. Peer Review (Gutachten von Gleichrangigen zwecks Qualitätssicherung) erzeugt einen Konformitätsdruck. Ganz originelle Typen haben keine Chance, den Gutachtern zu genügen. Wissenschafter befassen sich mit hoch aktuellen Themen, von denen sie sich eine gewisse Resonanz versprechen. Für gute Resonanz gibt es Forschungsgelder und mit der Forschung den Vorsitz in Beiräten oder die Rolle als Mitherausgeber von wissenschaftliche Publikationen. Diese Gesetzmässigkeit orientiert sich nicht unbedingt nach den Bedürfnissen der Bevölkerung. Das ist ein Problem. Wenn sich ein Wissenschafter diesem Druck entziehen will, muss er es sich finanziell leisten können und bereits ein sehr hohes Prestige haben. Da haben wir eine gewisse Tragik.

 

faktuell.ch: Eine weitere Preis-Ankurblerin ist die Pharmaindustrie.

 

Heinz Locher: Die Pharmaindustrie ist dazu verdammt, ihren Aktionären zu gefallen. Ob die Pharmapreise zu hoch sind, kann man nicht den Pharmapreisen ablesen, sondern am exorbitanten Wert der Firmen bei Fusionen oder Verkäufen. Für mich heisst das: Mehr öffentliche Mittel in die Forschung investieren. Wir, die Bevölkerung, müssen bereit sein, das Geld via Steuern statt via Prämien zu bezahlen. Das wäre für mich ein Korrekturfaktor. Das ist nicht sehr populär, aber entweder wollen wir ein Ergebnis erzielen oder Ideologien folgen.

 

faktuell.ch: Ist nicht endlich eine ethische Diskussion darüber nötig, bis in welches Alter teure Operationen und Medikamente für jedermann sinnvoll sind?

 

Heinz Locher: Das ist eine Frage des Gesichtspunkts. Ist es aus Patientensicht sinnvoll, einer 93jährigen Frau Chemotherapie zu geben, wenn die Lebensverlängerung darin besteht, drei Monate länger an Schläuchen zu hängen. Das ist nicht sinnvoll. Einverstanden. Aber aus Kostensicht muss ich sagen, eine Rationierung brauchen wir wirklich nicht.

 

faktuell.ch: Lebensverlängerung ist das eine. Wie sieht es aus, wenn bei einer schwangeren Frau festgestellt wird, dass der Embryo schwer geschädigt ist, im Leben nur vegetieren und die Gesellschaft viel Geld kosten wird?

 

Heinz Locher: Das soll die Frau entscheiden. Wir verschwenden in der Schweiz derart viel Geld für Unnötiges, da liegt das drin. Von dieser Diskussion sind wir bei unseren jetzigen Gesellschaftsverhältnissen noch weit, weit entfernt.

 

faktuell.ch: Krankenkassen sind gewinnorientiert. Sie möchten möglichst wenig kranke Versicherte und möglichst hohe Prämien.

 

Heinz Locher: Die Krankenkassen sind die grössten Versager im System. Sie machen ihren Job nicht. Krankenkassen interessieren sich – zugegebenermassen etwas zugespitzt und verkürzt gesagt - für die Risikoselektion von Versicherten, für die Optimierung der Maklergebühren, für den Bonus des CEO. Eigentlich sollten sie Treuhänder der Versicherten sein und Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitssystems in deren Sinne tragen aber das kann man vergessen. Sie wären wichtig als Korrektiv zu den anderen Kräften, die auch eine Legitimation haben (Kantone, Leistungserbringer). Aber diese Rolle wollen und können sie nicht wahrnehmen. Totaler Ausfall. Damit fehlt ein Player. Es ist wie ein Parallelogramm, bei dem ein Vektor ausfällt. Dann gibt es Verzerrungen.

 

faktuell.ch: Inwiefern versagen denn Spitäler und Ärzte, die betriebswirtschaftlich denken, ihre Maschinen amortisieren und möglichst viele Operationen durchführen müssen?

 

Heinz Locher: Als Unternehmensberater sehe ich, unter welchem Druck sie stehen: «survival of the fittest», also purer Darwinismus. Dem kann sich keiner entziehen und wird davon angetrieben. Ich sehe die Lösung darin, dass die Regulatoren, also Bund und Kantone, durch eine intelligente Regulierung strukturell Voraussetzungen schaffen für anständige Qualität. Die beginnt nicht beim Ergebnis, sondern beim Festlegen von Auflagen, wer wie qualifiziert sein muss, Mindestmengen – also Qualität schon am Anfang.  

 

faktuell.ch: Damit geht es auch in Richtung integriertes Gesundheitswesen, bei dem zu Medizin und Pflege auch soziale, juristische und finanzielle Beratung und Unterstützung kommen?

 

Heinz Locher: Ja, die integrierte Betreuung müsste hinzukommen. Unser Gesundheitswesen ist immer noch auf eine junge Bevölkerung ausgerichtet. Man hat eine Krankheit, einen Unfall und wird geheilt. Erledigt. Bei einer Bevölkerung mit multimorbiden (an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidenden), chronisch Kranken ist das Ziel nicht heilen, sondern erhalten der Lebensqualität. Wir haben Akutspitaler, Ärzte, Spitex, Pflegeheime. Alle leben nebeneinander her, alle haben ein anderes Finanzierungssystem. Also gibt es keine integrierte Versorgung. Und wer koordiniert, wird dafür nicht bezahlt. Die grosse Veränderung muss da stattfinden.

 

faktuell.ch: Und wie soll die zustande kommen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen grosse Wellen: ein neues Gesundheitsverständnis, eine neue Erwartungshaltung, aber nicht im Sinn von Verzicht, sondern von einer Neustrukturierung des Versorgungssystems. Es muss der Zusammensetzung der Bevölkerung gerecht werden, also auf multimorbide, chronisch Kranke ausgerichtet sein.

 

faktuell.ch: Braucht es eine der – oft umstrittenen – Aufklärungskampagnen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG)?

 

Heinz Locher: Nein, das bringt nichts. Aufklärung, Prävention kann das BAG punktuell machen. Bei HIV beispielsweise war das sinnvoll. Aufklärung ist gut, aber nicht nur Aufgabe der Behörden. Primär muss die Bewegung von unten kommen, «grass root». Es ist in der Schweiz fast revolutionär, wenn man fragt, was denn gut wäre für die Versicherten. Da käme man weit weg von den gängigen Themen in der Gesundheitspolitik.

 

faktuell.ch: Wie am besten vorgehen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen jemanden, der die Interessen der Bevölkerung vertritt. Die Patientenstellen sind zu schwach und haben auch kein Geld. Vielleicht ist die Zeit reif für das Projekt «TCS für Versicherte und Patienten»

 

faktuell.ch: Stellen wir doch noch die politische Verantwortungsfrage: Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 verzeichnen wir vier Vorsteher des Eidg. Departements des Innern: Dreyfuss, Couchepin, Burkhalter und Berset. Weshalb ist es der Gesundheitsministerin Dreyfuss und den drei Gesundheitsministern nicht gelungen, die Kostenexplosion zu stoppen? Sind sie schlecht beraten oder ist das System zu träge?

 

Heinz Locher: Das System ist nicht zu träge. Es geht einfach allen immer noch zu gut.

 

faktuell.ch: Es geht uns zu gut?

 

Heinz Locher: Ja, allen. Jetzt gibt es allerdings erste Erosionserscheinungen. Die schwarze Liste. Oder Leute, die eine Franchise von 2500 Franken wählen und nicht zum Arzt gehen können. 10% der Bevölkerung können die Franchise nicht bezahlen. Das sind Zerfallserscheinungen. Uns bleibt immerhin noch eine Chance. Ich war starker Befürworter des Krankenkassen-Obligatoriums. Krankheit sollte nicht ein Verarmungsgrund sein. 

 

faktuell.ch: Das Problem wird gelöst mit Prämienverbilligungen…

 

Heinz Locher: …oder eben nicht mehr. Ich bin der Meinung, dass man die Belastung der Haushalte deckeln muss, bei etwa 10% des Haushaltbudgets. Alles andere geht zu Lasten der Steuerzahler. Die Steuern sind – im Unterschied zu den Prämien – progressiv. Man muss dafür sorgen, dass das Ventil, nämlich höhere Prämien, gestopft wird, dann gibt es höhere öffentliche Ausgaben. Das ist vordergründig eine blosse Verlagerung der Finanzierung. Hintergründig aber nicht. Denn einer, der sich nicht wehren kann, wird ersetzt durch einen, der sich wehren kann, nämlich durch die Kantone. Die müssen zahlen. Die Kantone können entscheiden, was und wie viel sie sich leisten wollen und damit sind die Ausgaben demokratisch legitimiert. Denn es findet eine Diskussion mit der Bevölkerung darüber statt, wie viel das Gesundheitssystem kosten darf. Was wir für die Gesundheit ausgeben, können wir nicht für die Bildung ausgeben und der Steuerzahler hat das Geld auch nicht mehr im Sack, um damit zu tun, was er will. Diesen demokratisch legitimierten, zwingend informierten Diskurs muss es geben. Vielleicht ist die Bevölkerung bereit, mehr für das Gesundheitswesen auszugeben. Ich bezweifle allerdings, dass man mehr ausgeben kann als heute. Wir geben schon viel zu viel aus für überflüssige Leistungen. Das ist eben nicht wie beim Schwimmer im WC-Spülkasten. Wenn der oben ist, stellt das Wasser ab. So einen Schwimmer haben wir nicht im Gesundheitswesen.

 

faktuell.ch: Geht es da nicht auch um eine ideologische Frage. Wer für Solidarität ist, will Staat, wer Wettbewerb befürwortet, will ihn nicht.  

 

Heinz Locher: Man muss Bund und Kantone bestrafen für ihre Nicht-Tätigkeit. Der Bund bezahlt den Kantonen einen Fixbeitrag an die Kosten, 7,5%. Der Bund hat eine gewisse Verantwortung für die Zulassung von Leistungen und Preisen. Ich bin der Meinung, das muss man verdoppeln. Der Bund muss auch mehr bluten, die Kantone die Hauptlast tragen und den Rest bezahlen. Es muss weh tun. Die Prämie a gogo erhöhen geht nicht. Selbstbehalt und Franchise sind ohnehin schon hoch. Anlässlich der Budgetdebatte in der Kantonsregierung wird es dann heissen, der Gesundheitsdirektor sei ein frecher Kerl. Die Regierung hat 40 Millionen Franken zu verteilen und der hat schon 25 kassiert. Und zwar als gebundene Ausgabe. Nichts zu machen. Also werden die Stimmbürger gefragt, ob sie eine Steuererhöhung wollen. Das ist der Mechanismus, den ich sehe. Die Prämienzahler haben natürlich auch ihren Beitrag zu leisten. Langfristig muss man ihre Erwartungshaltung korrigieren. Das dauert eine halbe Generation. In der Zwischenzeit muss man ihnen den Stoff knapphalten.

 

 faktuell.ch: Sie sagen, wir haben noch genug Geld…

 

Heinz Locher: …schon, aber die Finanzierung ist unsozial. Deshalb muss man das stoppen und es muss denen weh tun, die sich wehren können. Und wenn sie sich nicht wehren wollen, wie beispielsweise in Neuenburg, wo die Bevölkerung zwei Spitäler will, sollte man vielleicht eher die Bevölkerung auswechseln als die Regierung…

 

faktuell.ch: Sie haben auch schon gesagt, das Gesundheitssystem in der Schweiz liege am Boden. Umfragen zeigen aber, dass nur ein Prozent der Versicherten damit unzufrieden ist.

 

Heinz Locher: Gut, das hat natürlich einen anderen Zusammenhang. Wenn man das international vergleicht…

 

faktuell.ch: sind wir super…

 

Heinz Locher: …ja, die Frage ist, wo wir super sind. Super sind wir sicher beim so genannten «access», beim Zugang. Noch! Jetzt haben wir aber die schwarze Liste, auf der immer mehr Leute stehen, die nicht mehr zum Arzt gehen können, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen. Die Frage ist, müssen sie oder ich für 300 Franken Franchise und 700 Selbstbehalt Zugang zu 15'000 Ärzten haben? Könnte man mit dem Grundabonnement den Zugang nicht auf 1000 Ärzte beschränken? Das wäre keine echte Einschränkung. Und wenn ein Versicherter mehr will, muss eine Überweisung stattfinden.

 

faktuell.ch: Weshalb wehren sich die Versicherten nicht gegen die laufende Erhöhung der Prämien?

 

Heinz Locher: Weil sie eben zufrieden sind. Um sie aufzurütteln, müsste man ihnen einen «sense of urgency», ein Gefühl der Dringlichkeit vermitteln.

 

faktuell.ch: Und wie kriegen Sie das hin?

 

Heinz Locher: Es gibt die zynische Variante. Dort ansetzen, wo es weh tut. Das geht nicht. Da gehen die Leute unter. Das zeigt sich jetzt bei der schwarzen Liste. Ich finde das absolut skandalös. Wenn Sie die Prämie nicht mehr bezahlen können, kommen sie auf einen Status zwischen Strafgefangenem und Sans Papier. Es kann doch nicht sein, dass sie ihr Leben lang Prämien bezahlen und wenn sie klamm sind, dann nichts erhalten. Aber das wird knallhart durchgezogen. Da ist die Schwangere, die man im Spital nicht entbinden will, weil sie die Prämien nicht bezahlt hat. Solche Fälle gibt es immer häufiger. Leute im Strafvollzug und Asylbewerber sind obligatorisch versichert. Wenn aber ein ausländischer Dieb in der Schweiz in die Kiste kommt, dann ist er nicht KVG-versichert. Er muss den Arzt selber bezahlen. Er hat aber kein Geld. Konkreter Fall: Ein inhaftierter osteuropäischer Dieb hatte Nierensteine. Das ist sehr schmerzhaft, aber es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr. Da wurde medizinisch nichts unternommen. Das ist das Niveau. Das ist die Realität. Und das weiss kaum jemand.

 

faktuell.ch: Sie wissen was zu tun wäre. Weshalb können sich Gesundheitsökonomen politisch nicht durchsetzen?

 

Heinz Locher: Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh. Ich bin der Meinung, dass die Revolution nicht aus Bomben besteht, sondern dass man das System destabilisieren muss. Konstruktiv. Ein Weg, den ich vorschlage: Die Versorgungsverantwortung, die heute die Kantone haben, muss auf den Bund übergehen. Der will das zwar nicht und die Kantone sind auch nicht einverstanden. Aber immerhin haben wir ab 1848 auch die Schweizer Armee eingeführt, den Schweizer Franken, die SBB. Man fragte sich damals, auf welcher Ebene ein Problem gelöst werden muss und kam zum Schluss, dass die nationale Ebene die richtige ist. Das ist nicht ein Kantonsproblem.

 

faktuell.ch: Was heisst das heute für das Gesundheitswesen?

 

Heinz Locher: Wenn man das Gesundheitswesen neu auf Bundesebene ansiedeln würde, dann müssten sich sämtliche Akteure neu bewerben. Die Vögel würden auffliegen vom Telefondraht und man könnte mit Interesse zusehen, wo sie landen. Man müsste nicht alles, wie beispielsweise die Spitalplanung, eins zu eins von den Kantonen auf den Bund übertragen, sondern nur die Regulierungsebene ändern. Der gegenwärtige Gesundheitsminister Alain Berset hat hohen Respekt vor den Kantonen. Das ist realpolitisch vernünftig. Aber von der Sache her überhaupt nicht. Mit den Kantonen will der Bund nicht Krach haben, was heisst, dass keiner für etwas verantwortlich ist. Kollektive Verantwortungslosigkeit. Jeder macht, was er will, keiner was er soll und alle machen mit. Das System bleibt wie es ist, solange nicht eine Katastrophe passiert. Eine Katastrophe scheinen mir allerdings schon die 1000 bis 3000 Toten pro Jahr zu sei, die man vermeiden könnte. Das Gesundheitswesen ist wie Zivilluftfahrt eine Risikoindustrie. Und 20 bis 30 Jahre im Hintertreffen. In den 1990er-Jahren gab es viele Flugunfälle wegen der Hierarchie im Cockpit. Der Kopilot sieht den Fehler, wagt sich aber nicht, den Captain darauf hinzuweisen. Er muss jeden Captain kennen, um zu wissen wie weit er gehen kann, ohne dass seine Karriere im Eimer ist. Genauso ist es heute noch im Operationssaal. Die  assistierende Pflegefachfrau kann nicht einfach sagen, die Blutgruppe sei B, wenn der Herr Professor behauptet, es handle sich um A. Das ist die Hierarchie.

 

faktuell.ch: Es gibt Versicherte, die den Arzt regelmässig aus purer Langeweile oder Ängstlichkeit besuchen. Ist es denkbar, sie für überflüssige Konsultationen bezahlen zu lassen?

 

Heinz Locher: Ja, aber das macht den Braten nicht fett. Schlimm sind die Franchisen. Wer sagt, eine hohe Franchise sei Ausdruck der Selbstverantwortung, der erzählt völligen Nonsens. Eine hohe Franchise sollten – wenn schon - diejenigen wählen, die sie problemlos zahlen können. Leider wird sie aber von denen gewählt, die weder gesund sind, noch sie sich leisten können. Dann liegen sie finanziell am Boden. Solche Dinge muss man aufdecken. Ich bin der Einzige, der Bundesrat Berset, der gegen zu hohe Rabatte für hohe Franchisen war, öffentlich unterstützt hat. Es dürfte eigentlich gar keine höhere Wahlfranchise geben. Wer das Glück hat, gesund zu sein und Geld zu haben, der soll die Prämie bezahlen. Denn wegen der Rabatte fehlt Geld, mit dem man den Kranken helfen könnte. Es muss eine vermehrte Solidarität gesund – krank geben.

 

faktuell.ch:  Die Probleme liegen ausgebreitet vor uns. Woran hapert es politisch und wie lautet Ihr Appell an die grosse Politik, National- und Ständerat?

 

Heinz Locher: Für Gesundheitspolitik braucht es eine enorme Sachkenntnis.  Sonst macht man Blödsinn. Wir brauchen eine neue Generation von verantwortungsbewussten, kompromissbereiten Politikerinnen und Politikern, wie man sie in andern Politikbereichen findet. Steuerreformen und AHV-Revisionen kamen so zustande. Dort übernahmen Parlamentarier Verantwortung und stärkten damit natürlich auch den Bundesrat. Mein Appell: Übernehmt Verantwortung, zeigt Euch, ihr neuen Gesundheitspolitiker! Aber eben: Jeder, der in die Gesundheitskommission kommt, hat am nächsten Tag schon fünf Beirat- und Verwaltungsratssitze. Oder umgekehrt. Die schlimmste Lobby ist nicht die der Krankenkassen, sondern der Pharma. Wenn man den Beiräten der Krankenkassen einen Leistungslohn bezahlen würde, dann müssten die noch Geld herausgeben – bei dem was sie bewirken.

 

faktuell.ch: Also geht es nicht darum, Kosten zu dämmen, sondern das System zu ändern.

 

Heinz Locher: Es geht um Zugang und Qualität. In der Qualität sind wir nicht Weltmeister. Das wird einfach immer behauptet. Wir sind nicht schlecht, aber liegen nur etwa im oberen Drittel. Wir haben aber beispielsweise keine systematischen Qualitätsmessungen im ambulanten Bereich. Und wenn man nichts misst, kann man alles behaupten. Wir sind weit weg vom Idealzustand, insbesondere vom künftigen Idealzustand. Die eine Frage ist, kann die Volkswirtschaft die Kosten bezahlen. Die Antwort lautet ja. Die andere Frage lautet, ob die Finanzierung sozial ist. Die Antwort ist ein deutliches nein. Dort muss man stoppen. Die Betroffenen sollen sich wehren können.

 

Gesprächsführung: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses faktuell.ch-Gespräch hat im Juni 2018 stattgefunden.)

 


Monika Bütler: "Teuer sind nicht die Armen. Teuer ist der Mittelstand, der sich selber finanzieren könnte und es nicht tut."

 

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Monika Bütler, Professorin für Volkswirtschaftslehre und Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen

 

faktuell.ch: Frau Prof. Bütler, Sie sprechen in einer Kolumne von einer „tickenden Anstandsbombe“, wenn von der Finanzierbarkeit des schweizerischen Sozialstaates die Rede ist. Was meinen Sie damit konkret?

 

Monika Bütler: Jedes unserer Sozialsysteme – vielleicht mit Ausnahme der Altersversicherung, in der das Alter zweifelsfrei messbar ist – ist auf einen gewissen Anstand angewiesen, sonst funktioniert es nicht. Mit der Urbanisierung und Globalisierung nehmen die Hemmungen aber ab, Leistungen zu beanspruchen. Bedenklich ist es dann, wenn Leute Leistungen beziehen, die sich selber finanzieren könnten.

 

faktuell.ch: Müsste man jene bestrafen, die Leistungen unkontrolliert abgeben?

 

Monika Bütler: Missbrauch lässt sich nie verhindern. Zudem ist ein Grossteil der Fälle in der Grauzone. Sie sehen einem Menschen nicht an, ob er wirklich nicht arbeiten kann. Empirisch belegt ist allerdings: Je höher die Leistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unberechtigte Leistungen beantragen  – und, gerade weil es oft nicht eindeutig ist. diese Leistungen auch erhalten. Das Problem nur mit Kontrollen zu lösen, ist illusorisch.

 

faktuell.ch: Verschiedene Untersuchungen kommen zum Schluss, dass in der Schweiz auf jeden Sozialhilfebeziehenden mindestens zwei Personen kommen, welche berechtigte Unterstützungsleistungen nicht beanspruchen…

 

Monika Bütler: …da muss man unterscheiden. Es gibt eine grosse Gruppe von Leuten, denen Leistungen auf dem Papier zustehen, die aber nicht wirklich bedürftig sind. Ein Student, der in St. Gallen wohnt, gilt mangels Einkommen auf dem Papier als bedürftig, ist es aber natürlich nicht. Eine zweite Gruppe von Menschen bezieht die Leistungen aus Stolz oder anderen Gründen nicht, obschon sie wenig Geld hat. Viele AHV-Bezüger haben auch das Gefühl, Ergänzungsleistungen seien nur für Leute, die wirklich gar nichts haben, und nicht für solche, die bereits eine AHV-Rente haben. Eine dritte Gruppe kennt die ihnen zustehenden Leistungen nicht.

 

faktuell.ch: Hätte man da nicht die Pflicht, diese Leute auf ihre Ansprüche aufmerksam zu machen?

 

Monika Bütler: Die letzte Gruppe ja. Aber man muss nicht gerade den Schuhlöffel hinhalten Ein gutes Beispiel für mich: Die Stadt Luzern hat Betreuungsgutscheine für Krippen eingeführt. Jetzt zeigt sich, dass plötzlich viele Leute subventionierter Betreuung nachfragen, weil sie endlich wissen, wie sie zu einem subventionierten Platz kommen. Vorher war es so, dass jene, die den subventionierten Platz am meisten brauchten, keinen hatten.

 

faktuell.ch:Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat bekräftigt, dass sie an Leistungen mit Anreizcharakter festhalten will. Warum braucht es Anreize, damit sich jemand Mühe gibt, seine Lage zu verbessern?

 

Monika Bütler: Ich finde das Anreizsystem in der Sozialhilfe eine totale Fehlkonstruktion. Der Unterschied zwischen der Sozialhilfe und einem Erwerbseinkommen müsste den Anreiz bieten zu arbeiten. Offenbar tut sie dies nicht, weil sie zu grosszügig ist – gerade für Junge. Für einen 55-jährigen Ausgesteuerten gilt dies natürlich nicht. Zusätzliche Leistungen zu einer Sozialhilfe, die ohnehin mit dem sozialen Existenzminimum viel mehr als das Existenzminimum abdeckt, halte ich für einen teuren Unsinn. Was schlussendlich als Anreiz verkauft wird, ist in den meisten Fällen ein negativer Anreiz – ein Anreiz, ein paar Stunden zu arbeiten und dann wieder aufzuhören. Solche Anreize hindern die Leute eher daran, aus der Sozialhilfe herauszukommen.

 

faktuell.ch:Die Volkswirtschaftslehre erklärt, dass Individuen mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize reagieren. Kurz: Man nimmt, was aus freien Stücken offeriert wird…

 

Monika Bütler: ...und versucht das Beste draus zu machen. Das gilt nicht nur für Sozialhilfeempfänger, sondern auch für Firmen und Steuerzahler. Es wäre im übrigen sinnvoller, Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten in der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen nicht separat abzurechnen. Die Sozialhilfebezüger sollten den gesamten Betrag erhalten, der ihnen zusteht. Dann können sie selber entscheiden, ob sie mehr für eine Wohnung bezahlen oder ihre Zähne flicken lassen wollen. Das Aufschlüsseln der Leistungen führt eher zu Überkonsum. Gerade der Mietzinswucher in Zürich ist ein gutes Beispiel. Wenn die Sozialhilfeempfänger die Wohnungsmiete von 1100 Franken aus ihren Bezügen selber bezahlen müssten, würden viele ein solches Loch für ihr Geld nicht akzeptieren. Zahlt hingegen der Staat, nimmt man es hin. Gibt man den Leuten das Geld in die Hand, kann jeder damit das Beste für sich machen. Nehmen wir zum Beispiel die Ergänzungsleistungen: Weshalb soll ein alter Mann, der bescheiden in einem ganz kleinen Zimmer wohnt, und dafür jeden Tag sein „Zweierli“ trinken geht, weniger erhalten, als jemand, der Wohn- und Gesundheitskosten ausreizt? Ich finde das nicht besonders liberal. Die Anreize gehen in die falsche Richtung.

 

faktuell.ch: Die Leistungsbezüger sollen selber mehr Verantwortung übernehmen können?

 

Monika Bütler: Genau. Natürlich gibt es Menschen, die das nicht können, ihnen soll man helfen. Die meisten würden aber lernen, einzuteilen.

 

faktuell.ch: Mancherorts verspricht man sich viel vom Einsatz von Sozialinspektoren als Kontrolleure der Anspruchsberechtigung. Was halten Sie davon?

 

Monika Bütler: Ohne Kontrolle geht es nicht. Man kann auf zwei Arten dafür sorgen, dass die Leute sich an die Regeln halten: Entweder man kontrolliert oder man kontrolliert etwas weniger und wer erwischt wird, wird bestraft. Diesen Zielkonflikt gibt es überall, nicht nur in der Sozialhilfe, sondern auch bei den Steuern. Der Anstand der Leistungsbezüger und die Moral der Steuerzahler bilden ein Gleichgewicht, das die Schweiz so lange ausgezeichnet hat. Sinkt der Anstand, leidet die Steuermoral und der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar.

 

faktuell.ch: Auch zehn Jahre nach Einführung der Leistungen mit Anreizcharakter in der Sozialhilfe vermag die SKOS gemäss einer von ihr veranlassten Untersuchung keine „nachhaltige Wirkung“ nachzuweisen.

 

Monika Bütler: Das überrascht niemanden. Bei diesen offensichtlich falschen Anreizen brauche ich keine Studie.

 

faktuell.ch: Zum ersten Mal hat sich die SKOS entschlossen, in ihren Richtlinien Leistungskürzungen zu empfehlen – bisher wurden die Leistungen stets ausgebaut, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration zu fördern. Ab 2016 erhalten Junge und Grossfamilien ab sechs Personen von der Sozialhilfe weniger.

 

Monika Bütler: Die Sozialhilfe ist für mich für Junge immer noch zu hoch. Und sie ist in dieser Form weiterhin ein Hindernis für junge Leute, eine Lehre zu machen. Auch für Familien ist die Sozialhilfe zu hoch. Ich sehe selbst in meinem Bekanntenkreis, dass einige Familien nach den Steuern nicht mehr Geld zur Verfügung haben als eine Sozialhilfefamilie. Da stimmt etwas nicht.

 

faktuell.ch: Darf sich die Sozialhilfe in die Familienplanung einer Grossfamilie einmischen?

 

Monika Bütler: Furchtbar! Das wiederspricht völlig meiner liberalen Ansicht …

 

faktuell.ch: ... auch wenn sie es im Wissen tun, dass sie mit ihrem Verhalten der Allgemeinheit zur Last fallen?

 

Monika Bütler: Die Leute zu bevormunden – das funktioniert einfach nicht. Ich bin eher der Meinung, man sollte die Leistungen knapper ansetzen. Und man könnte auch den Müttern zutrauen zu arbeiten wenn es die Väter nicht tun.  

 

faktuell.ch: Thema Ausländerintegration: Bereits vor dem neuen, grossen Flüchtlingsstrom hat sich gezeigt, dass Arbeitsbeschaffung und Integration der Flüchtlinge ausserordentlich schwierig zu bewerkstelligen sind. Selbst 10 Jahre nach der Einwanderung sind um die 40 Prozent vollständig von der Sozialhilfe abhängig. Sind die Leistungen zu grosszügig?

 

Monika Bütler: Sie sind wirklich zu hoch – ausser für ältere Leute, die den Einstieg nicht mehr schaffen, da sind sie eher zu knapp. Das Problem mit den unqualifizierten Migranten ist, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nie so viel verdienen, um sich ein Leben wie in der Sozialhilfe leisten zu können. Bei Jungen und bei Familien kann man kürzen.

 

faktuell.ch: Die Krankenkasse ist in der Schweiz obligatorisch. 40 Prozent können sie nicht bezahlen und erhalten dafür Prämienverbilligungen. Weshalb können die Gesundheitskosten nicht einfach über die Steuern laufen?

 

Monika Bütler: Trotz aller Kosten ist die obligatorische Krankenkasse  mit Kopfprämie und Subventionen für Geringverdiener letztlich ein Erfolgsmodell. Werden die Gesundheitskosten über die Steuern bezahlt, dann sinkt auch der Druck zu Reformen, weil es für die einzelnen gar nicht mehr ehrsichtlich ist, wie teuer das Gesundheitssystem ist.

 

faktuell.ch: 2,2 Millionen von 8 Millionen Menschen in diesem Land leiden unter psychischen Krankheiten, heisst es im jüngst unbeachtet publizierten Nationalen Gesundheitsbericht. Woran liegt es, dass in einem reichen, vom Wohlstand begünstigten Land wie der Schweiz jeder vierte psychisch angeknackst ist?

 

Monika Bütler: Es gibt heute mehr Diagnosen. Das ist nicht nur schlecht, weil man so gewisse Krankheiten frühzeitig erfassen und behandeln kann. Schizophrenie ist ein sehr gutes Beispiel, weil die Betroffenen heute viel eher beruflich und sozial voll integriert sind. Wenn ein Kind ADHS hat, sind eine frühe Diagnose und damit eine rechtzeitige Therapie sinnvoll. Damit wird dem Kind ein möglichst normales Leben ermöglicht. Aber mehr Diagnosen heisst auch, dass Leute, die vorher ganz zufrieden waren, plötzlich eine Diagnose kriegen. Das ist heikler. Es ist ein Wohlstandsphänomen. Je mehr Wissen und Mittel vorhanden sind, desto mehr wird diagnostiziert. Das ist auch bei körperlichen Krankheiten so. Neurodermitis, Allergien…. alles hat zugenommen.

 

faktuell.ch: 1,4 Mio. Menschen in der Schweiz sind über 65-jährig. Die 800‘000 Babyboomer kommen seit 10 Jahren ins Pensionsalter. Diese sogenannte. Generation Gold, die sich fitter als frühere Generationen fühlt und oft Jugend- und Gesundheitswahn vereint, wird absehbar auch einmal pflegebedürftig. Damit steigen die Gesundheitskosten – eine Studie der Uni St. Gallen rechnet mit 4 Milliarden Franken Zusatzbelastung für die Krankenkassen bis 2030. Was sind die Konsequenzen?

 

Monika Bütler: Das wird uns ziemlich viel kosten. Die Ergänzungsleistungen (EL) sind heute die implizite Pflegeversicherung. Das ist bei niedrigen Einkommen sinnvoll. Die hohen Einkommen zahlen ohnehin selber. Für den ganzen Mittelstand – sicher die Hälfte der Bevölkerung – generiert die Finanzierung über EL falsche Anreize. Erstens kauft niemand eine Pflegeversicherung. Das würde ich wohl auch nicht tun: Jeder Franken aus der Versicherung reduziert die Leistungen aus der EL um einen Franken. Die Versicherung lohnt sich einfach nicht. Und zweitens besteht ein Anreiz, möglichst wenig Vermögen zu haben und möglichst alles Geld auszugeben, damit man möglichst wenig zahlen muss, wenn die finanzielle Notlage eintritt. Teuer sind nicht die Armen. Sie müssen wir immer unterstützen. Teuer ist der Mittelstand, der sich eigentlich selber finanzieren könnte und es nicht tut.

 

faktuell.ch: Also weg mit dem ganzen Anreizsystem?

 

Monika Bütler: Ganz weg davon kommt man nicht. Eine Idee wäre, dass vom Kapital in der zweiten Säule ein Anteil zur Seite gelegt wird für die Pflege. Das bedeutet zwar weniger Rente oder Kapital. Aber es ist ein relativ einfacher Weg, eine Pflegeversicherung einzuführen. Wer 600‘000 Franken Kapital hat bei der Pensionierung, muss beispielsweise 200‘000 davon für eine Pflegeversicherung zur Seite gelegt haben.

 

faktuell.ch: Wie grosszügig ist unser Sozialstaat im internationalen Vergleich?

 

Monika Bütler: Extrem grosszügig! Er ist nur finanzierbar, weil wir erstens einen sehr guten Arbeitsmarkt haben, der so flexibel ist, dass fast alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten können. Der zweite Grund ist, dass die Menschen in der Schweiz immer noch ein Arbeitsethos haben. Allerdings: Wenn die Sozialleistungen zu grosszügig sind, darf man sich nicht wundern, wenn die Arbeitstätigen mehr und mehr frustriert sind, weil ihnen immer weniger bleibt.

 

faktuell.ch: Letzte Frage. Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie an die Zukunft der sozialen Sicherheit in der Schweiz denken?

 

 

Monika Bütler: Wir müssen die Absicherung des Sozialstaates vom traditionellen Familienmodell lösen und an die Vielfalt der Familienmuster anpassen. Persönlich finde ich wichtig, dass wir die Jungen nicht vergessen. Das heisst in erster Linie: Nicht die „Kreditkarte“ der Jungen belasten, sie nicht bezahlen lassen für allzu grosszügige Leistungen. Was man oft vergisst: Die Alten sind nicht so homogen wie es den Anschein macht. Die über 80-jährigen haben selber noch nicht viel gehabt und meist neben den eigenen Kindern noch die Eltern unterstützt. Aber die Babyboom-Neurentner mit zusätzlichen 70 Franken AHV zu alimentieren, ist absurd. Hier geht es um eine Generation, die alles hatte. Die meisten hätten genug sparen können,um sich selber zu finanzieren. Und jetzt hat man plötzlich das Gefühl, man müsse ihnen – zu denen ich selber gehöre – den Übergang in den dritten Lebensabschnitt noch versüssen…

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Dieses Gespräch fand im Oktober 2015 statt)


Annemarie Lanker: "Vor 30 Jahren wäre in der Sozialhilfe niemand auf die Idee gekommen, man müsse einen Klienten zur Arbeit 'anreizen'."

faktuell-ch im Gespräch mit Annemarie Lanker, Sozialexpertin mit fast 40 Jahren Berufserfahrung im Bereich der Sozialarbeit

Annemarie Lanker

faktuell.ch: Frau Lanker, vor allem kleine Gemeinden scheinen durch die Migrationskosten finanziell bereits überfordert, obschon ihnen die grosse Welle der Unterstützungsfälle ja noch bevorsteht. Sie haben in den letzten Jahren Hunderte von Migranten-Dossiers eingesehen. Wo liegt das Problem?

 

Annemarie Lanker: Das sind die teuren Dossiers. Es handelt sich sehr oft um Familien mit mehreren Kindern. Die Klienten sind seit fünf oder sieben Jahren hier. Das sind Leute, die sich hier schon ‘eingerichtet’ haben…

 

faktuell.ch: ... mit dem Anspruch auf Sozialhilfe-Leistungen?

 

Annemarie Lanker: Ja, auf jeden Fall. Die meisten, die ich sehe, sind schlecht oder überhaupt nicht integriert. Sie haben noch nie gearbeitet und können sich mangels Sprachkenntnissen kaum verständigen.

 

faktuell.ch: Was kostet eine solche Familie?

 

Annemarie Lanker: Sie werden gleich behandelt wie eine Schweizer Familie in Notlage. Mit Miete, Krankenkasse, Anschaffungen und Gesundheitskosten, die nicht klein sind, kostet das schnell mal 6000 Franken im Monat - steuerfrei. Und die Chance, dass eine Integration noch gelingt, ist gering.

 

faktuell.ch: Also lebenslange Rente?

 

Annemarie Lanker: Ja. Das ist das Hauptproblem. Das sind teure Dossiers, weil die Familien grösser sind. Ich habe Dossiers gesehen, bei denen die Kosten in wenigen Jahren auf 400'000 bis 600'000 Franken aufgelaufen sind...

 

faktuell.ch: … inklusive die Kosten aus der Zuständigkeit des Bundes, also den ersten fünf Jahren für anerkannte Flüchtlinge bzw. sieben für vorläufig Aufgenommene?

 

Annemarie Lanker: Nein, nur die Schuld, die eine Familie gegenüber dem Sozialamt hat. Es gibt also keine Kostenwahrheit. Und wenn jemand den Kanton wechselt, beginnt dort die Auflistung der Schuld wieder von vorn. Das alles wird wie ein Tabu behandelt. Ich habe kürzlich in einer grösseren Berner Gemeinde eine Untersuchung gemacht, wo bereits heute fast 15 Prozent von allen Sozialhilfebezügern Asylanten und Asylsuchende sind.

 

faktuell.ch: Trotzdem stimmen die Berner Gemeinden zumindest öffentlich bisher noch nicht allzu sehr in das Klagelied etwa der Zürcher ein.

 

Annemarie Lanker: Das hat mit dem Lastenausgleich zu tun. Die Gemeinden können dem Kanton Bern – mit über einer Milliarde Franken der grösste Nehmer-Kanton im Nationalen Finanzausgleich (die Red.) – die Rechnung schicken. Es hat also niemand ein Interesse zu sparen. In Kantonen ohne Lastenausgleich müssen die Gemeinden mit ein paar solchen Familien die Steuern erhöhen. Und die grossen Wellen kommen erst noch. Bereits 2017 wechseln jene rund 50'000 Personen, die 2012 eine Bleiberecht erhalten haben, in die finanzielle Zuständigkeit der Kantone und Gemeinden.

 

faktuell.ch: Wie muss man sich Ihre Überprüfung der Dossiers vorstellen – beraten Sie, wo Einsparungen möglich sind?

 

Annemarie Lanker: In der Regel ist es eine methodische Dossier-Kontrolle, keine Finanzkontrolle. Ich prüfe den Integrationsstatus und gebe individuell pro Dossier Empfehlungen ab. Gewöhnlich erhalte ich für eine bestimmte Klientengruppe einen Auftrag. Meisten sind es solche Fälle, die besonders auf die Kosten drücken –  langjährige Fälle, die schon sehr viel gekostet haben – und eben Migranten.  Die Kosten für Migranten steigen im Moment besonders steil an. Das wird absehbar zu einem heisseren Thema werden als seinerzeit die Sozialhilfe-Missbräuche. Da bin ich sicher.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfequote stagniert seit ein paar Jahren zwischen 2,5 und 2,7 Prozent. Es gibt zwar mehr Fälle, aber sie wachsen proportional zur Bevölkerung.

 

Annemarie Lanker: Wenn wir pro Jahr 100'000 Leute auf den Arbeitsmarkt schleusen – und das sind nicht nur hoch Qualifizierte – hätte im Normalzustand in den letzten Jahren bei dieser guten Beschäftigungslage und bei diesem Bedarf die Sozialhilfequote sinken müssen, und zwar massiv.

 

faktuell.ch: Was halten Sie von Finanzminister Maurers Idee, die Migration über die Finanzen zu entschärfen?

 

Annemarie Lanker:  Er spricht damit die ersten fünf bis sieben Jahre, also die Zeit der Bundeszuständigkeit an. Da sind wir im Vergleich mit Deutschland – Hartz IV – sehr grosszügig.

 

faktuell.ch: Ex-FDP- Chef Müller schlägt vor, die asylsuchenden Migranten nach fünf bzw. sieben Jahren nicht in die Zuständigkeit der Sozialdienste der Kantone und Gemeinden zu geben, sondern bei den Hilfswerken zu belassen, weiter finanziert aus der direkten Bundessteuer. Ist das eine gute Idee?

 

 Annemarie Lanker: Es ist vor allem eine politische Idee. Die Kantone wären sicher nicht dagegen, dass der Bund bezahlt. Ich habe da aber ein Fragezeichen.

 

faktuell.ch: Warum?

 

Annemarie Lanker: Bei den Hilfswerken müsste sich zuerst einiges ändern. Man müsste wohl andere Leute rekrutieren – Leute, die entsprechend ausgebildet sind und konsequent fordern können. Wenn ich die Übertragungsberichte an die  Gemeinden sehe und einen miserablen Stand der Integration nach fünf oder sieben Jahren in der Schweiz feststellen muss, dann…

 

faktuell.ch: … worum geht es da?

 

Annemarie Lanker: In einem solchen Bericht sollte mindestens stehen, was bisher in Sachen Integration unternommen worden ist, was erreicht wurde und was nicht, und was der letzte Stand ist.

 

faktuell.ch: Was läuft falsch?

 

Annemarie Lanker: Wenn jemand fünf oder sieben Jahre in der Schweiz lebt, noch nie gearbeitet hat, keine Landessprache spricht, dann ist er abgeschottet in seinem Kulturkreis. Da kann von Fördern und Fordern keine Rede sein. Wenn jemand aus einem Land wie Somalia oder Eritrea hierherkommt und mit grosszügigen Leistungen der öffentlichen Hand rechnen kann, dann richtet er sich langfristig darauf ein, nicht selten mit dem ganzen Familienclan. Das kann man ihm nicht einmal verübeln; die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat ist in der ganzen Gesellschaft gewachsen, denken wir nur an die Landwirtschaft und den Tourismus; sogar die Chefs der Grossbanken rechnen bei selbstverursachten Krisen mit der Hilfe des Staates.  

 

faktuell.ch: Müssen wir als Gastgeber unsere Integrationsbemühungen verbessern – und wie?

 

Annemarie Lanker:  Integration ist nicht einfach Sache des Gastlandes, sondern auch der Migranten. Es gibt Leute, die wollen sich anstrengen. Sie können sich in relativ kurzer Zeit in einer unserer Sprachen verständigen. Daraus lässt sich der Wille zur Integration ableiten. Aber das ist leider lange nicht immer der Fall, weshalb man den individuellen Integrationsstand regelmässig überprüfen muss.

 

faktuell.ch: Wann soll damit begonnen werden?

 

Annemarie Lanker: Zwei bis drei Jahre nach der Einreise sollte man wissen, wo die Leute stehen. Was haben sie gemacht. Wie stark haben sie sich bewegt. Und dann müsste man den Aufenthaltsstatus ansehen ...

 

faktuell.ch: ... und Betroffene je nach dem nach Hause schicken?

 

Annemarie Lanker: Ja, und zwar mit der Begründung: kein Integrationswille, keine Integrationsbemühungen. Ich mag mich aus meiner Zeit als Leiterin des Sozialdienstes der Stadt Bern daran erinnern, wie wir den Leuten Deutschkurse finanzierten und sie nicht einmal hingingen. Wenn man will und fünf Jahre in der Schweiz ist, dann sollte man die Sprache auch ohne Deutschkurs sprechen können. Das liegt in der Eigenverantwortung.

 

faktuell.ch: Es gibt auch Beispiele, wie Eigenverantwortung erst gar nicht aufkommen kann, wie eine Untersuchung der Luzerner Fachhochschule für Sozialarbeit zeigt. Da werden Leute zu Kursen genötigt, die ihnen nichts bringen. Akademiker und Analphabeten werden durch den gleichen Kurs geschleust, und niemand wird gefragt, welche beruflichen Kenntnisse – beispielsweise als Bauer oder Wildhüter in Afrika – er mitbringt. Sie werden einfach in all diese Billigjobs geschickt mit der Begründung, es gelte die Leute möglichst schnell auf den Arbeitsmarkt zu bringen.

 

Annemarie Lanker: Das ist dumm und darf nicht passieren. Die Problematik ist aber im System angelegt: das Gastland muss etwas tun. Wir haben immer ein schlechtes Gewissen. Das ist unsere Sichtweise. Ich finde aber, dass mindestens 50 Prozent der Anstrengungen von den Betroffenen kommen müssen.

 

faktuell.ch: In Zürich gibt es den «Riesco»-Lehrgang, in dem Leute für die Gastronomie geschult werden. Ein kleines, aber höchst erfolgreiches Projekt: 80 Prozent finden danach eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt...

 

Annemarie Lanker: …ja, das ist eine gute Sache. Aber der Projektleiter sagt den Leuten auch: «Merken Sie sich, auf Sie hat hier niemand gewartet». Das ist so und muss ihnen wirklich gesagt werden. Sie müssen sich anstrengen, ‘s Füdle lüpfe’. Sie können ihre Frau nicht zuhause einschliessen und wenn mehrere Kinder da sind, muss auch die Frau einer Arbeit nachgehen.

 

faktuell.ch: Was nützt es, die Leute möglichst schnell in Billigjobs unterzubringen, sie bleiben ja trotzdem abhängig von der Sozialhilfe?

 

Annemarie Lanker: Das ist eines dieser typischen Killerargumente, die immer wieder kommen. Darauf gibt es zwei Antworten: erstens, sie kosten weniger, als wenn sie nichts tun; zweitens, sie gewöhnen sich im Arbeitsprozess an klare Strukturen und lernen erst noch unsere Sprache.

 

faktuell.ch: Sozialhilfe-Bezüger aus dem Ausland wissen oft höchstens, dass «die Gemeinde» für sie aufkommt, aber nicht, woher das Geld und die Leistungen kommen, die sie beziehen.

 

Annemarie Lanker: Das erinnert mich an einen Klienten aus Algerien, einen faulen Kerl, der nie arbeitete. Er sagte mir eines Tages, er heirate jetzt, die Familie schicke ihm eine Frau. Ich fand, das komme überhaupt nicht in Frage. Wie er sich denn das finanziell vorstelle. Darauf erklärte er, das habe ihn seine Zukünftige am Telefon auch gefragt. Und er habe gesagt: «Das ist kein Problem. In der Schweiz kommt Geld vom Büro.» Das ist die typische Wahrnehmung.

 

faktuell.ch: Schweden überprüft neu die Altersangaben der jugendlichen Migranten, die bevorzugt behandelt werden mit besserer Ausbildung und Unterkunft, wenn sie noch minderjährig sind.

 

Annemarie Lanker: Ich finde es richtig, Alterstests zu machen. Unser System ist nicht clever. Wir sollten uns auf clevere Leute einstellen. Und wir sollten die Entwicklungshilfe an die Bedingung koppeln, dass die betroffenen Länder bereit sind, ihre Landsleute zurückzunehmen, wenn sie bei uns keinen Asylstatus erlangen.  

 

faktuell.ch: Was heisst in der heutigen Zeit „bedroht“? Lebt sich zum Beispiel in Eritrea weniger sicher als in der Türkei?

 

Annemarie Lanker: Nur schon darüber zu reden, scheint auch ein Tabu zu sein. Das zeigte die Reise der Parlamentariergruppe nach Eritrea in diesem Frühling. Natürlich ist Eritrea ein armes Land. Ein Eritreer auf Sozialhilfe in der Schweiz schickt locker ab und zu hundert Franken nach Hause und finanziert die ganze Familie.

 

faktuell.ch: Wer freiwillig zurückgeht, erhält eine finanzielle Rückkehr- und Wiedereingliederungshilfe, 500 Franken pro erwachsene und 250 Franken pro minderjährige Person. In Härtefällen kann eine materielle Zusatzhilfe von maximal 3000 Franken gewährt werden.

 

Annemarie Lanker: Ich halte diese Rückkehrhilfen für fragwürdig, weil sie eine neue Ungerechtigkeit schaffen. Nach Europa kommen ohnehin nur Leute, die das Geld dafür haben, und die werden zusätzlich belohnt.

 

faktuell.ch: Sie sprachen, als Skandalfälle wie jener mit «Carlos» die Medien beschäftigten, von fehlendem Augenmass in der Sozialhilfe. Inzwischen sind die Migranten und nicht mehr solche Einzelfälle das grosse Thema. Haben Sie den Eindruck, dass jetzt mehr Augenmass vorhanden ist?

 

Annemarie Lanker: Die SKOS hat sich bewegt. Allerdings nicht stark. Das war auch nicht zu erwarten. Aber immerhin.

 

faktuell.ch: Schon fast in aller Stille hat die SKOS «Empfehlungen» zur Vermeidung des Schwelleneffekts in der Sozialhilfe erlassen, die ab 2017 in Kraft treten. Kernsatz: «Schwelleneffekte werden vermieden, wenn die Leistungen so lange gewährt werden, bis das Erwerbs- oder Renteneinkommen über dem verfügbaren Einkommen liegt, das ein Haushalt mit Sozialhilfe erzielt.» Kurz: Die Ungerechtigkeit im Vergleich mit Haushalten in bescheidenen Verhältnissen, die sich ohne Sozialhilfe durchschlagen, bleibt bestehen. Gibt es keine Chance für eine gerechtere Lösung?

 

Annemarie Lanker: Ich kann auch kein Rezept aus dem Ärmel schütteln. Heute heisst es «soziale Teilhabe». Man muss zuhause einen Fernseher haben und einen Computer. Vor dreissig Jahren war man der Auffassung, es gehe nicht an, dass ein Sozialhilfeempfänger ein Auto habe. Heute haben sehr viele ein Auto, auch die Migranten. Für mich ist «soziale Teilhabe» ein Synonym für «Rente» geworden.

 

faktuell.ch: Man will mit der Selbstverwaltung des Grundbeitrags die Selbständigkeit fördern.

 

Annemarie Lanker: Unsinn. Man leistet sich einen Wagen und entscheidet selbständig, die Rechnungen nicht zu bezahlen. Die Sozialhilfe wird es schon richten.

 

faktuell.ch: Hört sich ziemlich verärgert an...

 

Annemarie Lanker: … die SKOS spricht nach wie vor immer nur von den Grundkosten und lässt all die vielen Anschaffungen, die Gesundheits- und Wohnkosten, die Krankenversicherung inkl. Selbstbehalt etc., die den Leuten bezahlt werden, aussen vor. Ich habe noch nie ein Budget gesehen, in dem alles drin ist, was wirklich bezahlt wird. Die Sozialhilfe ist so ausgebaut worden – auch mit den Anreizen - , dass sich Sozialhilfeempfänger sagen, mehr arbeite ich nicht, sonst falle ich raus und muss plötzlich alle Selbstbehalte und die Steuern selber bezahlen. Wir brauchen ein radikal anderes System.

 

faktuell.ch: Wo müsste man ansetzen?

 

Annemarie Lanker: Die Sozialhilfe sollte wieder zurückbuchstabieren und nicht Rundum-Versorgung bieten, sondern nur Unterstützung für Leute, die wirklich darauf angewiesen sind und nicht arbeiten können. Vor dreissig Jahren wäre in der Sozialhilfe niemand auf die Idee gekommen, man müsse einen Klienten zur Arbeitssuche ‘anreizen’. Schon das ist eine schräge Geschichte. Sozialhilfe war ursprünglich eine reine Überbrückungshilfe. Was muss man da ‘anreizen’? Aber wir gehen heute schon gar nicht mehr davon aus, dass es eine vorübergehende Nothilfe ist und sonst eigentlich jeder für sich selber sorgen muss.

 

faktuell.ch: Also kürzen, kürzen, kürzen…

 

Annemarie Lanker: …in gewissen Fällen bis zur reinen Nothilfe. Dann erst spüren die Leute genügend Druck, dass sie selbst etwas machen wollen. Wir haben heute zum Beispiel sehr viele Alleinerziehende in der Sozialhilfe. In der Mittelschicht ist es jedoch selbstverständlich, dass die Frauen arbeiten, auch alleinerziehende. Wenn man eine Frau rundum versorgt, bis ihr Kind fünfjährig ist, dann ist sie raus aus dem Beruf. Und die Symbiose Mutter-Kind ist in der Regel auch nicht förderlich.

 

faktuell.ch: Es gelten die Gleichungen Sprache gleich Arbeit, Arbeit gleich Integration. Der Bund will in den Jahren 2018 bis 2022 über 50 Millionen Franken für die Ausbildung von Flüchtlingen ausgeben und erwartet von den Kantonen, dass sie dieselbe Summe aufbringen. Rentiert das?

 

Annemarie Lanker: Das ist auf jeden Fall gut. Die Leute müssen ausgebildet werden, sonst bleiben sie in der Sozialhilfe hängen und das ist viel teurer. Wenn einer mit 18 schon in der Sozialhilfe ist, kann man’s vergessen. Der arbeitet mit über 20 wohl auch nicht. Man muss die Leute ausbilden, wenn nötig mit Druck und Zwang.

 

faktuell.ch: Wer gesundheitlich dazu in der Lage ist, soll inzwischen auch nach Meinung der SKOS zur Ausbildung gezwungen werden. Zwangsmassnahmen klingen für die SKOS eher ungewöhnlich…

 

Annemarie Lanker: … die kriegen vermutlich auch langsam Angst. Denn was da auf uns zukommt, ist nicht mehr gemütlich. Vor dieser Zeitbombe darf niemand die Augen verschliessen.

 

 

 

Annemarie Lanker,

 

dipl. Sozialarbeiterin und Lehrbeauftragte an Fachhochschulen, von 1991 bis 2009 Leiterin der sozialen Dienste der Stadt Bern, löste 2007 noch als SP-Mitglied mit einem ungewohnt offenen Interview im Berner „Bund“ über Misswirtschaft und Sozialmissbrauch bei der Fürsorge der Stadt Bern im eigenen politischen Lager einen Sturm der Entrüstung aus. Heute ist sie als parteilose Mediatorin und Supervisorin im Bereich Sozialhilfe tätig und kontrolliert u.a. im Auftrag von Gemeinden Sozialhilfe-Dossiers mit Fällen, die finanziell besonders «drücken», in Bezug auf den Integrationsstatus. Vor Jahresfrist hat sie zusammen mit Beat Büschi, ehemaliger Finanzinspektor der Stadt Bern, die prekären Verhältnisse bei der Bieler Sozialfürsorge untersucht, der Schweizer Stadt mit der höchsten Sozialhilfequote.

 

Stellungnahme

Cristina Spagnolo, Leiterin Migration, Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Bern, nimmt zum kritischen Abschnitt, der die Arbeit der Hilfswerke betrifft, wie folgt Stellung:

 

«Frau Lanker sagt im Interview über ihre Sozialhilfe-Erfahrungen aus, dass in den Hilfswerken „andere“ Mitarbeitende angestellt werden sollten, die qualifiziert sein sollten. Diese Aussage können wir als SRK Kanton Bern nicht nachvollziehen.

 

Kontext

 

Das SRK Kanton Bern führt im Auftrag der Gesundheits- und Fürsorgedirektion Kanton Bern einen Sozialdienst für Flüchtlinge. Gemeinsam mit Caritas Bern sind wir im Kanton für anerkannte Flüchtlinge (Ausweis B) und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge (Ausweis F) zuständig. Asylsuchende (Ausweis N) und vorläufig aufgenommene Ausländer (Ausweis F) werden von Organisationen und Hilfswerken der Asylstrukturen begleitet. Für die Begleitung dieser Zielgruppe gelten andere gesetzliche Bestimmungen und sozialhilferechtliche Vorgaben.

 

Qualifizierte, ausgebildete Sozialarbeitende

 

In den Sozialdiensten des SRK Kanton Bern und Caritas Bern beschäftigen wir, entsprechend den Vorgaben des Kantons, ausschliesslich ausgebildete Sozialarbeitende mit einem Abschluss an einer Fachhochschule oder Universität. Unsere Aufgabe ist die Ausrichtung der Sozialhilfe nach Sozialhilfegesetz des Kantons und die Integrationsförderung unserer Klientel. Können vorläufig aufgenommene oder anerkannte Flüchtlinge nicht selber für ihre Bedürfnisse aufkommen, haben sie Anspruch auf Sozialhilfe. Es gilt die Inländergleichbehandlung. Dabei müssen die gleichen Leistungen gewährt werden wie für einheimischen Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern (Art. 3 Abs. 1 AsylV2). Es gelten die Richtlinien der Berner Konferenz für Sozialhilfe (BKSE) und der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Entsprechend gelten auch für unsere Klientel die gleichen Rechten und Pflichten wie für einheimische Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger.

 

Exakte Übergabeberichte

 

Ist ein anerkannter oder vorläufig aufgenommener Flüchtling 5 Jahre nach der Asylgewährung, resp. 7 Jahre nach der Einreise in die Schweiz weiterhin nicht in der Lage, seinen gesamten Lebensunterhalt selbständig zu finanzieren, übergeben wir die Person dem Sozialdienst seines Wohnortes. Zu diesem Zeitpunkt wird ein Übergabebericht verfasst, der über die familiären, finanziellen und gesundheitlichen Verhältnisse Auskunft gibt, die besuchten Massnahmen zur Integrationsförderung beschreibt und über den erreichten Integrationsstand informiert. Mit den grösseren Sozialdiensten, namentlich die der Städte Bern und Biel stehen wir in regelmässigem Kontakt, um die Übergaben professionell und effizient zu gestalten.

Wir weisen deshalb die pauschalen Aussagen von Frau Lanker zurück.»

 



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Thomas Michel: "Wir könnten in der Schweiz vieles optimieren, wenn wir nicht sofort ans nächste System stossen würden, das auch mit einer Schwelle versehen ist.

faktuell.ch im Gespräch mit Thomas Michel, Leiter der Abteilung Soziales der Stadt Biel, und der Bieler Integrationsdelegierten, Tamara Iskra

Thomas Michel, Tamara Iskra

faktuell.ch: Herr Michel, 14 neue Vollstellen oder eine runde Million Mehrkosten in Zeiten von Budgetkürzungen und erst noch in einem Bereich, der mit seinen Kosten in der Dauerkritik steht – wie haben Sie das geschafft?

 

Thomas Michel: Wir betreuen hier 6000 Sozialhilfeempfänger, ein Drittel davon Kinder. Das sind 4000 Fall-Dossiers! Der Gemeinderat von Biel – wie auch der Kanton Bern via Lastenausgleich – haben ein Interesse daran, dass Biel als sozialer „Brennpunkt“ eine Strategie für die Senkung der Sozialhilfequoten und die sozialpolitische Ausrichtung mit Schwerpunkten Bildung und Ausländerintegration vorantreibt. Und wir sollen und wollen mehr Zeit haben für die Betroffenen. Die Abteilung Soziales ist entsprechend reorganisiert worden. Mehr als die Hälfte der neuen Stellen entlasten die Sozialarbeitenden direkt, damit sie mehr Zeit für die Beratung einsetzen können. Weitere werden im Controlling und in verschiedenen Bereichen zur punktuellen Entlastung von Engpässen geschaffen.

 

faktuell.ch: Von wie viel Zeit gehen sie aus?

 

Thomas Michel: Schwer zu sagen. Für ein Sozialhilfe-Dossier ist im Schnitt ein Zeitaufwand von 15 bis 25 Stunden realistisch – im Jahr!

 

faktuell.ch: Macht vier Minuten pro Tag und Fall. Und das soll reichen, um die vor Ihrem Amtsantritt als „katastrophal“ beschriebenen Verhältnisse zu verbessern?

 

Thomas Michel: Das ist nun mal das, was es sich der Schweizer Staat kosten lässt. Biel liegt im schweizerischen Mittel. Wir begleiten Leute bei der Integration, aber die entscheidenden Schritte müssen sie selbst machen. Wir wollen auslösen, anstossen. Deshalb finde ich den Zeitaufwand angemessen. Begleitend zur Sozialhilfe sollten wir auch Zeit im Prekariatsbereich investieren, für Leute die knapp vor oder nach dem Beanspruchen von Sozialhilfe sind.

 

faktuell.ch: Die Fluktuationsrate in Ihrer Abteilung ist mit 25 % überdurchschnittlich hoch – Rekord im Kanton Bern...

 

Thomas Michel: …das hat sich schon gebessert. Wir liegen jetzt bei 18 Prozent - Tendenz sinkend.

 

faktuell.ch: Trotzdem: Was macht es so unattraktiv, im Bieler Sozialdienst zu arbeiten?

 

Thomas Michel: Die Überlastung und das harte Umfeld. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt Biel ist doppelt so hoch wie der kantonale Durchschnitt. Ein Übermass der Bevölkerung lebt in prekären Verhältnissen und damit besteht auch ein Übermass an Konkurrenz auf integrative Massnahmen. Das heisst, wenn in Biel ein  arbeitsloser Sozialhilfeempfänger auf den Arbeitsmarkt will, gibt es eine Riesenkonkurrenz. Das ist für die Sozialarbeitenden frustrierend, auch wenn das Arbeitsklima gut ist.

 

faktuell.ch: Klingt ein bisschen nach Schönreden eines Problems.

 

Thomas Michel: Keineswegs. Die Arbeit in der Sozialhilfe ist heute beruflicher Einstiegsbereich. Unsere Sozialarbeitenden sind relativ jung und die Stadt Biel hat im Vergleich mit den ländlichen Sozialdiensten  keine Polyvalenz (Fächer an Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten), was dazu führt, dass man weniger lang in diesem spezialisierten Bereich tätig ist.

 

faktuell.ch: Wie kommen denn Ihre jungen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit schwierigen oder sogar renitenten Klienten zurecht?

 

Thomas Michel: Natürlich ist das ein Thema. Aber wichtig ist, dass man gerne mit Menschen arbeitet und eine Begabung dazu hat. Man muss den Sozialhilfebeziehenden ja nicht alles vorgeben, sondern mit ihren Ressourcen arbeiten. Erfahrung hilft, dies schnell und zielgerichtet zu tun. Entscheidend ist aber, dass die Sozialarbeitenden vorher an geeigneten Hochschulen und Praktikumsplätzen waren. Ein Manko haben wir in der Konstanz der Beratungen wegen der Fluktuation. Hier kann man mit Organisation und guter Arbeit im Team positiv einwirken.

 

faktuell.ch: 2019 bis 2022 fallen die Kosten für 100 000 anerkannte Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommene (VA) der Jahre 2014 und 2015 beim Bund weg und die meisten von ihnen drücken auf die Budgets von Kantonen und Gemeinden. Vermag das eine ohnehin schon reichlich belastete Stadt wie Biel überhaupt zu stemmen?

 

Thomas Michel: Wir sind in einer Vorphase von 2019-22 und bereiten uns darauf vor, dass wir nachher nicht einfach "berenten" müssen. Es muss auf Stufe Bund und Kanton jetzt möglichst viel getan werden.

 

faktuell.ch: Etwa ein Viertel aller FL und VA wird, wie eine 10-Jahres-Studie gezeigt hat, vielleicht nie einer Arbeit nachgehen. Frau Iskra, was ist in der Praxis der Integrationsbemühungen erfolgreich(er): rasch mit einem Billigjob zu beginnen oder zuerst die Bildungsgrundlage für eine anspruchsvollere und damit auch besser bezahlte Arbeit zu schaffen?

 

Tamara Iskra: Beides kann erfolgreich sein. Unser duales Bildungssystem lässt zum Glück auch einen späten Einstieg zu. Gift für die Integration ist nur das Nichtstun. Auch teure Sprachkurse sind nicht nützlich, wenn die Teilnehmenden nur in ihrem eigenen Sprachkreis verkehren.

 

faktuell.ch: Sie widersprechen damit der Behauptung, die da lautet: Wer als Billigjobber beginnt, ist nach abgestempelt und hat nachher Mühe aus dem Tieflohnsegment auszubrechen.

 

Thomas Michel: Das hängt vom Alter ab. Wenn Junge noch keine Arbeitserfahrung haben, scheint mir Ausbildung der richtige Weg zu sein. Wenn die Leute hingegen über vierzig sind, erwarten die Arbeitgeber Arbeitserfahrung. Auch ein vierzigjähriger Schweizer, der nur studiert hat, wird kaum eine Stelle finden. Es ist auch nicht realistisch, über fünfzigjährige Asylsuchende, die den grössten Teil ihres Lebens im Ausland verbracht haben, von der Sozialhilfe geradlinig in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Sie müssten schon hoch qualifiziert sein und die Sprache sehr gut beherrschen. Umso mehr müssen wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche auf der richtigen Schiene starten.

 

faktuell.ch: In der Öffentlichkeit hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass viele junge Leute gar nicht bereit sind zu arbeiten, die Lehre abbrechen oder psychische Gebresten für eine IV geltend machen. Stimmt es, dass zunehmend eine Haltung…

 

Thomas Michel: …des Laissez-faire … ja, das kommt schon vor – aber als gesellschaftliches Phänomen und nicht nur innerhalb der sozialen Sicherungssysteme.

 

Tamara Iskra: Experten und Institutionen, mit denen ich arbeite, sehen Angebotslücken für Jugendliche, die aus dem System gefallen sind. Die richtigen Angebote wären aber sehr kostspielig. 

 

faktuell.ch: Ein Problem ganz allgemein scheint die Konkurrenz um Tieflohnjobs zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden und Städten zu sein.

 

Thomas Michel: Ja, natürlich. Es gibt auch im Tieflohnsegment eine Konkurrenzsituation und die Anzahl der Stellen ist beschränkt. Zum Teil verschwinden die Arbeitsplätze auch. Und der zweite Arbeitsmarkt schafft es nicht, sich von einer staatlichen Finanzierung zu lösen. Das ist allerdings das Problem aller, die in diesem Teillohnbereich etwas aufbauen wollen: IV, ALV, Asyl- und Flüchtlingsbereich und wir von der Sozialhilfe. Wir sitzen alle im gleichen Boot.

 

faktuell.ch: Biel hat einen hohen Ausländeranteil. Arbeit finden die Leute erst, wenn sie sprachlich dazu in der Lage sind, die Ausbildung ausreicht und sie nicht nur ihre Rechte, sondern auch Pflichten kennen, mit anderen Worten: integriert sind. Frau Iskra, wann können Sie sagen, eine Integration sei gelungen?

 

Tamara Iskra: So wie es der Gemeinderat von Biel im neuen Integrationskonzept definiert. Migrantinnen und Migranten müssen wissen, was von ihnen erwartet wird, wenn sie hier leben wollen. Nur so können sie den Erwartungen auch gerecht werden. Sie sollen die lokalen Sprachen verstehen und sprechen, wirtschaftlich möglichst rasch unabhängig vom Staat werden, andere Lebensformen respektieren und Aspekte ihrer eigenen Kultur – wie das Frauenbild – hinterfragen. Darin sehe ich das Herzstück der Integration. Kinder von Ausländern, die hier aufwachsen, sind für mich Bielerinnen und Bieler. Die sind hier zuhause, nirgendwo sonst.   

 

faktuell.ch: Aber stimmt denn der Satz nicht mehr, dass Integration über Arbeit stattfindet?

 

Tamara Iskra: Das ist für mich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Hausfrauen sind doch auch integriert. Wichtig ist wirtschaftliche Unabhängigkeit. Ob die durch Arbeit,Erbschaft oder anderswie gegeben ist.

 

Thomas Michel: Wir haben auch in der Sozialhilfe Leute, die zwar nicht beruflich, aber sozial integriert sind. 2015 hatten wir in der Stadt Biel 109 Nationalitäten in den 4000 Haushalt-Dossiers der Sozialhilfe. Den grössten Anteil machen die Schweizer aus, gefolgt von Türken und Italienern. Aber wer aus der Türkei und aus Italien schon in der dritten oder vierten Generation im Tieflohnbereich arbeitet, lebt in der Prekarität und ist oft bildungsfern. Das wächst sich nicht in einer Generation heraus. 

 

faktuell.ch: Wenn Menschen darauf verzichten, eine besser bezahlte Arbeit zu übernehmen, weil die Einbusse bei den Sozialleistungen grösser ist als der Mehrverdienst, spricht man von negativen Anreizen. Wie stark behindern solche Schwelleneffekte die Sozialhilfe beim Versuch, Menschen ins Erwerbsleben zurückzuführen?

 

Thomas Michel: Wir könnten in der Schweiz vieles optimieren, wenn wir nicht sofort ans nächste System stossen würden, das auch mit einer Schwelle versehen ist. Das führt letztlich zu einem Stau und löst die Angst aus, dass die Leute stecken bleiben und sich nicht weiterbewegen. Aber ich bin überzeugt, dass ein Mensch, dem wir eine Chance aufzeigen, diese auch ergreifen wird, wenn wir hinter die Schwellen, die zu überwinden sind, Perspektiven setzen. Wer bei Arbeitsantritt ein Jahr lang ein oder zwei wegen den Steuern hundert Franken weniger im Portemonnaie hat, als er vom Sozialamt erhielt, sieht, dass sich ein Job auf zehn Jahre gesehen fünfmal mehr lohnt. So gesehen leidet die Sozialhilfe aus meiner Sicht weniger am Schwelleneffekt, als allgemein moniert wird.

 

fakutell.ch: Bleibt das Problem der fehlenden Arbeitsplätze…

 

Thomas Michel: …die noch mehr behindern als Schwelleneffekte. Ich bin allen extrem dankbar, die dazu beitragen, dass in der Schweiz einfache Jobs nicht wegrationalisiert, sondern erhalten und gar geschaffen werden. Was wir brauchen, sind Jobs, in denen man auch ohne tertiäre Ausbildung arbeiten kann. Menschen, die nicht in Zukunftsfeldern arbeiten, müssen Wertschätzung erfahren und Teil der tätigen Gesellschaft sein können. Wir brauchen nicht 14 weitere Stellen, sondern ein paar hundert Stellen auf dem Arbeitsmarkt für die Bieler Sozialhilfeempfänger.

 

fakutell.ch: Bis Ende Jahr will die SKOS in der zweiten Etappe der Revision ihrer Richtlinien Empfehlungen im Hinblick auf Schwelleneffekte herausgeben. Was will sie noch ändern bzw. gibt es überhaupt etwas zu ändern?

 

Thomas Michel: Die Empfehlungen sind sehr allgemein gehalten. Die Kantone regeln national in Schwellenbereichen nur ungern, weil diese kantonal sehr unterschiedlich aussehen.. In die SKOS-Richtlinien wird nur aufgenommen, was absehbar zwei Drittel der Kantone umzusetzen bereit sind. Die Hürde ist in der Organisation der SKOS eingebaut. Über die Hälfte des 50-Personen- Vorstands besteht aus fachlich versierten Kantonsvertretern (meist die Leitungen der Kantonalen Sozialdienste, als "27. Kanton" wirkt das Fürstentum Liechtenstein mit). Jeder Kanton hat ein gewachsenes System in der sozialen Sicherung mit Vorleistungen wie Wohnungszuschüsse in Genf oder höhere Kinderzulagen im Wallis. Es ist deshalb nicht möglich mit einem nationalen System festzuhalten, welche Schwelleneffekte sich auf welche Weise auswirken sollen. So kann die SKOS-Empfehlung nur lauten: Liebe Kantone, versucht, die Schwelleneffekte zu vermeiden. Denn sie sind nicht gut. Und sie sind vor allem auch für die Weiterentwicklung des Systems nicht gut. Weh tun dabei vor allem die verpassten Synergie-Effekte – also Doppelspurigkeiten in der Verwaltung.

 

faktuell.ch: Weshalb setzt man das Anreizsystem nicht einfach ausser Kraft?

 

Thomas Michel: Ich glaube aus dem gleichen Grund, aus dem die Ökonomen das Thema Schwelleneffekt bisher so stiefmütterlich behandelt haben: Weil sie den Gang der Wirtschaft in der Schweiz nicht allein bestimmen. Politik, Gesellschaft und die wählende Öffentlichkeit spielen mit. Zudem ist das Thema hoch technokratisch und nicht leicht zu vermitteln. Und die Systeme bestehen aus einem Flickwerk von sozialer Absicherung, von der Arbeitslosenkasse über die Sozialhilfe, IV, Krankenkasse, Pensionskasse – ein Flickwerk von Versicherungen und Leistungen mit unterschiedlichen Mechanismen, finanziert auf unterschiedlichen Ebenen…

 

faktuell.ch: …die alle für sich allein laufen?

 

Thomas Michel: Sie sind schon ein Stück weit aufeinander gebaut worden, eines nach dem andern. Immer, wenn ein wichtiges Teil fehlte, wurde es eingefügt. Die Finanzkrise hat etwas Wesentliches gezeigt: Am stabilsten bleibt die Wirtschaft, die ein stark ausgebautes Sozialsystem hat. Die Schweiz und auch Deutschland haben ab 2010 sehr stabil reagiert auf die Krise.

 

faktuell.ch: Macht also die vermeintliche Unabhängigkeit der Systeme das ganze Setting stabil?

 

Thomas Michel: Sehr sogar, weil es unglaublich mühsam ist, etwas zu ändern! Ein grosser Wurf wie Hartz IV in Deutschland wäre in der Schweiz zurzeit undenkbar. Das heisst aber auch, dass jeder, der in diesem System eine Rolle spielt – auch die Wirtschaft –, sich sehr verlässlich auf das Bestehende einrichten kann, weil nächstes Jahr nicht plötzlich andere Regeln gelten.

 

faktuell.ch: Schweizweit gibt es seit Jahren Studien, die beziffern, wie hoch der Anteil der nicht beanspruchten Sozialleistungen ist. Zu Beginn der 1990er- Jahre sprach man von 45 bis 65 %, heute geht man von 25 bis 50 % aus, jedenfalls weniger Verzichtende als früher. Hat die professionalisierte Beratung der „Sozialindustrie“ dafür gesorgt, dass bedarfsabhängige Sozialleistungen mehr genutzt werden?

 

Thomas Michel: Ich finde, dass in der Schweiz die Selbstverantwortung noch sehr stark verwurzelt ist. Ich will eine gleich behandelnde, aber nicht eine gleichmachende Sozialhilfe. Ich bin froh, dass nicht alle zu uns kommen, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten. Sie können vieles innerhalb der Familie lösen. Es ist aber auch gut, dass wir heute professionell unterstützen können, wenn die Familie es nicht mehr schafft. Die Sozialhilfe kann als letztes Auffangnetz zum Zug kommen. Dann aber müssen diese Leute vom Staat, den Steuerzahlern auch wieder zurück in die Eigenverantwortung geführt werden. Das hat dann wieder mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt viel zu tun.

     

faktuell.ch: Frau Iskra, die Sprache ist für die Integration wichtig. Sie betreiben in Biel ein Sprachhaus für Kinder im Vorschulalter. Biel ist bilingue, zweisprachig…

 

Tamara Iskra: Die Zweisprachigkeit in Biel ist etwas Wunderbares, aber für die Arbeitsintegration und die Integration der Migranten und Migrantinnen bedeutet sie eine riesige Hürde. Auch bei niederschwelligen Jobs wird viel mehr erwartet. Viele Eltern – nicht nur Migranten – haben das Gefühl, Deutsch biete bessere Chancen. Wir wirken dem etwas entgegen. Denn eine echte Chance in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt hat nur, wer eine Sprache wirklich beherrscht, ob deutsch oder französisch.

 

Thomas Michel: Wer hier im Service oder sogar in einer Restaurant-Küche arbeiten oder im Lebensmittelgeschäft Regale auffüllen will, muss deutsch und französisch sprechen können. Zur hohen Arbeitslosigkeit kommt hinzu, dass Leute, die beide Sprachen beherrschen, in Biel die bessere Ausgangslage haben, einen Job zu finden.

 

Tamara Iskra: Biel ist ein schwieriges Pflaster. Wir pflegen den Bilinguismus, der von Bundes- und Kantonsbehörden nicht extra vergütet wird und real doppelt so viel kostet, wir haben einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Ausländern, Migranten und Leuten aus dem ehemaligen Asylbereich, schlecht bis gar nicht Qualifizierte – das ist eine ganz andere Zusammensetzung als in Bern, Zürich oder Genf. Und trotzdem schaffen wir es in Biel, dass 57‘000 Personen aus weit über 100 Nationen friedlich zusammenleben. Ich betrachte Biel als Vorzeigemodell.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfe, die eigentlich nur eine Nothilfe sein soll, wird für eine zunehmende Zahl von Empfängern zum Dauer-„Einkommen“. Muss die Sozialhilfe neu definiert werden?

 

Thomas Michel: Wenn 15 Prozent der Bevölkerung von einer Entwicklung oder Situation betroffen sind, beginnt die Bevölkerung, sich unruhig und unwohl zu fühlen. Das ist so etwas wie ein Grenzwert. Mit einer Sozialhilfequote von 11,5% liegen wir in Biel bei einer öffentlichen Betroffenheit von über 10 Prozent. Wir sind also schon recht nahe am Grenzwert. Zürich, Basel, Luzern mit ihren 4,5 Prozent können sich noch "entspannt zurücklehnen". Ich will mir gar nicht ausdenken, was es auslösen wird, wenn die Flüchtlingswellen dieses Verhältnis in der Schweiz wesentlich verschärfen. Ich bin aber überzeugt, dass unser Sozialversicherungssystem umgebaut wird, wenn wir in diese Grenzwerte hineinkommen. Vorher kaum. Nicht, solange die Mehrzahl der Kantone und Städte die Situation im Griff hat.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr   

 

 


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Toni Locher: "Die Eritreer sind ein stolzes Volk. Es tut den Älteren sehr weh, wenn die Jungen eine höllische Reise in Kauf nehmen, um nach Europa abzuhauen."

faktuell.ch im Gespräch mit Toni Locher, Honorarkonsul Eritreas in der Schweiz, von Beruf Gynäkologe 

Toni Locher

faktuell.ch: Herr Locher, ein Viertel der Asylgesuche in der Schweiz haben 2015 Eritreer gestellt. Eritrea gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Wie haben sich die 10‘000 Menschen ihre Reise ins Zielland Schweiz finanziert?

 

Toni Locher: Die Migration aus Eritrea in die Schweiz basiert auf Schuldenmachen. Die Jungen haben meistens kein Geld. Begüterte und gut ausgebildete Eritreer gehen nach Angola, da lässt sich gutes Geld machen. Gut ausgebildete Ärzte wählen den Südsudan, Ingenieure die Golfstaaten, Südafrika, Kenia, Ruanda…

 

faktuell.ch: …hält sie ein zu geringer Verdienst davon ab, die Schweiz zu wählen?

 

Toni Locher: Nein, aber ihre Ausbildung wird dort anerkannt und in Dubai dürfte ein eritreischer Ingenieur wirklich viel mehr verdienen als in der Schweiz. Zu uns kommen heute die weniger gut Ausgebildeten, die wenig Geld haben. Sie verschulden sich auf der horrend teuren Reise durch die Hölle von Libyen und wenn sie in der Schweiz ankommen, sind sie bedürftig und leben von der Sozialhilfe.

 

faktuell.ch: Eine Gruppe von Politikerinnen und Politikern ist kürzlich privat nach Eritrea gereist, um vor Ort herauszufinden, ob eritreische Asylbewerber nach Hause geschickt werden könnten. Was hat die Politikerreise aus Ihrer Sicht gebracht?

 

Toni Locher: Es kann etwas Bewegung in die „verhockte“ Politik bringen. Das Staatssekretariat für Migration ist nämlich noch völlig auf Abwehr fixiert. Da habe ich das Gefühl, ich sei im falschen Film. In der EU ist die Flüchtlingskrise ein Dauerthema. Österreich macht die Grenzen zu wie auch Schweden, das die Eritreer bisher grosszügig aufgenommen hat und auch Deutschland wird kippen. Und was passiert? Die Eritreer werden im Frühling wieder in grosser Zahl im Chiasso ankommen. Will man sie dann nach Deutschland durchreichen?

 

faktuell.ch: Gehen wir eine Etage höher: Justizministerin Simonetta Sommaruga bezeichnet Eritrea als Willkür- und Unrechtsstaat. Erschwert sie mit solchen Aussagen ein Rücknahme-Abkommen?

 

Toni Locher: Das ist diplomatisch nicht besonders geschickt. Im Gespräch auf Augenhöhe könnte man die Migrationsproblematik im gegenseitigen Interesse genauer ansehen. Es geht ja nicht um Flucht, sondern um eine Arbeitsmigration aus Perspektivlosigkeit.

 

faktuell.ch: Sollte die Schweiz von sich aus einer gewissen Anzahl Eritreern anbieten, sich in der Schweiz niederlassen zu können…

 

Toni Locher: … vielleicht ein paar hundert, die in der Schweiz eine Berufsausbildung machen können, warum nicht? Oder auch Studenten. Eritrea schickt Stipendianten in die Emirate, nach Südafrika und China. Für diese Leute wäre ein Aufenthalt in der Schweiz auch sinnvoll, weil sie nicht in der Sozialhilfe landen, sondern nach der Ausbildung vielleicht wieder zurückgehen. Unser duales Berufsbildungssystem ist ausserdem der Exportschlager par excellence. Für das, was Eritrea braucht an Ausbildung, wäre die Schweiz optimal aufgestellt. Die EU hat Ende 2015 200 Mio. Euro für Eritrea budgetiert, die sie zum grossen Teil in Solarenergie investieren will, um die schwierige Energiesituation in den Griff zu bekommen und zu vermeiden, dass die Leute vom Land in die Stadt ziehen. Für den Unterhalt könnten wir landesweit ein paar hundert Solar-Techniker ausbilden. Und: Velos sind das wichtigste Verkehrsmittel in Eritrea. "Velafrica" schickt im Auftrag des Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea (SUKE) pro Jahr 2000 Velos dorthin und wir könnten vor Ort Velo-Mechaniker ausbilden, die sie reparieren können. Handwerker braucht das Land. Wir können sie schulen. Ein Gewinn für beide Seiten

 

faktuell.ch: Hat sich Bundesrätin Sommaruga mit Ihnen unterhalten?

 

Toni Locher: Nein, ich bin ja auch nicht ihr Berater. Im SEM gibt es zu Eritrea durchaus Länderexperten. Die gehen im März nach Eritrea. Das ist nicht schlecht. Eigenartig im europäischen Umfeld ist allerdings, dass z.B. Deutschland, Finnland, Italien und Norwegen Leute auf Stufe Minister oder Staatssekretär entsandt haben. Nur die Schweiz, die das grösste Kontingent an Eritreern hat, will jetzt eine niederrangige Beamtendelegation schicken. Das ist diplomatisch ungeschickt. Ebenso ungeschickt ist es, wenn unsere Asylministerin Sommaruga Äthiopien als Bundespräsidentin einen Staatsbesuch abstattet, sich dort mit militärischen Ehren empfangen lässt und ein Gebiet im Osten besucht, das menschenrechtlich höchst umstritten ist. Und Eritrea wird als Diktatur beschimpft. Weshalb ist es nicht möglich, gelassen eine Neueinschätzung der Lage vorzunehmen, statt zu mauern? Frau Sommaruga bezieht sich immer auf Europa und will eine europäische Lösung. Die europäischen Länder gehen einfach hin und reden mit den Eritreern auf Augenhöhe. 

 

faktuell.ch: Sie kennen die eritreische Kultur. Wie integrierbar sind Eritreer bei uns?

 

Toni Locher: Eritreer sind „hard working“, sehr arbeitsam. Man nannte die ältere Generation „die Preussen Afrikas“. Die Jungen haben andere Lebensperspektiven und sind verführt von der westlichen Lebensweise. Es lohnt sich, historisch zu beurteilen, wie die ganze Migration entstanden ist. Die erste Phase der Migration fand während der italienischen Kolonialzeit statt. Viele Italiener wanderten aus und siedelten sich in Asmara an. Schöne Lage, angenehmes Klima. Umgekehrt gingen Eritreer, insbesondere eritreische Frauen, nach Italien, um in herrschaftlichen italienischen Haushalten zu arbeiten. In den 1950er und 1960er Jahren – während der Föderation und der späteren Annexion durch Äthiopien – kam es zu kleineren Migrationswellen, zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges 1961 bis 1991 auch zu Fluchtbewegungen. Diese erste Flüchtlingsgeneration nähert sich unterdessen dem Rentenalter, ist gut integriert und verdient ihr eigenes Geld.

 

faktuell.ch: Und jetzt haben wir es mit einer neuen Generation zu tun…

 

Toni Locher: 2005 erliess die Asylrekurs-Kommission das Urteil, wonach in der Schweiz Dienstverweigerer Asyl erhalten. Das UNHCR anerkannte 2009 alle Eritreer, die das Land verlassen automatisch als Flüchtlinge. Das war ein Blanko-Papier für junge, clevere Eritreer, sich auf den Weg zu machen. Daraus sind ein Pull-Faktor und damit ein gut organisiertes Schlepper-Business entstanden. Diese gegenwärtigen jungen Männer sind nicht mehr gut integrierbar. Ihre Probleme sind mangelnde Bildung und Sprachkenntnisse und wir haben in der Schweiz zu wenige Niedriglohn-Arbeitsplätze. Wir sind mit der langfristigen Integration überfordert und das kann nur schlechter und schlimmer werden. Auch für die jungen Eritreer.

 

faktuell.ch: Was bedeutet dies für den regionalen Konflikt?

 

Toni Locher: Es ist Äthiopiens erklärtes Ziel, Eritrea wieder zu annektieren oder zumindest den Hafen Assab zurückzuerobern. Wenn die Eritreer ihr Land weiter in der jetzigen Frequenz verlassen, könnte dies eine militärische Okkupation überflüssig machen…

 

faktuell.ch: Was erwartet das eritreische Staatsoberhaupt Isayas Afewerki von der Schweizer Regierung?

 

Toni Locher: Es tut Eritrea weh, wenn die Jungen abwandern. Das ist nicht gut für ein kleines Land mit 3,5 Millionen Einwohnern und einer Million Staatsbürgern im Ausland. Eritrea gibt 45 Prozent seines Budgets für Bildung aus – vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule. Der „brain drain“, die Abwanderung gut Ausgebildeter, ist eine Bürde für ein armes Land, das sie im laufenden Prozess des „nation building“ dringend nötig hätte.

 

faktuell.ch: Wenn Eritreer in der Schweiz Asyl erhalten, kann man ihre Geldüberweisungen aus unseren Sozialwerken als Entwicklungshilfe betrachten. Macht sich die Schweiz aber nicht auch der kolonialistischen Ausbeutung schuldig, indem sie dem Land die „Ressource“ Mensch entzieht?

 

Toni Locher: Die Eritreer sind ein sehr stolzes Volk. Es tut den Älteren sehr weh, wenn die Jungen eine höllische Reise in Kauf nehmen, um nach Europa abzuhauen, dort erst mal mit Desinfektionsmitteln abgesprüht werden und merken, dass sie nicht willkommen sind. Das ist nicht gut für ihre Seele. Eritrea kennt eine starke Wertegemeinschaft, die Familie, auf die sich die Jungen in Europa nicht mehr abstützen können. Der Mix von Frustration, Ablehnung und Langeweile führt dazu, dass sie ins soziale Elend abgleiten, sich mit Alkohol betäuben oder gar Suizid begehen. Sie sind wie verlorene Söhne und Töchter. Wir haben zwar ein ausgezeichnetes Sozialnetz. Aber junge Männer, die auf Jahre hinaus auf Sozialhilfe sind – das ist für mich kein Leben in Würde.

 

faktuell.ch: Wie kommt es, dass minderjährige Kinder aus Eritrea bei uns auftauchen?

 

Toni Locher: Die Eltern versuchen, ihre Kinder mit Strenge oder Überzeugungskraft zurückzuhalten, aber diese hauen einfach ab. Die jungen Eritreer sind über Social Media in ihren Peer Groups vernetzt und gut informiert. In Internet- Cafés ist das Hauptthema, wie man gut nach Europa und in das Land mit den besten Bedingungen kommt. Nach 2005 (Dienstverweigerung in Eritrea berechtigt zu Asyl) ist das die Schweiz. Vorher war die eritreische Diaspora in der Schweiz ganz klein. Jetzt ist die Türe offen – daran hat auch die Asylgesetzrevision 2013 nicht viel geändert. Der Sog ist da. Die Diaspora zahlt, wenn ein Minderjähriger gegen den Willen der Eltern abhaut. Es ist für die Verwandten schwierig, finanzielle Hilfe abzulehnen. Der Junge kann auch nicht zurück, weil er sein Gesicht wahren will.

 

faktuell.ch: Und wer Asyl beantragt hat, bleibt vorerst im Aufnahmeland…

 

Toni Locher: …da kommt das internationale Non-refoulement-Prinzip zum Tragen. Das nehmen die Schweiz und Eritrea sehr ernst. Es bleibt also nur die freiwillige Rückkehr. Rückschaffungen könnte man diskutieren im Rahmen eines Rückübernahme- und Migrationsabkommens. Dafür muss der Dialog aufgenommen werden. Gerade weil in Eritrea niemand an Leib und Leben bedroht ist, wäre es eine Win-Win-Situation. Ich plädiere für eine Öffnung von beiden Seiten. Die Schweiz und Eritrea sind beide kleine und gebirgige Länder mit vielen Berührungspunkten.

 

faktuell.ch: Das würde eine ständige Vertretung der Schweiz in Eritrea bedingen. Setzt die Schweiz falsche Prioritäten bei ihren diplomatischen Vertretungen?

 

Toni Locher: Ja natürlich. Wir haben ein derart grosses Eritreer-Problem und der Botschafter sitzt im entfernten Khartum, im Sudan. Weshalb nicht in Eritrea? Dass man die richtigen Schwerpunkte setzen kann, macht die EU vor. Die EU, Deutschland, Italien, Frankreich, Grossbritannien und die USA sind vor Ort vertreten und machen differenzierte Analysen der Lage.

 

faktuell.ch: Asylgrund Nummer eins der Eritreer in der Schweiz ist der „Nationaldienst“ – der obligatorische Militär-und Zivildienst. Ist dieser Nationaldienst mit der schweizerischen Wehrpflicht zu vergleichen, die man von 1950 bis 1960 bis ins hohe Alter von 60 zu erfüllen hatte und dann bis 1995 immerhin noch bis 45?

 

Toni Locher: Der eritreische Nationaldienst hat sogar Elemente des schweizerischen Systems übernommen. Laut Proklamation von 1994 dient der Nationaldienst nicht nur der Verteidigung dieser jungen Nation, sondern auch der Staatsbildung, indem sich alle Volksgruppen und Religionen kennenlernen. Daran hatte damals niemand etwas auszusetzen. In Friedenszeiten dauert der Nationaldienst 18 Monate. Weil Äthiopien die Kriegserklärung von 1998 nicht zurückgenommen hat und regelmässig Drohungen ausspricht, gilt de facto ein Kriegszustand. Das heisst, dass der Nationaldienst verlängert werden kann. Dies entspricht der Mobilmachung in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Das ist eine enorme Belastung für das Land, auch eine ökonomische, weil die Soldaten einen kleinen Lohn erhalten, der seit dem 5. Juli 2015 von 500 auf 2000 Nakfa (133 Franken) erhöht wurde. Für die Jungen ist die Situation natürlich hart und schwierig. Aber für einen jungen und armen Staat ist es wichtig, dass sich jeder engagiert für den Wiederaufbau des Landes. Eritrea braucht die jungen Leute in allen Bereichen. Zu 80 Prozent leisten sie zivilen Dienst und sind in den Ministerien tätig.

 

faktuell.ch: Eritrea ist erst seit 1991 von Äthiopien unabhängig und in Sachen Verteidigung wachsam. Spielen wir uns allzu sehr als Schulmeister in Sachen Demokratie über dieses junge Land auf? Zum Vergleich: Wir – seit der Gründung 1848 von Kriegen verschont – haben vom Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1990er-Jahre rund 10‘000 junge Schweizer Dienstverweigerer durch die Militärjustiz aburteilen lassen und für mehrere Monate bis über ein Jahr hinter Gitter gebracht. Nachdem sie die Strafe abgesessen hatten, wurde viele von ihnen im Beruf diskriminiert und in Einzelfällen sogar Heiratsverbote erlassen…

 

Toni Locher: … es ist praktisch in allen Ländern so, dass Desertion strafrechtlich geahndet wird. Was es in Eritrea bisher nicht gibt, ist das Recht auf Dienstverweigerung. In den letzten zwei Jahren der Öffnung des Landes wird Desertion nicht mehr bestraft, Rückkehrer müssen allenfalls ein paar Monate Nationaldienst nachleisten.

 

faktuell.ch: Inwiefern übt die eritreische Botschaft in Genf Druck auf die Eritreer aus, einen Teil ihrer Einnahmen abzuliefern?

 

Toni Locher: Es gibt seit 1991 das 2-Prozent-Gesetz. Leute, die nicht direkt zur Unabhängigkeit des Landes beitragen, keine Toten und Verletzten zu beklagen haben und im Ausland gut verdienen, tragen 2 Prozent ihres Einkommens zum Aufbau des Landes bei. Diesen Beitrag leisten Eritreer, die mit ihrem Land verbunden sind und auch wieder zurückkehren wollen. Die Jungen zahlen praktisch nie. Die haben andere Sorgen und Bedürfnisse.

 

faktuell.ch: Könnte es für schweizerische Fachkräfte verlockend sein, in Eritrea zu arbeiten oder für Rentner, dort ihren Lebensabend zu verbringen?

 

 

Toni Locher: Die alte Diaspora-Generation kehrt – wie viele Italiener – im Alter wieder in die Heimat zurück. Es ist ihnen hier viel zu kalt und zu neblig. Etwas ausserhalb von Asmara hat es ganze Quartiere mit Neubauten, die von Diaspora-Rückkehrern bewohnt werden. Ich kann mir vorstellen, dass Eritrea auch für Schweizer zu einer beliebten Reise- und Altersdestination werden könnte: Das Klima ist sehr angenehm, alles ist sauber, absolut keine Kriminalität. Rentner müssten keine Angst vor Einbrüchen haben. Eritrea hat weltweit die niedrigste Einbruchsrate. Das hat mit der Kultur, mit den Werten des Landes zu tun. Und wir sollten endlich aufhören mit der Diffamierung dieses kleinen Landes. Dahinter steckt der Konflikt Äthiopien-Eritrea. Die Schweiz, die Millionen an Äthiopien gibt, könnte auch etwas Druck ausüben und ihre guten Dienste anbieten, damit der Konflikt gelöst wird, die Sanktionen aufgehoben werden und das Land wieder atmen kann. Dann werden auch weniger Eritreer in die Schweiz kommen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann


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Peter Gross: "Warum heben wir die Zwangspensionierung nicht einfach auf?"

faktuell.ch im Gespräch mit Peter Gross, emeritierter Ordinarius für Soziologie an der Universität St. Gallen, Autor und Publizist.

Peter Gross

 

faktuell.ch: Herr Gross, Sie sind emeritierter Professor und werden 75 Jahre alt – leben Sie mit Ihrer grosszügigen Altersvorsorge auf Kosten der Jungen?

 

Peter Gross: Nein, vorläufig gar nicht. Ich zahle weiterhin AHV-Beiträge, ich zahle ebenfalls weiterhin Einkommens- und Vermögenssteuern. Mancher Junge würde staunen, wenn er meine Steuerrechnung sehen könnte.

 

faktuell.ch: Wie die Statistik der Eidg. Steuerverwaltung zeigt, zahlt ein Rentner in jeder Einkommenskategorie mehr Steuern als ein verheirateter Angestellter ohne Kinder…

 

Peter Gross: …ja und etwa die Hälfte der AHV fliesst schnurstracks wieder in die Volkwirtschaft zurück und kommt den Jungen und der Ausbildung zugut. Aber wenn ich sage, dass auch die 100-Jährigen noch Steuern zahlen, schauen mich die jungen Leute mit grossen Augen an. Sie haben natürlich ein ganz anderes Bild vom alternden, lang lebenden Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sollten sich aber klar werden, dass ein grosser Teil von dem, was ihre Kindergärten, Schulen und Studienplätze kosten, mitfinanziert wird von jenen, die sie angeblich als ‚Schmarotzer‘ unterstützen müssen.

 

faktuell.ch: Vielleicht hat diese Haltung auch damit zu tun, dass unser Erbrecht die Eltern finanziell praktisch entmündigt… her mit dem Erbvorbezug -…

 

Peter Gross: … gut, aber was heisst entmündigen?

 

faktuell.ch: Dürfen wir der Gegenfrage entnehmen, dass Sie es vorziehen, mit „warmen Händen“ zu geben?

 

Peter Gross: Ich halte es für richtig, Kindern Vorbezüge zu geben, am besten mit monatlichem Dauerauftrag an die Bank. Denn heute erben die Jungen nicht mehr von den Alten, sondern die Betagten von den Hochbetagten. Deshalb sollten Eltern ihren Kindern unbedingt etwas überlassen, bevor sie es nicht mehr brauchen, weil sie sonst beim Erben selbst schon 60 oder 70 sind.

 

faktuell.ch: Um die 10 Milliarden Franken ist die Gratisarbeit wert, die die Alten mit der Betreuung ihrer Enkel leisten.

 

Peter Gross: Das ist nichts Neues. Grosseltern haben den Eltern schon immer bis zu einem gewissen Grad die Sorge um die Enkel abgenommen. Früher hatte man neun Kinder und die Last der Betreuung verteilte sich auf alle Tanten und Töchter. Bei den heutigen Kleinfamilien wird dies durch den ‚Generationenbaum‘ kompensiert: Es springt nicht nur die Grossmutter ein, sondern allenfalls auch die Urgrossmutter. Die vertikale Hilfeleistung ersetzt bis zu einem gewissen Grad die horizontale, die man früher hatte. Gut so!

 

faktuell.ch: Sie sehen die Alten auch als Ruhestifter, als Retter des Weltfriedens, weil sie Errungenschaften bewahren und nachhaltig bewirtschaften?

 

Peter Gross: Ja. Die hohe Lebenserwartung ist eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste zivilisatorische Errungenschaft der letzten Jahrhunderte. Sie ist keine Gefahr, sondern eine „opportunity“, eine Möglichkeit, unsere Gesellschaft anders anzulegen. Im Maghreb und in arabischen Ländern findet heute eine demografische Inflation statt. Eine junge, aggressive und unruhige Bevölkerung muss im Zügel gehalten werden, weil sie keinen Platz findet in der Gesellschaft, keine Arbeit, keine Heirat. Sie kann zur Gefahr werden. Es staut sich ein Groll auf, der sich immer wieder entlädt, ein „Karneval der Underdogs“, wie der slowenische  Philosoph Slavoj Zizek sagt. Unsere demografische Evolution wird über die zunehmende Alterung und Langlebigkeit zu einer gewissen Beruhigung dieser Situation führen. Wenn man in diesen Ländern die Menschen fragt, welche Bevölkerungsstruktur sie sich wünschen, dann sagen alle: so eine wie bei euch…

 

faktuell.ch: … und wie wollen Sie junge Männer, die, Testosteron getrieben, eine archaische Lust auf Kampf und Auseinandersetzung haben, auf ihre Seite bringen?

 

Peter Gross: Es braucht seine Zeit, bis sich eine aufgeklärte Familiensituation einstellt. Die Entwicklungshilfe muss man nicht mit Hilfsgütern aufstocken, sondern mit Leuten, die Schulen gründen, Bildung vermitteln und den Frauen sagen, dass es eine Möglichkeit gibt, zu entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht, dass es nichts Naturgegebenes und Automatisches ist…

 

faktuell.ch: Argumentieren Sie nicht aus einer rein westlichen, aufgeklärten und damit bequemen Position heraus?

 

Peter Gross: So ist es. Denn die westliche Perspektive von Freiheit ist vorderhand ein unschlagbares Programm! Unser Verständnis von Freiheit und Gleichheit ist vermutlich der letzte grosse westliche Export, den wir bieten können.

 

faktuell.ch: Zurück zu unserer alternden Gesellschaft. Befürworten Sie ein flexibles AHV-Alter?

 

Peter Gross: Als ersten Schritt ja. Aber es gilt, weiterzugehen bis zu einer vollständigen Öffnung der Lebensarbeitszeit nach oben. Diese Option wird in der Schweiz einfach nicht diskutiert. In neuen empirischen Untersuchungen, bei denen Rentner ein Jahr nach ihrer Pensionierung gefragt werden, ob sie noch arbeiten möchten, antworten über 50 Prozent mit Ja! Weshalb riskiert man aufgrund solcher Daten nicht einfach, die Zwangspensionierung aufzuheben? Klar, es würde riesige administrative Umstellungen bedeuten, weil gewissermassen individualisierte Konten geführt werden müssten. Aber im Prinzip ist es unsinnig, in einem freiheitlichen Land festzulegen, ab wann die Leute nicht mehr arbeiten dürfen.

 

faktuell.ch: Heikel dürfte sein, die Grenze zwischen Arbeitswille und Arbeitsfähigkeit zu ziehen.

 

Peter Gross: Die entscheidende Voraussetzung ist nicht, dass jemand weiter arbeiten will, sondern dass er weiter arbeiten kann. Die Assessment-Abteilungen in den künftigen Betrieben werden nicht mehr allein darauf achten müssen, wie man Leute einstellt und entlässt, sondern wie und wo man sie weiter beschäftigt. Sie müssen die Frage klären, was die Leute können und was sie können müssen. Wenn beides übereinstimmt, dann ist eine Weiterbeschäftigung am Platz, der Wille allein genügt nicht.

 

faktuell.ch: Wie verändert sich dadurch das soziale Gefüge?

 

Peter Gross: Denken wir daran, dass auch die Kundschaft immer älter wird. Verwaltungen, Banken, Versicherungen und andere Institutionen müssen mit ihren Kunden auf Augenhöhe kommunizieren können. Das bedingt ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn eine Institution sich rühmt, die Personalstruktur verbessert zu haben, dann heisst dies in der Regel: Verjüngung des Personals. Dabei müsste die Verbesserung der Personalstruktur vielmehr Anpassung an die Kundschaft bedeuten. Nehmen wir die Sozialversicherungsanstalt SVA in St. Gallen. Ihr Personal hat jetzt ein Durchschnittsalter von weniger als 40 Jahren. Die Kundschaft der SVA, die telefoniert und Auskunft will, ist über 70. Hier stimmt die Augenhöhe überhaupt nicht.

 

faktuell.ch: Oft sind es Besitzansprüche und steigende Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge, die der Beschäftigung von Arbeitnehmern über 50 im Wege stehen. Was wäre zu tun, um diesen Stolperstein aus dem Weg zu räumen?

 

Peter Gross: Da könnten wir dem japanischen Beispiel folgen: „Bananenkurve“ des Lohns. Der Lohn steigt bis ungefähr 50, dann geht es mit neuen Titeln, Auszeichnungen und Beförderungen weiter, aber der Lohn bleibt gleich oder verringert sich. Die empirische Grundlage für ein solches Denken ist, dass die meisten Leute ab 50, 55 nicht mehr so viel Geld brauchen wie in jüngeren Jahren.

 

faktuell.ch: Wer im Arbeitsmarkt steht, gehört gesellschaftlich dazu – ja, wir definieren uns über die Arbeit. Oft ist Überforderung im Spiel, Stress, die Leute sind ausgebrannt, gerade auch in Kaderpositionen, wo Macht und Einfluss locken. Der Ausweg heisst nicht selten Frühpensionierung. Macht sich die HSG als Kaderschmiede, als Fabrik für Ehrgeizige, mitschuldig am gesundheitlichen Niedergang solcher Existenzen?

 

Peter Gross: Ich sehe das Problem. Gerade angehende Finanzwissenschaftler, die als Banker „Kohle“ machen wollen, sind in einer sehr unsicheren Situation. Bei Banken gibt es gewaltige Entlassungsschübe. Von daher ist ein „Training“ des Burn-Out durchaus am Platz. Man muss den Studierenden klar machen – auch an der HSG –,dass ein Grossteil von ihnen früher oder später mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Sie sollten tunlichst nicht die Nase rümpfen über Einrichtungen wie die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen. Die sind in einer solchen Situation ganz wichtig.

 

faktuell.ch: Wie viel zählt der Faktor Erfahrung im digitalen Zeitalter noch?

 

Peter Gross: Der Grossteil des Lebens spielt sich nicht am Computer ab, sondern nach wie vor in der Familie, mit Freunden und Nachbarn. Und die Erfahrung spielt dabei eine gewaltige Rolle. Wenn uns gefällt, wie sich jemand gibt und mit Menschen umgeht, dann tun wir das auch.

 

faktuell.ch: Trump, Clinton, Sanders - in den USA sind Rentner in der Politik, aber auch in der Wirtschaft wie eh und je „am Drücker“. In Westeuropa zeigt sich eine gegenläufige Entwicklung – Cameron, Renzi etc. Und bei uns wird ein 55-jähriger Parlamentarier nach zwei Legislaturperioden bereits genervt aufgefordert, jüngeren Kollegen Platz zu machen. Und ein 36-jähriger HSG-Absolvent ohne jegliche Erfahrung kandidiert als Bundesrat. Wie ordnen Sie diesen Kulturunterschied ein?

 

Peter Gross: Jugendwahn! Ich finde, dass der Druck auf ältere Politiker, nicht mehr zu kandidieren, aufhören sollte. Es stimmt nicht, dass Alte alte Politiker wählen. Es ist vermutlich sogar so, dass die älteren Leute eine grössere Empathie für die jungen Parlamentarier haben als die Jungen selber. Zudem ist es in einer repräsentativen Demokratie, auch in einer altersaffinen Arbeitswelt, wichtig, dass auf allen Stufen die Repräsentation und die Mitarbeit da sind. Es ist völlig daneben, dass im Nationalrat nur noch ein Parlamentarier über 70-jährig ist. Die 70-80-Jährigen machen immerhin gegen 10 Prozent der Bevölkerung aus. Sie haben Anspruch auf ihre Interessenvertreter, die ruhig um die 75 sein dürfen.

 

faktuell.ch: Heute leben in einer Familie oft vier Generationen gleichzeitig. Sie sind der Meinung, dass dadurch das kollektive Gedächtnis gestärkt und eine Art Erinnerungskultur geschaffen wird. Wenn man aber sieht, dass die jungen Historiker bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs lieber in Akten gewühlt haben, als sich mit Zeitzeugen zu unterhalten, fragt sich, ob Erinnerungen tatsächlich noch gefragt sind?

 

Peter Gross: Wichtig finde ich, dass wir eine neue Reflexionskultur haben. Ein und dasselbe Ereignis – nehmen wir zum Beispiel die Übergriffe in Köln und anderswo an Sylvester -, wird heute von verschiedenen Generationen und Kulturen diskutiert. Das war früher nicht möglich. Da gab es eine dominante Meinung und der schlossen sich alle an. Das erhöhte Reflexionspotenzial in der heutigen Gesellschaft ist positiv.

 

faktuell.ch: 25 Jahre Kindheit und Ausbildung, 40 bis 50 Jahre produktive Lebenszeit. Was sollen wir mit den letzten 20 Jahren noch Sinnvolles anfangen, ausser über unsere Gebresten zu jammern?

 

Peter Gross: Wer den Sinn nicht mehr sieht, tut sich natürlich sehr schwer und wartet nur noch auf dem „Friedhofbänkli“. Aber über Gebresten jammern ist für ältere Leute wie ein Gesellschaftsspiel. Das macht vielen ziemlich Vergnügen. Sie bieten ungeheuer viel Redestoff. Aber Spass beiseite: Wir sollten nicht nur materielle Güter produzieren, um Geld im Alter zu haben, sondern auch immaterielle, damit wir im Alter einen Sinn finden. Und wer diesen Sinn findet, der wird mit dem Alter auch gut fertig.

 

faktuell.ch: Die letzten Lebensjahre sind meist die teuersten. Sollten wir dem deutschen Beispiel folgen und eine obligatorische Pflegeversicherung einführen, um die Finanzierung der Alterspflege zu sichern?

 

Peter Gross: Wir sollten es zumindest diskutieren. Wir müssen endlich die Vorstellung entzaubern, dass es unbedingt erstrebenswert ist, in den eigenen vier Wänden alt und krank zu werden. Zuhause sterben mit dem Katafalk in der Stube, mit der Spitex, mit den Ärzten, die hin und her rauschen, mit Verwandtschaft und Kindern die da sind … Ich kann nicht verstehen, weshalb die Leute nur das wollen. Die Palliativstation ist eine segensreiche Einrichtung. Sie muss überall wo es geht ausgebaut werden. Das eigene Heim ist nicht der Himmel zum Sterben. Deshalb scheint mir die Diskussion über eine Pflegeversicherung sehr wichtig.

 

faktuell.ch: Was soll einer solchen Diskussion im Wege stehen? Am Interesse der Versicherungen an einem zusätzlichen Obligatorium dürfte es kaum fehlen.

 

Peter Gross: Instruktiv wäre es, wenn man philosophisch über die Chancen der Langlebigkeit diskutieren würde. Langlebigkeit als Hoffnung des 21.sten Jahrhunderts. Die ganzen Fragen von Klima und Nachhaltigkeit nicht über Programme einfordern, sondern über das Nachwachsen einer Bevölkerung, die weniger zahlreich und älter wird. Die Akteure tun dies, ohne einem Programm zu folgen, indem sie einfach älter werden. Wenn ich das an meinem Beispiel zeigen kann: Ich lebe jetzt substanzieller als ich mit 40 oder 50 gelebt habe. Damals wurde alles getan, um das Nachdenken zu verhindern. Jetzt lebe ich anders. Mehr Ruhe, mehr Besinnung, keine Konsumhektik.

 

faktuell.ch: Und worin besteht nun wirklich der Sinn des langen Lebens, Herr Prof. Gross?

 

Peter Gross: Es gibt die – wie ich finde: blöde - Aussage von Brecht in der „Dreigroschenoper“: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Dem entgegne ich: Erst kommt der Sinn, dann kommt das Fressen. Denn ohne Sinn macht auch das Fressen keinen Sinn. Und: Alter beruhigt, birgt Entschleunigung und macht das Leben zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ganz. Anders gesagt: Alter mässigt eine heiss laufende Gesellschaft, die sich selber in jugendlichem Überschwang überfordert und ihre eigenen Lebensgrundlagen verzehrt.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 


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Jürg Eberhart: "Wenn jemand in der Lage ist, sich selber Hilfe zu organisieren, dann hat der Staat bei ihm nichts zu suchen."

faktuell.ch im Gespräch mit dem Berner Rechtsanwalt Jürg Eberhart, erster Präsident der KESB im Kanton Bern

Jürg Eberhart

faktuell.ch:  Zwei Jahre KESB und bereits ist die neue Fachbehörde in vielen Kantonen wegen hoher Kosten unter Beschuss. Wo liegt das Problem?

Jürg Eberhart: Es ist unmöglich, das Wirken der KESB in den Kantonen 1:1 zu vergleichen. Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ist ein Bundesrecht. Es macht die Vorgabe, dass neu eine Kollegialbehörde über das Schicksal der betroffenen Menschen entscheidet und nicht mehr ein einzelner Vormund oder Beistand. Den Kantonen ist freigestellt, wie sie das Bundesrecht umsetzen; herausgekommen ist in der Praxis ein breiter Fächer unterschiedlicher Modelle. Beispielsweise hat der Kanton Bern das kantonale Modell gewählt, Zürich das regionale und kommunale, der Aargau das Familiengerichtsmodell und die Westschweiz operiert mehr auf der gerichtlichen Schiene.

faktuell.ch:  Dann ist nicht die KESB an sich, sondern die Wahl des Modells das eigentliche Problem?

Jürg Eberhart: Die rechtlichen Grundlagen und der Massnahmenkatalog sind vom Bund vorgegeben und in allen Kantonen gleich. Ich bin überzeugt, dass Zürich besonders unter Beschuss steht, weil der Kanton ein System gewählt hat, unter dem die KESB Entscheide trifft, aber die einzelnen Gemeinden diese Kosten dann direkt übernehmen müssen. Die Gemeinden haben weder die Möglichkeit, die Kosten zu kontrollieren, noch sie zu beeinflussen. Sie werden einfach mit der Rechnung konfrontiert.

faktuell.ch:  Und im Berner Modell?

Jürg Eberhart: Die KESB löst Kosten für die von ihr angeordneten Massnahmen aus, diese übernimmt der Kanton und anschliessend gelangen sie in den kantonalen  Finanzausgleich. Die Gemeinden sind also anteilmässig trotzdem beteiligt, aber nicht so direkt und unmittelbar wie im Kanton Zürich.

faktuell.ch:  Mit andern Worten: In der Berner KESB braucht man sich den Kopf wegen der Kosten nicht zu zerbrechen – klingt wie ein Freipass für alles Mögliche.

Jürg Eberhart: Unsinn! Unsere KESB überlegt sich selbstverständlich, wie viele Kosten sie verursacht. Die Kosten waren und sind aber nicht der primäre Aspekt der Revision. Wesentlich ist, dass die neue Behörde für die betroffene Person die richtige, angemessene und korrekte Massnahme trifft. Nicht mehr und nicht weniger.

faktuell.ch:  Sie zogen im August 2013 eine erste Bilanz und sagten: „Professionalisierung bringt Mehrarbeit für alle Beteiligten.“ Und damit auch Mehrkosten?

Jürg Eberhart: Nicht unbedingt. Die ehemaligen Vormundschaftsbehörden kosteten auch Geld. Heute sind die Kosten transparenter und vergleichbarer, weil die Massnahmen bei der KESB koordiniert werden und so eine bessere Übersicht besteht, welche Institutionen wie viel verrechnen. Zentral ist für mich, dass die KESB bei Menschen nichts zu suchen hat, die sich mit freiwilliger Hilfe seitens der Familie, der Kirche oder privaten Institutionen wie Pro Senectute selber organisieren können. Der Staat kommt nur dann zum Zug, wenn jemand feststellt: Aha, da geht’s nicht mehr.

faktuell.ch:  Ist die Einführung der Fachbehörden KESB auf eine Überforderung der Gemeinden zurückzuführen?

Jürg Eberhart: Nein. Städte und Agglomerationen haben auch unter dem alten System sehr professionell und angemessen gearbeitet. Hingegen kamen kleine Gemeinden mit Milizsystem bei komplexen Fällen des Kindes- und Erwachsenenschutzes zunehmend an den Anschlag. Deshalb das erklärte Ziel der Revision für alle: Professionalisierung durch Fachexperten, weil komplexe Fälle Laien überfordern.

faktuell.ch:  Wie gross ist das Risiko, dass keines der Mitglieder der interdisziplinär zusammengesetzten KESB-Gruppe, die den Entscheid fällt, sich persönlich für die im Kollektiv getroffenen Massnahmen verantwortlich fühlt?

Jürg Eberhart: Erstens, die KESB verhindert, dass eine Einzelperson wichtige Entscheide trifft, die einen tiefen Eingriff in die Grundrechte oder das Persönlichkeitsrecht eines Menschen bedeuten können, wie etwa bei einer  Fremdplatzierung eines Kindes. Zweitens, die Verantwortung ist klar geregelt: Die KESB entscheidet als Kollegium; damit soll Willkür ausgeschlossen werden. Und das ist das Wichtigste! Wer als Betroffener mit einem Entscheid der KESB nicht einverstanden ist, hat ein ausgebautes Rechtsmittelsystem zur Verfügung.

faktuell.ch:  Im KESB-Modus arbeiten immer mehrere Leute an einem Fall. Begünstigt das die Möglichkeiten der sogenannten Sozialindustrie?

Jürg Eberhart: Selbstverständlich hat die Sozialindustrie ein Interesse daran, auch im KESB-Bereich Geld zu verdienen. Ich habe Fälle gesehen, in denen ursprünglich eine lokale Vormundschaftsbehörde Entscheide traf, die zu Lasten des Staates mit dermassen viel ergänzender Unterstützung aufgebläht waren, dass die Massnahme für den Staat sehr teuer wurde. Dort musste die KESB eingreifen, das Ganze vereinfachen, so dass am Schluss unter dem Strich weniger Kosten anfielen. Grundsätzlicher Anspruch der KESB ist immer: das angemessen zu tun, was nötig ist. Und manchmal müssen die Leute auch daran erinnert werden, dass sie zunächst ihre Eigenverantwortung wahrnehmen sollen.

 

faktuell.ch:  Ein Vorstoss im Nationalrat verlangt eine Analyse der Kostensteigerung bei der KESB, insbesondere der „horrenden Ansätze“.

Jürg Eberhart: Klar haben professionelle Leute ihren Ansatz, seien das Mediziner, Psychologen, Psychiater oder Sozialarbeitende. Aber man muss unterscheiden: Sozialstaat mit dem letzten Auffangnetz, der Sozialhilfe, auf der einen Seite, und dem Kindes- und Erwachsenenschutz auf der andern Seite. Die KESB ist ausschliesslich zuständig für Kindes- und Erwachsenenschutz und nicht für die soziale Unterstützung der Bürger.

faktuell.ch:  Konkret. Was kostet ein KESB-Fall im Schnitt pro Tag?

Jürg Eberhart: Das kommt drauf an. Eine einfache Beistandschaft beispielsweise ist nicht teuer und wird zwischen Kanton und Gemeinde abgerechnet. Das Mandat können Sozialarbeitende oder Private übernehmen. Ihre Entschädigung – in der Regel eine Pauschale – ist in der Gebührenverordnung geregelt und beträgt 1000 bis 2000 Franken pro Jahr. Stundenlohn zu branchenüblichen Ansätzen wird nur bezahlt, wenn Fachwissen zugekauft werden muss, beispielsweise von einem Juristen oder Psychologen. Es gibt aber auch aufwendige Massnahmen. Da wird es rasch sehr teuer. Wenn die KESB eine ausgesprochen verhaltensauffällige Person in eine gesicherte Anstalt einweisen muss, können Betreuung, Sicherheitsschutz und psychologische Behandlung leicht 20‘000 Franken pro Monat kosten.

faktuell.ch:  Allgemein wird befürchtet, dass mit der Organisation KESB die Zahl der Fälle zunimmt.

Jürg Eberhart: Das kann schon sein. Denn mit der Revision soll auch die Hemmschwelle für Gefährdungsmeldungen sinken. Mitarbeitende in Institutionen wie Schulen, Spitälern etc. sollen genauer hinsehen. Wer Hinweise hat, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist, kann dies der KESB melden und darauf vertrauen, dass sich diese professionelle Behörde dem Fall annimmt. Ein Teil der Gefährdungsmeldungen kommt von Lehrpersonen, die zum Beispiel beobachten, dass ein Kind über längere Zeit verstört wirkt oder regelmässig unzweckmässig angezogen ist. Bei solchen Hinweisen auf eine Gefährdung des Kindes, kann die Schule den Fall der KESB übergeben, statt ihn selber vertieft abklären zu müssen. Andere Gefährdungsmeldungen kommen von der Polizei, die bei Einsätzen feststellt, dass Kinder im Schutzalter involviert sind. Auch sie kann dann die KESB orientieren. Nachbarn können ebenfalls Meldung machen, wenn jemand immer wieder auffällig wird, z.B. randaliert und sich selber oder andere gefährdet. Die KESB klärt dann ab, ob Massnahmen notwendig sind, bis hin zu einer fürsorgerischen Unterbringung bei akuten psychischen Störungen.

faktuell.ch: Und wie verhält es sich mit der Eigenverantwortung involvierter Eltern?

Jürg Eberhart: Die Stärkung der Eigenverantwortung spielt in der Revision eine zentrale Rolle! Die staatlichen Massnahmen sind nur unterstützend, das heisst: Der Staat greift erst dann ein, wenn sich keine private Unterstützung mehr organisieren lässt. Wenn eine Familie mit einem Kind nicht zurechtkommt, wird zuerst abgeklärt, ob sie mit psychologischer Begleitung oder andern Massnahmen soweit gestärkt werden kann, dass eine staatliche Intervention gar nicht notwendig ist. Die Fremdplatzierung ist immer ultima ratio, das letzte Mittel.

faktuell.ch:  Was spricht eigentlich dagegen, gefährdete Kinder ganz einfach im Familienverband, beispielsweise bei den Grosseltern, unterzubringen?

Jürg Eberhart: Das können Spannungen in der Familie sein. Wenn zum Beispiel Vater oder Mutter mit den Grosseltern nicht auskommen, kann das zu Loyalitätskonflikten beim Kind führen. Es kann für das Kind besser sein, wenn man es aus dem spannungsgeladenen emotionalen Umfeld herausnimmt. Die entsprechenden Abklärungen, z.B. psychologische Begutachtung, werden in solchen Fällen von der KESB veranlasst. Da können Kindesschutzmassnahmen relativ komplex werden – so sehr, dass sich kleinere Gemeinden im alten System oft überfordert gefühlt haben.

faktuell.ch:  Das Schweizer Kompetenzzentrum für Menschenrechte kritisiert in einer Studie den fehlenden Schutz der so genannten Melderinnen und Melder. Wie werden sie heute konkret geschützt?

Jürg Eberhart: Grundsätzlich hat jede Person das Recht zu erfahren, weshalb eine staatliche Behörde gegen sie ein Schutzverfahren einleitet. Sie kann im Verfahren auch die Akten einsehen. Die Melder können dann geschützt (im Verfahren anonymisiert) werden, wenn sie sich mit der Meldung einer konkreten Gefahr aussetzen oder zum engsten Familienkreis gehören und das familiäre Verhältnis nicht komplett zerstören möchten.

faktuell.ch:  Besteht nicht die Gefahr, dass ein verbesserter Schutz der Melder dem Denunziantentum Tür und Tor öffnet?

Jürg Eberhart: Das „Denunziantentum“ will der Kindes- und Erwachsenenschutz natürlich nicht fördern. Sein Ziel ist es, rechtzeitig begründete Meldungen über den Schutzbedarf eines Menschen zu erhalten. Es muss die Regel bleiben, dass die betroffene Person erfährt, wer eine Gefährdungsmeldung gemacht hat und weshalb.
 
faktuell.ch:  Man spricht immer nur über den Kindesschutz. Wie verhält es sich eigentlich neu mit dem Erwachsenenschutz?

Jürg Eberhart: Im Erwachsenenschutzrecht ist die Vormundschaft aufgehoben worden. Ein Erwachsener erhält heute keinen Vormund mehr, sondern einen Beistand. Die Beistandschaft hat verschiedene Formen von der einfachen bis zur umfassenden für Erwachsene, die nicht mehr urteilsfähig sind. Auch hier ist das erklärte Ziel, immer die möglichst angemessene, „massgeschneiderte“ Form zu wählen.

faktuell.ch:  In welchen Fällen ist der Schutz Erwachsener notwendig?

Jürg Eberhart: Häufig bei geistig behinderten Jugendlichen, die ins Erwachsenenalter kommen oder wenn Kindesschutzmassnahmen durch eine Erwachsenenschutzmassnahmen abgelöst werden müssen. Es gibt aber auch Erwachsene, die nicht in der Lage sind, ihre Finanzen zu ordnen oder eine Steuererklärung auszufüllen. Nach einer Meldung bei der KESB kann für sie mit Hilfe des abklärenden Sozialdienstes oft eine private Unterstützung – durch ein Familienmitglied, eine Institution oder einen Treuhänder – organisiert werden. Die Behörde kann auch eine einfache Form der Beistandschaft errichten, damit sich ein Beistand um die Geldfragen kümmert. Bei älteren Menschen handelt es sich häufig um Demente oder Personen mit anderen Altersbeschwerden. Wenn die Unterstützung innerhalb der Familie oder im privaten Umfeld nicht möglich ist, erhält eine so hilfsbedürftige Person einen Beistand.

faktuell.ch: Heute wird der KESB vielfach vorgeworfen, sie sei zu weit weg von den betroffenen Menschen…

Jürg Eberhart: …ja, aber auf der andern Seite waren die früheren Vormundschaften fast ein bisschen zu nahe dran. Die Kunst ist jetzt, eine saubere fachliche Abklärung zu machen. Die Abklärer im lokalen Sozialdienst kennen das persönliche Umfeld, übergeben den Fall dann aber der Entscheidungsbehörde KESB, die das Ganze vielleicht noch etwas sachlicher und persönlich distanzierter ansieht. Aber bitte: Das heisst nicht, dass die vormaligen Vormundschaftsbehörden schlecht oder willkürlich gehandelt haben. Es gab ausgezeichnete Vormundschaftsbehörden, die sehr professionell und sachlich arbeiteten.

faktuell.ch:  Waren die Erwartungen des Gesetzgebers an die KESB zu hoch?

Jürg Eberhart: Das glaube ich nicht. Zu hoch waren eher die Erwartungen, die im Vorfeld bei den Gemeinden, Institutionen und andern Behörden geweckt wurden. Die KESB ist sicher nicht die für alles allein selig machende Behörde, wie sich das gewisse Leute und Institutionen vorgestellt haben. Es handelte sich bei dieser KESB-Revision nicht um eine simple Verwaltungsreform, sondern um einen verwaltungstechnisch einzigartigen Vorgang: Man hat in die ganzen kantonalen Abläufe eine neue Behörde quer wie einen Balken hineingeschoben. Es müssen sehr viele Einzelteile zusammenspielen, bis die neue Behörde läuft wie geschmiert.

faktuell.ch:  Letzte Frage: Was stört Sie an der öffentlichen KESB-Kritik?

Jürg Eberhart: Wichtig ist mir, dass man die KESB nicht nur an den Fällen misst, die in den Schlagzeilen sind. Das sind Einzelfälle – zum Glück relativ wenige. Es ist auch wichtig, dass man die KESB nicht mit Jahrzehnte zurückliegenden Problemen wie der Behandlung der Verdingkinder in Verbindung setzt, sondern darauf vertraut, dass sie von Fall zu Fall die nötigen Massnahmen einleitet, und zwar nur dann, wenn sie absolut notwendig und verhältnismässig sind. Die KESB ist keine Willkürbehörde!

 

(Das faktuell.ch-Gespräch mit Jürg Eberhart hat im März 2015 stattgefunden und ist im April 2015 ergänzt worden)


Jürg Eberhart,

ist praktizierender Rechtsanwalt in Bern (www.eberhart-law.ch). Nach der per 1. Januar 2013 erfolgten Neuorganisation des Vormundschaftswesens war er erster Präsident der Geschäftsleitung der neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) im Kanton Bern.  Vorher war er jahrelang Mitglied und Vizepräsident einer kommunalen Vormundschaftsbehörde und anwaltlich sowie beratend tätig. In seiner Tätigkeit als Generalsekretär der Swisscom / Telecom PTT befasste er sich zuvor massgeblich mit der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes, mit der Neuorganisation der damaligen PTT-Betriebe sowie mit der Gründung und dem Börsengang der Swisscom AG.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann


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Daniela Merz, Lynn Blattmann: "In der Sozialfirma müssen die Besten gehen: Kündigung wegen Arbeitsmarktfähigkeit."

faktuell.ch im Gespräch mit Daniela Merz und Dr. Lynn Blattmann, CEO und COO der Sozialfirma Dock Gruppe AG

Daniela Merz, Lynn Blattmann

 faktuell.ch: 1997 hat die Stadt St. Gallen für Langzeitarbeitslose das Programm „Arbeit statt Fürsorge“ lanciert. Sie beide, Frau Merz und Frau Blattmann, haben daraus nach der Jahrtausendwende die Sozialfirma Dock Gruppe AG aufgebaut – mit heute 12 Betriebs-Standorten und rund 1300 Beschäftigten im Monatsdurchschnitt. Wie definieren Sie „Sozialfirma“?

 

Lynn Blattmann: Eine Sozialfirma ist ein Betrieb, der gegründet wird, um Arbeitsplätze für Leute zu schaffen, die keine Stelle haben, und zwar idealerweise so viele Arbeitsplätze wie es braucht. Unsere Dock Gruppe versucht, Arbeiten in der Schweiz zu behalten, die sonst ins Ausland ausgelagert würden und übernimmt Jobs, die sich für den ersten Arbeitsmarkt nicht lohnen.

 

faktuell.ch: Das sind Montagen, Recycling, Verpacken von Produkten etc. Und wie finanziert sich eine Sozialfirma wie die Dock Gruppe?

 

Lynn Blattmann: Hauptsächlich über die Aufträge der Leute, die hier arbeiten. Die Sozialdienste übernehmen die Lohnkosten. Aus der Sozialhilfe wird ein Lohn. Das entspricht der Idee: Arbeit statt nur Sozialhilfe.

 

faktuell.ch:Ticken Sozialunternehmer anders als gewöhnliche Firmenchefs?

 

Daniela Merz: Jein, auch bei uns geht es darum, möglichst viel von dem zu übernehmen, was der erste Arbeitsmarkt vorgibt. Wir müssen die Grundprinzipien des ersten Arbeitsmarktes in eine Tätigkeit für arbeitslose Menschen übersetzen. Allerdings ist die Gewinnorientierung bei uns eine andere.

 

faktuell.ch: Auch die Haltung?

Daniela Merz: Ja. Im ersten Arbeitsmarkt hat Gewinn eine andere Bedeutung als bei uns. Wir müssen keinen Gewinn machen, nur eine schwarze Null schreiben und vormals Arbeitslose möglichst optimal einbinden können. Das ist eine andere Herausforderung.

 

faktuell.ch:Sehen Sie sich als NGO?

 

Daniela Merz: Wir sind gemeinnützig, steuerbefreit, gehören quasi der Allgemeinheit und sind nicht gewinnbeteiligt. So gesehen haben wir viele Gemeinsamkeiten mit einer NGO. Darüber hinaus haben wir aber einen klaren unternehmerischen Auftrag. Wir haben einerseits betriebswirtschaftliche Zielsetzungen mit ganz klaren Kennzahlen, andererseits auch soziale Zielsetzungen. Man erfüllt nie beide Ziele zu 100 Prozent. Wäre es so, käme etwas anderes zu kurz. Wir haben gelernt, mit einem Fünfer oder Viereinhalber zu leben. So sind alle zufrieden.

 

faktuell.ch: Klingt nach Spagat zwischen sozialer und unternehmerischer Ausrichtung?

 

Daniela Merz: Ja, in diese Rolle muss man hineinwachsen. Was geht? Was geht nicht? Wie können wir es anders angehen? Das müssen wir auch mit den Kadermitarbeitern und den Betriebsleitern üben. Ich nenne das Haltungsturnen. Und wir müssen uns klar sein: Als Sozialfirma werden wir nie einen Blumentopf gewinnen, nie ein „best of“, nie „Unternehmer des Jahres“. Denn wir müssen immer wieder Abstriche in Kauf nehmen und die Richtung laufend korrigieren.

 

faktuell.ch: Dann überwiegt doch die soziale Ader, die Unternehmerinnen wie Sie veranlasst eine Sozialfirma zu führen?

 

Daniela Merz: Als ich hier begann, übernahm ich ein kapitalisiertes Unternehmen mit der gesamten unternehmerischen Freiheit. Wer hat das schon? Wir sind nicht abgesichert. Niemand bezahlt unsere Defizite. Aber wenn wirklich etwas schief läuft, dann haben wir andere Möglichkeiten als eine normale Firma. Das würde zwar heissen…

 

Lynn Blattmann: …dass wir dann nicht mehr viel selbst entscheiden könnten.

 

Daniela Merz: Stimmt. Aber das Szenario ist nicht schwarz-weiss, wir sind nicht entweder in der Gewinnzone oder im Konkurs. Das ist komfortabel, aber darf nicht zur Bequemlichkeit führen. Was uns wirklich reizt, ist das Unternehmerische.

 

Lynn Blattmann: Das Unternehmerische können wir als Sozialfirma völlig anders leben als im ersten Arbeitsmarkt, in der die produzierende Industrie mit Weltpreisen vergleichen muss und vom Euro verhagelt wird. Klar, die Konjunktur wirkt sich auch auf uns aus, aber unsere Sachzwänge sind andere. Auf diese versuchen wir Einfluss zu nehmen, um für die Leute neue Stellen zu schaffen und wieder einen grossen Auftrag an Land zu ziehen. Und sie ziehen gerne mit, leisten auch mal Überstunden. Weil wir vorwiegend Teilzeitangestellte haben, sind wir mit Überzeit noch nicht bei der Ausbeutung, aber doch bei einem Sondereffort. Da merkt man, dass man nicht alleine ist. Das gemeinschaftliche Gestalten zieht mehr als das Gutmenschentum im Sinne von: lch bin ach so sozial und möchte Gutes tun für die Welt. Das mag mitschwingen, aber es ist nicht der Haupttreiber.

 

faktuell.ch: CEOs und COOs in der grossen Welt des Kapitals verbinden Erfolg gewöhnlich nicht mit dem Gemeinschaftsgefühl. Sie schon?

 

Lynn Blattmann: Ja, wir sind alle „Docker“. Das verbindet uns und treibt uns an. Das treibt einem die Schweissperlen auf die Stirn. Und wenn einer nur drei Tage in der Woche mitmachen kann, dann hat er es immerhin drei Tage geschafft und kann sagen: Ich gehöre dazu, ich arbeite für mein Geld. Das hat etwas mit Stolz zu tun, aber auch mit Würde. Denn wenn man nur Empfänger ist, wird man auch so behandelt.

 

faktuell.ch: Sie vertreten die Auffassung, dass der Mensch sich weitgehend durch seine Arbeit definiert. Gibt es unter den 70 Nationen, die bei Ihnen vertreten sind, nicht auch Kulturen, in denen Arbeit einen weniger zentralen Stellenwert hat?

 

Daniela Merz: Die gibt es sicher. Aber auch unter den Schweizern. Ein paar wenige Prozent werden diese Grundveranlagung haben. Interessant ist, dass wir in Sachen Religion, Frauenbild und vielen andern Fragen mit andern Kulturen keinen gemeinsamen Nenner finden. Aber Arbeiten – das funktioniert in allen Ländern plus-minus gleich. Man muss irgendwann mal anfangen, etwas tun, und dann erhält man etwas dafür. Dieses Grundverständnis hat jeder, egal, woher er kommt…

 

Lynn Blattmann: … und das Ideologische tritt absolut in den Hintergrund. Es ist kein Thema, dass wir zwei Frauen sind, die die Dock Gruppe leiten. Es gibt keine Diskriminierung, keine blöden Sprüche. Die Rollen sind klar verteilt. In einer Sozialfirma kann man die Leute nicht übers Geld steuern und mit Geld motivieren. Deshalb ist es wichtig, dass die richtigen Leute am richtigen Ort sind. Wenn ein fauler Kerl Vorarbeiter ist, und Leute zugewiesen werden, die eigentlich mehr können, dann müssen wir handeln. Und zwar schnell. Wer eine bestimmte Position hat, muss es auch bringen. Wir können bei unserem festen Mitarbeiterstab nicht sozial sein. Die Hierarchie muss stimmen.

 

Daniela Merz: Ein zweiter Führungsschwerpunkt ist es, extrem darauf bedacht zu sein, sich selber zu erkennen zu geben – wer bin ich? wie ticke ich? Die Rollensicherheit ist uns eine Herzensangelegenheit. Was darf man von mir erwarten als Vorgesetzte? Was darf ich von meinem Mitarbeiter erwarten? Das muss man klar offenlegen. Keine Spielchen. Nicht zynisch. Nicht ironisch. Humor ist ganz heikel. Die Kulturen sind unterschiedlich. Also ganz einfach bleiben, damit die Leute alles richtig verstehen und einordnen können.

 

faktuell.chKönnen Sie beziffern, was die Arbeitsintegration in der Sozialfirma den Steuerzahler kostet?

 

Lynn Blattmann: Klar. Was diese in der Dock Gruppe AG kostet, können wir genau sagen. Dafür haben wir ein Berechnungsmodell erarbeitet. Volkswirtschaftlich ist der passiv- aktiv Transfer irrelevant (= Umwandlung von Sozialhilfe in Lohn pro geleistete Arbeitsstunde, rund Fr. 16.-). Darum rechnen wir Aufwand und Ertrag der öffentlichen Hand aus unserer Tätigkeit aus.
Aufwand = Beiträge der öffentlichen Hand, die in unsere Institution fliessen: Fr. 2.25 pro Stunde, die ein Zugewiesener bei uns arbeitet.
Ertrag = Abgaben der Dock Gruppe an die öffentliche Hand pro Stunde, die ein Zugewiesener bei uns arbeitet: Fr. 2.41 pro Stunde an die AHV,
Fr. 1.48 an die übrigen Sozialversicherungen, Fr.-.85 an die BVG, Fr.-.23 an die MwSt. Total unserer Abgaben: Fr. 4.98. Das ergibt eine volkswirtschaftliche Wirkung von Fr. 2.73. Der Staat macht also, weil es uns gibt, Fr. 2.73 pro Arbeitsstunde vorwärts.
Wir haben 2014 eine Million Stunden gearbeitet. Damit haben wir dem Steuerzahler satte 2,73 Millionen Franken eingespart. Darauf sind wir stolz. Und das macht uns auch unabhängig.

 

faktuell.ch: Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?

 

Daniela Merz: Wir, die Dock Gruppe, haben am Markt pro Stunde Arbeit, die unsere Leute 2014 geleistet haben, Fr 6.99 verdient. Dies zeigen unsere betriebswirtschaftlichen Kennzahlen. Bei einer Million Arbeitsstunden gibt das 7 Millionen Franken und mit denen müssen wir uns irgendwie finanzieren. Mit andern Worten: Das grosse Sparpotenzial sind wir. Je weniger Festangestellte wir im Einsatz haben, desto weniger Kosten generieren wir. Je bescheidener wir leben und uns einrichten, desto tiefer sind die Kosten. Das ist ein Grundverständnis, zu dem wir in den letzten Jahren gelangt sind. Vor zwei Jahren hatten wir 10 Festangestellte mehr. Wir sind bewusst runtergefahren, um Raum zu schaffen für Langzeitarbeitslose. Deswegen haben sie bei uns eine unbefristete Anstellung. Man kann mit ihnen genauso Personalentwicklung machen wie mit den Festangestellten.

 

faktuell.ch: Es ist Ihr erklärtes Ziel, möglichst viele Ihrer Mitarbeitenden wieder für eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt fit zu machen – „Hilfe zur Selbsthilfe“. Wie vielen von ihnen gelingt der Einstieg?

 

Lynn Blattmann: 10 bis 20 Prozent der Durchschnittsbelegschaft der Dock Gruppe pro Jahr finden wieder eine Stelle. Austrittsgrund: Stelle. Die Integrationsquote ist jedoch massiv zurückgegangen. Vor fünf Jahren fand noch ein gutes Drittel der Belegschaft wieder eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt.

 

faktuell.ch: Die Integrationsquote ist konjunkturell bedingt. Können Sie – wenn sie ansteigt – nicht auch einen Teil des Erfolgs für sich verbuchen?

 

Daniela Merz: Studien zeigen, dass der grösste Teil der Leute auch ohne uns eine Stelle finden würde. Dafür braucht es uns nicht. Aber es geht um die andern gegenwärtig 80 bis 90 Prozent. Und selbst wenn wir eine Integrationsquote von 40 Prozent haben, messen wir uns nicht an dieser. Denn was machen wir mit den 60 Prozent, die es nicht auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen? Sagen wir denen jeden Tag, du gehörst zu den 40 Prozent. Welch eine Schmach. Nein, auch du hast eine gute Arbeitsstelle verdient. Punkt.

 

faktuell.ch: Es gibt Leute, die jahrelang bei Ihnen arbeiten?

 

Daniela Merz: Es gibt Leute, die länger da sind als ich!

 

faktuell.ch: Und was ist das Schicksal eines Menschen, der auch die Arbeit im Dock nicht schafft?

 

Lynn Blattmann: Er geht zurück auf die Sozialhilfe und realisiert, dass er nicht mehr rauskommt. Man will – böse gesagt – nicht, dass sich die Leute arrangieren in der Sozialhilfe und dabei zufrieden sind. Gesellschaftlich wäre es allerdings viel gefährlicher, wenn sie alle unzufrieden wären. Es gibt auch Querulanten, die lieber sterben würden, als sich zu arrangieren. Aber das sind Einzelfälle.

 

faktuell.ch: Sie haben den Fachverband unternehmerisch geführter Sozialfirmen F.U.G.S. gegründet. Boomt die Branche?

 

Lynn Blattmann: Überhaupt nicht. Aber das kommt noch. Wir glauben daran. Seit den 1960er Jahren beobachten wir die so genannte Professionalisierung im Sozialwesen. Das Sozialwesen wurde dadurch nicht nur aufgewertet, es wurde auch stark psychologisch ausgerichtet. Heute spürt man vielerorts dass die gängigen Methoden keinen grossen Erfolg mehr bringen, aber wahnsinnig viel kosten. Der Druck zur Veränderung ist noch nicht gross, aber er wächst. Das spürt man am stärksten bei den Schwächsten, den Sozialhilfeempfängern. Dort werden am meisten Angebote gestrichen. Die Krux ist, dass es für Sozialunternehmer kein Berufsprofil gibt. Der Fachverband ist auch nicht primär entstanden, um Sozialfirmen zu organisieren. Er soll eine Fachplattform sein für Diskussion und Austausch und sozialunternehmerische Ideen weiterentwickeln.

 

faktuell.ch: Die Sozialarbeit ist zu einer Sozialindustrie geworden, die zahlreiche  Beschäftigungsprogramme und Therapien anbietet. Werden sie durch Sozialfirmen bald alle überflüssig?

 

Daniela Merz: So allgemein kann man das nicht sagen. Wir haben uns „spezialisiert“ auf Langzeitarbeitslose, die eine sehr tiefe Integrationschance haben. Ich glaube, da wäre es dringend notwendig, dass Sozialfirmen übernehmen. Aber es geht nicht darum, dass man Mittel streicht, sondern sie verlagert und sich gezielt die Frage stellt, für welche Art von Arbeitsintegration wie viel Geld zur Verfügung gestellt werden soll. Jugendarbeitsintegration ist eine ganz andere Herausforderung, da müssen auch andere und viel aufwendigere und vielfältigere Methoden angewendet werden können.

 

faktuell.ch: Welche Rolle teilen Sie dem Staat bei der Arbeitsintegration zu?

 

Daniela Merz: Ich finde, der Staat sollte endlich den Mut haben, Rahmenbedingungen festzulegen. Die fehlen im Moment auf allen Ebenen. Das Arbeitsrecht könnte man für den zweiten Arbeitsmarkt modifizieren. Unsere Leute zahlen Arbeitslosenbeiträge, obschon sie nie mehr Taggelder beziehen können. Wie gerecht ist denn so etwas? Das sind die Ärmsten der Armen, die in die Sozialversicherungs-Töpfe einzahlen dürfen, aber nichts mehr erhalten. Das ist keine Versicherung, das ist eine Abgabe. Wenn wir staatliche Rahmenbedingungen hätten, würden für alle Anbieter die gleichen Bedingungen gelten, das ist heute gar nicht so. Was heisst Konkurrenzverbot? Wie viel Wertschöpfung darf eine Arbeitsintegrationsfirma pro Stunde erzielen? Solche Rahmenbedingungen könnten auch einfach kontrolliert werden.

 

faktuell.ch: Das heisst, das ganze Sozialversicherungssystem müsste revidiert werden…

 

Lynn Blattmann:…zu schön, um wahr zu sein! Man ist lange davon ausgegangen, mehr ist besser, noch mehr ist noch besser. Man müsste einmal über Finanzen und Wirkung reden. Wirkung im Sinn von Franken. Volkswirtschaftlich betrachtet. Wohin fliesst das Geld? Wie viel fliesst in die Institutionen und wie viel kommt den Betroffenen zugute? Diese Subjekt / Objekt – Betrachtung kann sehr viel bringen. Sie sehen nirgendwo so viele USM-Möbel wie in den Sozialinstitutionen, den Sozialämtern. In keinem Industriebetrieb habe ich je USM-Möbel gesehen. Obwohl es eigentlich „industrial design“ ist. Das ist für mich ein Bild für eine Haltung, die mit Sozialem sehr wenig zu tun hat. Da ist etwas schief gelaufen, über das man dringend reden sollte bevor es unangenehm wird.

 

Daniela Merz: Industrie und Wirtschaft funktionieren ganz anders. Wenn wir eine Lösung brauchen und uns an ein grosses Unternehmen wenden, helfen die uns innerhalb von 10 Minuten. Die Bereitschaft ist sehr gross, weil die Haltung zum Thema Arbeitslosigkeit dieselbe ist. Wir gehen alle davon aus, dass arbeiten wichtig ist. Arbeit gibt mehr als nur Einkommen. Arbeit gibt Selbstwert, Arbeit gibt einen Tagesinhalt. Der Staat ist ein fairer Partner solange er Rahmenbedingungen machen und Kontrollfunktion wahrnehmen kann. Das ist völlig okay. Aber der Staat soll nicht unternehmerisch agieren müssen, weil er das gar nicht kann. Er hat seine eigenen Rahmenbedingungen.

 

faktuell.ch: Was macht eine gute Sozialfirma aus?

 

Lynn Blattmann: Sie darf den Staat nicht sehr viel kosten und die Leute müssen reelle Arbeit haben, die so organisiert ist, dass sie sie bewältigen können und dafür einen Lohn erhalten. Es gibt Sozialfirmen, die sich so nennen und keinen Lohn bezahlen und solche, die eher Beschäftigung als Arbeit anbieten, weil sie keine geeignete Arbeit akquirieren können.

 

Daniela Merz: Es findet ein riesiger Verteilkampf um die öffentlichen Mittel statt! Unser Appell: Lasst uns strukturiert über Geld und Wirkung reden, dann haben wir einen Benchmark! Genauso wie man in der Hotellerie weiss, was die Zimmerreinigung im Dreisternbereich kostet und ab welcher Belegung ein Betrieb rentabel ist, weiss man beispielsweise in der Psychiatrie mittlerweile sogar mit der Fallpauschale wie viel eine Depression kostet. Darüber kann man reden. Nur in der Arbeitsintegration will man partout nicht über Geld reden.

 

faktuell.ch: Sie haben 2010 zusammen ein Buch geschrieben mit dem Titel „Sozialfirmen – Plädoyer für eine unternehmerische Arbeitsintegration“ (rüffer & rub; ISBN 978-3-907625-48-4). Welche neuen Erkenntnisse haben Sie seither gemacht?

 

Lynn Blattmann: Der Wind ist viel rauher geworden seither. In der Sozialhilfe will man heute weniger ausgeben. Gelder werden still gestrichen. Wenn einer Sozialhilfe bezieht und keine Stelle findet, dann macht er etwas falsch. Er ist faul. Diese Vorstellung steckt tief in uns drin. In der Hochkonjunktur mit Vollbeschäftigung hat man noch auf dieser Klaviatur spielen können. Da ist halt der eine oder andere Lebenskünstler in der Sozialhilfe gelandet. Heute haben wir eine strukturelle Arbeitslosigkeit – aber nicht einmal die Leute in den Sozialämtern getrauen sich darüber zu reden. Weil es keine Lösung gibt. Scheinbar gibt es nur die teuren Integrationsprogramme. Die Eintrittsschwelle zum ersten Arbeitsmarkt ist seit der Publikation unseres Buches sehr viel höher geworden. Maschinen in der Industrie kosten Millionen von Franken und werden von Leuten mit Berufs- oder sogar Hochschulabschluss bedient. Der Maschinenführer von heute ist nicht mehr „Gustav“.

 

faktuell.ch: Welche Kurskorrekturen haben Sie in den letzten fünf Jahren aktiv bei der Dock Gruppe AG vorgenommen?

 

Daniela Merz: Wir haben unser ganzes Finanzierungssystem auf den Kopf gestellt. Wir haben eine Anmeldegebühr einführen müssen. Wir haben das aktuellste ISO- oder Qualitätsmanagementsystem das man sich überhaupt vorstellen kann, weil wir jeden Tag etwas Neues erfinden. Irgendjemand kommt wieder mit einer guten Idee. Damit versuchen Lynn auf operativer und ich auf strategischer Ebene die Leute zu motivieren. Ich glaube das wichtigste Attribut in der ganzen Geschichte ist Vertrauen. In der Sozialhilfe ist Kontrolle angesagt, bei uns im Betrieb Vertrauen auf jeder Ebene. Auch eine Langzeitarbeitslose, die mein Büro putzt, darf einen Schlüssel haben. Die putzt einfach, ganz lieb, und am Schluss riecht es noch besser wenn ich wieder reinkomme. Dieses Vertrauen muss man lernen. Das wäre schwierig, wenn Lynn und ich nicht einen guten Draht zueinander hätten. Wir können unsere Sorgen und Zweifel teilen. Wir sind ein Team.

 

Lynn Blattmann: Zuerst haben wir gefunden, dass unsere Leistungsträger nur befristete Arbeitsverträge haben sollten. Wir wollten ja nicht, dass unsere Besten dauerhaft bleiben. Das fanden die Arbeitnehmer aber nicht fair. Leute in verantwortungsvollen Positionen müssen gehen und die andern, die weniger Zuverlässigen, können unbefristet bleiben. Das sei denn doch die Höhe. Wir haben das diskutiert und herausgefunden, dass Leute ohnehin freiwillig gehen, wenn sie „draussen“ mehr verdienen können. Aber wenn jemand sehr gut arbeitet und  55 ist, dann muss er dennoch bangen um seinen Job bei uns. Wir haben uns vom Anliegen unserer Arbeitnehmenden überzeugen lassen. Wir haben allerdings unsere Beförderungspolitik angepasst. Ein 35- jähriger wird eher nicht befördert, wenn er gut ist, er soll eine Stelle suchen. Es ist allerdings auch schon vorgekommen, dass wir jemandem gekündigt haben, weil er gezeigt hat, dass er wirklich gut ist.

 

Daniela Merz: In der Sozialfirma müssen die Besten gehen: Kündigung wegen Arbeitsmarktfähigkeit.

 

faktuell.ch: Da kommt auch nicht gerade ein Gefühl von Sicherheit auf.

 

Lynn Blattmann: Kommt drauf an, wie transparent so eine Haltung ist. Nehmen wir den Fall des schweren Alkoholikers, endlich mal halbtrocken und stabil, hat lange auf dem Bau gearbeitet, ist Ende 50, und arbeitet bei uns sehr zuverlässig. Der kann nie mehr auf den Bau. Dafür ist sein Pegel zu hoch, das ist zu gefährlich. Oder er müsste nochmals einen vollen Entzug machen, das ist in seinem Fall unrealistisch. Er braucht einen Job, der ihn fordert, aber nicht überfordert, das hat er bei uns. So jemand pushen wir nicht, er weiss, dass er keine Stelle mehr suchen muss, er fühlt sich sicher und es geht ihm bestens. Wenn der Mann aber 35 wäre und endlich seine Drogensucht überwunden hätte, also ganz stabil, dann müsste ich früher oder später sagen: „Junge, weisst du was? Jetzt flieg!“

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

(das faktuell.ch-Gespräch mit Lynn Blattmann und Daniela Merz fand im August 2015 statt)

Daniela Merz, Lynn Blattmann

Daniela Merz, Lynn Blattmann



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Annemarie Lanker: „Entstanden ist eine professionell organisierte Unzuständigkeit.“

faktuell.ch im Gespräch mit der Berner Sozialhilfe-Expertin Annemarie Lanker

Annemarie Lanker

faktuell.ch: Mit der Höhe der Sozialhilfe wird im Wesentlichen ein Ziel verfolgt: materielle Existenzsicherung. Damit soll möglich sein, dass Menschen in Not gesellschaftlich integriert bleiben und Kinder aus prekären Verhältnissen den Anschluss nicht verlieren (Chancengleichheit). Klingt vernünftig und trotzdem stösst die Umsetzung auf Kritik. Woran liegt das?

Annemarie Lanker: Es fehlt hüben und drüben an Augenmass, ein extremes Beispiel ist der „Fall Carlos“. Eine Grossmutter, die ihren Enkel hütet, damit die alleinerziehende Tochter einer Arbeit nachgehen kann, braucht keine Entschädigung durch die Sozialhilfe; eine achtköpfige Migranten-Grossfamilie, die vorher bei sich zuhause auf engstem Raum zusammenlebte, braucht nicht für jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer. Früher haben sich die Menschen zu Unrecht oft geschämt, wenn sie Sozialhilfe beziehen mussten. Heute erklären sie selbstbewusst, was ihnen zusteht und verweisen auf die entsprechenden Gerichtsurteile. Diese Verrechtlichung – auch der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) – sorgt dafür, dass die Sozialdienste kaum mehr individuelle Lösungen treffen können.

faktuell.ch: Frau Lanker, ginge es nach Ihnen, würde es für Sozialhilfe-Bezüger ein Auto-Verbot geben – begründete Ausnahmen ausgenommen. Stehen Sie noch zu dieser Aussage?

 

Annemarie Lanker: Ja, sicher. Ich fände ein Verbot absolut richtig. Tatsächlich haben immer mehr Leute in der Sozialhilfe Autos. Vor allem Männern aus gewissen Macho-Kulturen ist das Auto wahnsinnig wichtig. Ein Auto kostet aber 400 bis 500 Franken im Monat. Entweder geht dieses Geld auf Kosten der gesunden Ernährung oder auf Kosten der Kinder. Und wenn es auf Kosten von nichts geht, ist die Sozialhilfe zu hoch oder es wird Schwarzarbeit geleistet.

faktuell.ch: Man kann auch einwenden, ein Auto gehöre zum heutigen Lebensstandard wie ein Steamer in die Militärküche, wenn ein Dorf Militär bei sich einquartieren will.

Annemarie Lanker: Ich halte die Autoverbotsdebatte im Zürcher Kantonsrat für symptomatisch für den Zustand unserer Zivilgesellschaft. Überall wird nach dem Schoppen von Mutter Helvetia gerufen. Mein Vater hatte ein kleineres Baugeschäft. Ihm wäre im Traum nicht eingefallen, seine Arbeiter über den kalten Winter bei der Arbeitslosenversicherung ab- und sie im Frühling wieder anzustellen – eine Praxis wie sie offenbar im Wallis gang und gäbe ist. In unserem Dorf hätte mein Vater sich dies auch gar nicht erlauben können. Er wäre geächtet worden.

faktuell.ch: Im Zuge der sogenannten Bologna-Reform ist auch bei uns der Beruf der Sozialarbeiter akademisiert worden. Was hat es in der Praxis gebracht?

Annemarie Lanker: Ich habe den Eindruck, dass die Akademisierung vom handfesten, praktisch ausgerichteten Handeln wegführte. Alle betreiben Case Management, Coaching etc. statt die „Knochenbüez“ zu machen, auf die es ankommt: eine kontinuierliche und enge Betreuung vor allem der jugendlichen Sozialhilfebezüger, damit sie nicht bis ins Pensionsalter in der Sozialhilfe hängen bleiben. Entstanden ist im Sozialdienst, etwas überspitzt formuliert, eine professionell organisierte Unzuständigkeit, die durch die fatal hohe Personalfluktuation im Sozialbetrieb – bis 25 %! – noch verstärkt wird. Viele junge Sozialarbeiter sind in diesem Beruf, in dem auch mentale Stärke und eine gewisse Berufs- und Lebenserfahrung vorausgesetzt werden, überfordert. Wie soll eine 24jährige Sozialarbeiterin einer Muslimin und einem Muslim, die bereits mehrere Kinder haben, erklären können, dass Empfängnisverhütung angezeigt wäre, dass beide Eltern finanzielle Verantwortung für die Familie tragen müssen und auch die Frau ausser Haus arbeiten muss? Das braucht neben theoretischem Wissen eben auch eine rechte Portion Lebenserfahrung!

faktuell.ch: Ansprüche sind das eine, Gegenleistung das andere. Warum brauchen Jugendliche ein Anreiz-System, damit sie bewegt werden können, einen Beruf zu erlernen?

Annemarie Lanker: Im Grund genommen ist es fatal, dass es für selbstverständliches Verhalten Anreize braucht. Wenn schon, dann sollten aber genügend wirksame Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Diese fehlen eindeutig.

faktuell.ch: Renitenten Sozialleistungsbezügern, wie zum Beispiel einem jungen Mann, der die Lehre ein-, zwei- oder gar dreimal abbricht, weil ihm etwas nicht passt, droht für sein Verhalten als Maximalsanktion eine Kürzung der Sozialleistungen um 15 %. Warum wird in solchen Fällen nicht einfach akzeptiert, dass einer als ungelernter Arbeiter sein Leben bestreitet wie es viele andere auch tun und die Sozialhilfe gestrichen? Werden die jungen Sozialhilfebezüger allzu sehr verwöhnt und mit Samthandschuhen angefasst?

Annemarie Lanker: Zum Teil werden sie sicher zu wenig gefordert und zu grosszügig unterstützt. Ich habe aber den Eindruck, dass gerade die Jungen, welche zuhause oft wenig Unterstützung und Förderung erfahren, mehr verbindliche, kontinuierliche Betreuung und Begleitung bräuchten. Sie werden im riesigen Angebot von Integrationsmassnahmen herum geschoben, niemand fühlt sich richtig zuständig. Entsprechend unverbindlich bewegen sie sich in dieser „Sozialindustrie“.

faktuell.ch: In der Öffentlichkeit kommt vor allem schlecht an, wenn Menschen, die ihr Leben aus eigener Kraft stemmen, im Vergleich schlechter gestellt sind als Sozialhilfe-Bezüger. Ein System-Fehler?

Annemarie Lanker: Ich verstehe die Kritik und die Frustration derer, die sich anstrengen und mit einem vergleichbaren Lohn zurechtkommen. Die Skos hätte sich schon lange überlegen müssen, welche Wirkung sie in der übrigen Gesellschaft auslöst, kritisiert wird sie ja schon lange. Die Skos argumentiert aber immer nur mit dem Grundbedarf. Das ist der Betrag für die täglichen Auslagen – wie zum Beispiel 6 Franken 70 pro Person und Tag für Essen und Trinken. Hingegen rechnet sie nach aussen nie auf, wie hoch jeweils das ganze Budget ist, wenn man alles dazurechnet: Miete, Nebenkosten, Gesundheitskosten, Prämienverbilligung, Steuerbefreiung und Wohnungseinrichtung.

faktuell.ch: Jetzt soll die Sozialhilfe in der Schweiz mit einer Handvoll Reformvorschlägen – es geht um monatlich 100 bis 200 Franken plus oder minus für die einzelnen Klienten-Segmente und etwas härtere Sanktionen – aus der teils massiven Kritik herausgeführt werden. Reicht das?

Annemarie Lanker: Ich denke nicht, dass die Kritik verstummt. Die Skos müsste entschiedenere Reformen anstreben. Immer mehr Menschen bleiben immer länger in der Sozialhilfe. Es ist längst kein Instrument für kurzfristige Notlagen mehr. Die Sozialhilfe entwickelt sich zur Sozialrente. Dies wird sich sicher noch verstärken angesichts der vielen oft schlecht qualifizierten Flüchtlinge, welche in zunehmend grösserer Anzahl die Sozialhilfe beanspruchen.

faktuell.ch: Steigende Fallzahlen aus den unterschiedlichsten Segmenten: Flüchtlinge aus fremden Kulturen, vormalige IV-Bezüger, die an die Sozialhilfe weitergereicht werden…

Annemarie Lanker: … unglaublich, was da abläuft! Die IV klärt ab, die Arbeitslosenversicherung klärt ab und versucht, die Arbeitslosen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Viele der Sozialhilfe-Klienten sind bereits seit zwei, drei Jahren arbeitslos, wenn sie in der Sozialhilfe landen und haben umfassende Abklärungen und auch Integrationsprogramme hinter sich. Die Sozialhilfe beginnt von neuem, klärt ab und steckt die Menschen erneut in Integrationsprogramme mit immer weniger Chancen auf Erfolg. Wir leisten uns eine unglaublich teure Bürokratie! Sollte man die verschiedenen Institutionen mit dem gleichen Auftrag nicht vereinfachen und zusammenlegen?

faktuell.ch: … dann ausgesteuerte Arbeitssuchende, Jugendliche ohne Schul- und Lehrabschluss, alleinerziehende Mütter – stossen die Sozialdienste mit dieser Last nicht an Grenzen? Und vermögen sie zu gewährleisten, dass mit den Geldern der öffentlichen Hand, mithin den Steuergeldern, sorgfältig umgegangen wird?

Annemarie Lanker: Ja, die Sozialhilfe stösst tatsächlich an Grenzen. Die Klientel hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr verändert. Denken sie nur an die Menschen aus den unglaublich verschiedenen Kulturen. Ich habe in den letzten Jahren einige hundert Klienten-Dossiers überprüft und mich dabei oft gefragt: Wissen die Betroffenen überhaupt wie unser System funktioniert und was von ihnen erwartet wird? Da zeigen sich grosse sprachliche und kulturelle Schranken.

faktuell.ch: Die Städte gelten als soziale Frühwarnsysteme. Gibt es zwischen Stadt und Land noch Unterschiede, was den Gang zum Sozialamt anbelangt?

Annemarie Lanker: Wahrscheinlich ist es schon noch so, dass der eine oder andere im Dorf keine Sozialdienstleistungen beansprucht, weil er oder seine Familie sich genieren. Aber immer weniger. Die Anspruch-Mentalität schlägt auch auf dem Land durch. Und die Schamgrenze fällt – wie die Hausbesitzer belegen, die ihren Kindern das Haus möglichst früh verschreiben, damit sie Ergänzungsleistungen bekommen können. Die Stimmung ist heute einfach anders.

faktuell.ch: Rund um die sogenannten Integrationsprogramme bemühen sich private Sozialfirmen um lukrative Aufträge von den Sozialdiensten, Juristen nutzen die unentgeltliche Prozessführung, um klagenden Sozialhilfeempfängern beizustehen, Therapeuten, Ärzte, Gutachter etc. bedienen sich ebenfalls kräftig aus den Honigtöpfen unseres sozialen Systems. Was ist in dieser „Sozialindustrie“ Fluch, was Segen?

Annemarie Lanker: Es ist beides, Segen und Fluch. Segen, weil es Auswahlmöglichkeiten gibt, weil sicher einige den Schritt in die Arbeitswelt schaffen. Fluch, weil viele Arbeitslose zu lange in solchen Programmen verharren und sogar verschoben werden – die Plätze müssen ja besetzt sein… Auch damit wird Geld verdient! Ich habe zudem den Eindruck, dass diese Programme zu weit weg von der Realität des ersten Arbeitsmarktes funktionieren. Ich wünschte mir mehr Plätze in der Wirtschaft, eine engere Zusammenarbeit mit der realen Arbeitswelt. Nun, mit weniger Einwanderern wird dies vielleicht möglich sein…

faktuell.ch: Letzte Frage. Wo sehen Sie im Vergleich zum heutigen Sozialbetrieb erfolgversprechende alternative Lösungen?

Annemarie Lanker: Wahrscheinlich müsste man etwas ehrlicher die verschiedenen Akteure im sozialen Bereich unter die Lupe nehmen und kontrollieren, welche Wirkung sie tatsächlich erzeugen; schauen, wie viele Menschen tatsächlich selbständig und unabhängig von staatlichen Leistungen wurden – das ist ja eigentlich der Auftrag der Sozialhilfe, nicht wahr!

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr


(Das faktuell.ch-Gespräch mit Annemarie Lanker hat im Februar 2015 stattgefunden.)


Annemarie Lanker,
dipl. Sozialarbeiterin und Dozentin, bis 2009 Leiterin der sozialen Dienste der Stadt Bern, löste 2007 noch als SP-Mitglied mit einem ungewohnt offenen Interview im Berner „Bund“ über Misswirtschaft und Sozialmissbrauch bei der Fürsorge der Stadt Bern im eigenen politischen Lager einen Sturm der Entrüstung aus. Heute ist sie als parteilose Beraterin und Mediatorin im Bereich Sozialhilfe tätig. Unlängst hat sie zusammen mit Beat Büschi, ehemaliger Finanzinspektor der Stadt Bern, die prekären Verhältnisse bei der Bieler Sozialfürsorge untersucht, der Schweizer Stadt mit der höchsten Sozialhilfequote.


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Ludwig Hasler: "Machen wir den Staat zur Amme, werden wir zu Kindern."

faktuell.ch im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Dr. Ludwig Hasler

Ludwig Hasler

 

faktuell.ch:  Die Schweiz ist ein sozialer Wohlfahrtstaat. Wir leben in relativer finanzieller Sicherheit. Sind wir zu satt, Herr Hasler?

 

Ludwig Hasler: Es ist nur logisch, dass man sich an die Komfortzone gewöhnt, wenn es einem so fabelhaft geht. Das ist eine Form von Sattheit. Wir sind nicht mehr hungrig. Satten Menschen kann man nicht beibringen wie sexy Hunger ist. Das Problem der Sattheit ist die Dimensionslosigkeit. Wir wollen unser gutes Leben behalten. Wir wollen keine Veränderung. Das heisst im Klartext: Wir wollen keine Zukunft, sondern eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Veränderung bringt immer Ärger. Diese Haltung kann man niemandem vorwerfen, sie ist nur nicht besonders schlau. Die Gegenwart behalten, heisst, den Status quo konservieren. Aber jeder Status quo ist das interimistische Ergebnis einer Entwicklung. Wie alles Irdische wird er einmal kränkeln, serbeln, verfaulen. Und wer sich in den Status quo verkrallt, hängt ab. Bei der Evolution geht es immer darum, wer besser wird – wir oder andere. Das Problem ist, dass wir zu satt sind, um Neugier und Willen aufzubringen, uns zu verbessern. Wenn es uns jetzt schon so „saugut“ geht…

 

faktuell.ch:  und trotzdem boomt die Sozialindustrie. Allein im Kanton Zürich gibt es 3300 Angebote unter dem Titel „Soziale Hilfe von A-Z“. Macht uns der Wohlfahrtsstaat zu Hilfsbedürftigen – uns, die wir so stolz auf Freiheit und Selbstverwirklichung sind?

 

Ludwig Hasler: Im Nationalen Gesundheitsbericht 2015 lese ich, dass 2,2 der 8 Millionen Menschen in der Schweiz chronisch krank sind. Ich dachte: Das darf nicht wahr sein! Es gibt das sogenannte Gesundheitsparadox, das besagt: Je gesünder eine Bevölkerung ist, desto kränker fühlt sie sich. Sie hat massenhaft Zeit, sich zu sorgen – vor allem um sich selber. Da werden plötzlich die kleinen Übel – um die grossen kümmert sich die Medizin – so ernsthaft, dass schon ein Juckreiz zu einer Existenzkrise führt. Diese Verweichlichung kennt man auch im Tierreich. Nehmen wir den Grizzlybären. Von einem Grizzly überfallen zu werden, war das Schlimmste, was in der amerikanischen Pionierzeit passieren konnte. Der Grizzly war blutrünstig, machte Menschen und Pferde kaputt und hinterliess ein Schlachtfeld, wenn er wieder abzog. Also hat man die Grizzlybären gejagt, bis es fast keine mehr hatte. Dann wurden sie geschützt. Erfolgreich. Sie haben sich vermehrt und dürfen nicht mehr gejagt werden. Was ist heute mit dem Grizzly los? Er ist sozusagen ein adipöser Warmduscher geworden, der in den Getreidefeldern rumliegt, den Bauern das Korn wegfrisst und alt und krank und feiss ist.

 

faktuell.ch:  Wir sind Ihrer Logik zufolge in der Schweiz fette Grizzlies und könnten durch Migranten aus unserer Lethargie aufgescheucht werden?

 

Ludwig Hasler: Jaaa… man kann diese Logik nachzeichnen. Je geschützter und sicherer ein Leben ist, desto mehr verliert es an Kraft. Hugenotten im 16. Jahrhundert brachten uns Uhren, davon leben wir heute noch. Im 19. Jahrhundert kamen die Deutschen, im 20. die Italiener. Die Italiener mochten wir eigentlich nicht, aber was passierte da: sie italianisierten wunderbarerweise die Alltagskultur der Schweiz. Zürich in den 1960er Jahren konnte man sich nicht ansehen. Heute ist die Stadt mediterran. Ein gutes Beispiel sind auch die Balkan-Immigranten. Das Bundesamt für Berufsbildung vergleicht in einer Studie den Werdegang von Schweizern und Balkan-Immigranten. Wo stehen sie zehn Jahre nach der Ausbildung, mit etwa 30? Ergebnis: Signifikant mehr Balkan-Immigranten haben bessere Jobs und mehr Lohn. Das heisst, wir leben bereits von denen. Wohlverstanden, das ist natürlich die Gruppe, die „eingehängt“ hat. Es gibt auch andere. Aber wir müssen alles dafür tun, dass die möglichst hoch einhängen können. Dann haben sie eine Kraft und einen Biss – Hunger. Die wollen etwas erreichen. Sie sind auch tolle Machos und wollen den Frauen imponieren. Uns tut diese Auffrischung enorm gut.

 

faktuell.ch:  Wie sieht es in unserer Gesellschaft mit eigenständigem Denken aus? Nach hundert Jahre gemütlichem Paffen ist Tabak fast von einem Tag auf den andern auf staatliche Verordnung hin des Teufels – überall in der westlichen Welt. Warum gab es da keinen Aufstand? 

 

Ludwig Hasler: Ich glaube, es gibt zwei Faktoren, die zusammentreffen müssen, damit eine staatliche Bevormundung überhaupt funktionieren kann. In der Gesellschaft muss schon der Humus bereitet werden. Das ist bereits in der Familie der Fall. Man räumt den Kindern jeden Widerstand aus. Paradebeispiel für mich: Immer mehr Eltern karren ihre Kinder in die Schule. Mit dem Auto. Aus purer Liebe. Auf dem Weg könnte die Wirklichkeit lauern. Davor muss man die Kinder bekanntlich behüten. Da beginnt es: Jeder Widerstand wird weggenommen. Ungeschickt ist nur, dass der Mensch am Widerstand wächst. Nicht nur der Mensch, das Leben überhaupt braucht Widerstand. Um  Immanuel Kant zu zitieren: „ Eine Taube in ihrem Fluge kommt leicht auf den Gedanken, ohne Luftwiderstand flöge sie noch viel leichter.“ Dann wäre sie aber mausetot. Und so wie die Taube denkt, so denken immer mehr von uns. Weg mit Widerstand. Unser Dilemma: Erziehen wir die Kinder, indem wir sie vor der Wirklichkeit schonen oder indem wir sie stärken für die Wirklichkeit. Das ist ein grosser Unterschied. Stärken für die Wirklichkeit heisst, ihnen zumuten, dass sie ganz früh lernen, Widerstände, Hindernisse selbständig zu überwinden. Dann kommen sie in die Schule, in der nicht mehr die grosse Leistungskultur gepflegt wird. Ein Bub, der etwas leisten und lernen will, ist nicht beliebt. Auch der Kräftige ist es nicht. Aber Schlägereien müssen innerhalb einer Biografie auch mal ausprobiert werden, damit man sie loswerden kann. Man kann nicht erst mit 45 damit anfangen.

 

faktuell.ch:  Fehlt uns die Ventilfunktion?

 

Ludwig Hasler: Ja. Kletterstangen beispielsweise sind jetzt nach EU-Norm verboten. Wir hockten doch alle da oben und nicht einer fiel runter. Und sollte in 20 Jahren einer runter gefallen sein, dann hatten aber alle andern davon profitiert. Evolution, vorwärts machen, sich körperlich kräftigen und selbständig werden: Das ist die Voraussetzung dafür, einen gesellschaftlichen Status zu erreichen, in dem man sich von einem Staat nicht alles bieten lässt. Wenn man dies nicht tut, dankt man insgeheim dem Vater Staat oder der Amme Staat.  Das ist der grosse Wechsel. Dass der Staat im Kern für die Sicherheit der Bürger zuständig ist. Nicht nur für die Sicherheit der Bürger gegenüber Angriffen von andern, sondern auch von Angriffen eigener Lustbarkeiten. Jetzt verschont der Staat mich sozusagen vor mir selber. Zum Beispiel vor nächtlichen Konsum-Orgien an Tankstellen.

 

faktuell.ch:  Es geht ja noch weiter. Sozialkontrolle durch Whistleblower. Wie sehen Sie die  Gefahr des Denunziantentums, mit dem sich ja auch Missliebige aus dem Weg räumen lassen?

 

Ludwig Hasler: Der Mensch ist nicht der einfachste Fall der Schöpfung. Er ist ein zwiespältiges Wesen. Um noch einmal den an sich optimistischen Aufklärer Kant zu zitieren: „ Der Mensch ist von Natur aus faul und feige.“ Feige! Das heisst, er ist ein Mitläufer, eine Windfahne. Es ist schändlich, wie unselbständig der Mensch ist. Er erklärt sogar einen extra versauten Wein für den grössten und besten, wenn ein so genannter Experte dies behauptet. Das gehört zum Menschsein.

 

faktuell.ch:  Also leben wir nur unsere Bestimmung?

 

Ludwig Hasler: Ja gut, aber was ist unsere Bestimmung? Wenn ich schon anthropologisch werde: Das Spezifische am Menschen ist seine Zweideutigkeit. Ich habe den Eindruck, dass man den Menschen heute eindeutig machen, zusammenzimmern möchte. Kant sagt: „Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt.“ Jetzt will man ihn unbedingt begradigen. Mit miserablem Erfolg. Weil wir zwiespältig sind. Alles andere, der Esel, die Ente, der Engel, alles um uns herum, unter und über uns ist eindeutig. Der Esel ist eindeutig, der Engel ist eindeutig. Sie haben auch keine Probleme in ihrer Eindeutigkeit. Der Mensch ist halb Esel, halb Engel, irgendwo dazwischen. Der leibhaftige Zwischenfall zwischen dem Geistigen von oben und dem Animalischen von unten. Der Mensch oszilliert permanent zwischen dem Geistigen und Animalischen. Die sind nicht befreundet. Beide wollen ihren Part und versuchen, den andern zu verdrängen. Darum ist es wichtig, wie man sich verständigt…

 

faktuell.ch: …mit sich selbst?...

 

Ludwig Hasler:…aber auch mit unserer Zwiespältigkeit insgesamt. Das ist es, was das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht kapiert. Die wollen den Menschen eindeutig, gut und proper. Ein properer Mensch ist ein Schwachsinn. Das sieht man im Nationalen Gesundheitsbericht 2015: Es wird weniger getrunken und geraucht. Konsequenz: Viel mehr Depressionen. Früher sagte man: “Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Jetzt kommt das BAG und sagt, Herr Hasler, sie sollten zweimal pro Woche gar keinen Wein trinken. Ja und wenn ich erst ab dem dritten Glas der Gesellschaft zumutbar bin? Will man mich unzumutbar oder als anregenden, geselligen Geist? Was will man? Will man, dass ich gesund hundert werde und dann dement bin? Was will man eigentlich von mir? Ich komme jetzt auf das Thema, das mir am meisten am Herzen liegt: Wir haben ein kreuzfalsches oder gar kein Menschenbild. Wir machen aus dem Menschen einen biochemischen Apparat. Das ist so lächerlich! Wenn wir das tun, gibt es auch keine Resilienz, keine seelische Widerstandskraft, mehr. Im Unterschied zu früher. Mein Vater, meine Mutter krampften ein Leben lang. Arbeiterfamilie, arm, bildungsfern würde man heute sagen. Meine Eltern waren immer vergnügt. Wissen Sie weshalb? Also erstens, weil sie so tolle Kinder hatten (lacht), und zweitens, weil sie religiös waren. Sie hatten einen Glauben. Sie hatten – da reden wir von einem Belohnungssystem – eine höhere Koordinate. Jedes Versagen, alle Enttäuschungen und Krankheiten konnten sie einordnen. Wo können wir das heute noch? Deshalb klappen wir beim geringsten Versagen, bei der kleinsten Entsagung zusammen. Und dann fordern wir den Staat. Und der Staat sagt nie nein. 

 

faktuell.ch: Haben wir heute keine allgemein gültigen Parameter mehr – keine  gesellschaftliche Norm, Moral?

 

Ludwig Hasler: Ich unterscheide zwischen Sitte und Moral. Moral ist subjektiv. Sitte gehört zum Anstand,  dass man mir nicht auf die Füsse spuckt. Man spricht heute viel von Respekt, meint aber nur Correctness. Es geht ja eher um Distanz. Aber, ob man das via Gesellschaftsvertrag machen kann, ist eine offene Frage. Das ist erstmalig in der Geschichte der Menschheit. Tausende von Jahren haben sich alle Kulturen mit Blick auf eine höhere, eine übergeordnete Geschichte definiert, auf eine göttliche, eine kosmische Dimension. Das hat besser funktioniert. Die Alten gehörten fast zum Totenreich. Man achtete sie nicht, weil sie alt waren, sondern weil sie schon fast zu den Ahnen gehörten. Und vor denen hatte man sich gefälligst in acht zu nehmen. Das versuchen wir heute mit Kampagnen fürs sogenannte würdige Sterben zu bewältigen. Aber am besten bringen sich alle selber und rechtzeitig um. Das ist extrem praktisch, spart uns Kosten, Pflegepersonal und die Versicherungen sind dann auch wieder im Lot. Das war früher alles viel einfacher. Man hat alles unter einer Ewigkeitsperspektive betrachtet. Wenn die wegfällt, sind wir einfach unter uns. Das kann man auch als Befreiung betrachten. Aber gleichzeitig ist es ein neuer Zustand, an den wir uns noch nicht gewöhnt sind. Wir sind gewissermassen kosmisch vereinsamt und deshalb gucken wir mit umso mehr Anstrengung auf den Mars: Ist da noch jemand oder sind wir ganz allein und verwaist? Deshalb müssten wir gesellschaftliche Verkehrsregeln zwischen Individuen, zwischen kulturellen Gruppen machen. Das wäre eine grosse Herausforderung. Ob das geht? Es hat noch nie eine Gesellschaft überlebt, die keine Tiefen- oder Höhenkultur hat. Für die wichtigen Ereignisse im Leben wie Geburt, Initiation, Heirat, Tod haben wir keine Rituale. Und wenn man zu den andern Angeboten greift, in die Kirche geht, dann ist es nur noch peinlich, weil niemand die Lieder singen kann. Und was ist eine Kirche ohne Lieder? Und das Personal dort ist auch nicht gerade bewundernswert. Daraus gibt es natürlich ein neues Business: die Branche für Rituale.

 

faktuell.ch: Was sollten wir tun, um unsere kulturelle Lücke selber zu füllen statt die Leistung einzukaufen?

 

Ludwig Hasler: Wir können den Zeitgeist nicht umdrehen. Es gibt keine Gegeninstanz.  Aber wir müssen anders reden über uns. Da lese ich in der Zeitung über einen Forschungsbericht. These: Zwei Drittel all derer, die aus den Ferien nach Hause kommen, leiden unter dem „Post Holiday Syndrom“. Ich muss sagen, eine Gesellschaft, die sich ernsthaft mit solchem Mist beschäftigt, ist krank. Es gibt auch den Job-Stress-Index. Die Uni Bern, hochkarätige Forschungsinstitute, lassen rationalen Unsinn raus wie: 40 Prozent der Arbeitnehmer in der Schweiz sind erschöpft. Sie schreiben „sind“ erschöpft. Und nicht, sie „fühlen sich“ erschöpft. Selbstdeklaration durch ankreuzen auf dem Fragebogen. Das ist der neue Sport. Da sagt natürlich keiner, er sei nie erschöpft. Das ist haarsträubend! Dazu kommt von Forscherseite eine Spitzenleistung der Differenzierung: Ein Drittel der Befragten sind „sehr erschöpft“, ein Drittel „ziemlich erschöpft“. Einen Typen, der ziemlich erschöpft ist, müsste man mir mal vorführen. Und wir nehmen das ernst. Diese Forschung fragt aber nie, woher all diese Befindlichkeiten kommen. Die sind ja nicht einfach da, nicht einfach naturwüchsig. Das sind Ergebnisse von Erwartungen. Die Welt und das Leben bestehen zum grossen Teil aus Erwartung.

Mein Vater war Schreiner. Er hatte drei Finger praktisch weg. Das war für ihn normal. Heute würde so einer nicht ans Weiterarbeiten denken. Dafür gibt es die IV. Er wäre schön blöd, wenn er fehlende Finger für normal halten würde. Was ist also normal? Derartige  Fragen sind alle implizit beantwortet. Jetzt müsste man sie endlich explizieren. Was ist eigentlich die Welt? Ist die Welt ein Spazierweg? Friedrich Dürrenmatt sagte dazu: „Die Welt ist eine Fabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.“ Wenn man mit dieser Haltung durch die Welt geht, ist man viel kräftiger. Und wenn etwas in die Luft geht, dann hat man es erwartet. Also kann man dabei ganz vergnügt bleiben. Besonders, weil so selten etwas explodiert. Aber heute haben wir Erwartungen auf Unverwundbarkeit. Ja, wie kommen wir denn auf so etwas Wahnsinniges? Wenn irgendwo etwas schief geht, motzen wir: Und der Bundesrat? Schläft der?

 

faktuell.ch: Man gibt dem Staat also den Freipass, zu intervenieren?…

 

Ludwig Hasler: … und der Staat wird so mächtig, weil man alles von ihm erwartet. Er soll alles ausbügeln. Wir ertragen nicht einmal mehr Ungereimtheiten. Wir ertragen es nicht mehr, dass einer zwölfmal so viel verdient wie ein anderer. Dem Bankchef im Kanton Aargau, der so gut wirtschaftete, dass er den Kanton mit Geld überhäufen konnte, hat man den Lohn halbiert. Darum müssen wir anders darüber reden. Wir müssen von einem zwiespältigen Menschenbild ausgehen. Ungereimtheiten sind das Elixier zum Weiterkommen. Wenn man unser Gemeinwesen mal organisiert hat wie einen Ameisenstaat, dann funktioniert zwar alles wunderbar, alle machen ihren Job und es gibt keine Fehler und keine unnötigen Sitzungen mehr. Niemand bezieht Sitzungsgelder, die er nicht verdienen würde. Um solchen Krimskrams kümmern wir uns. Ich finde das peinlich! Wir sollten besser nach Vorne schauen und uns fragen, wie wir vorwärts kommen. Ich fand den Bankenskandal auch nicht lustig und einzelne Banker eher unappetitlich, aber deshalb das Ende der Gier verkünden, das ist doch ein Schwachsinn! Gier ist menschlich.

 

faktuell.ch: Wir sind doch so stolz darauf, einen klaren Standpunkt zu haben. Halten Sie es denn für besser, wenn wir unsere Zwiespältigkeit ausleben und unsere Meinung oder gar Grundeinstellung beliebig ändern?

 

Ludwig Hasler: Absolute Positionen sind unter irdischen Bedingungen immer falsch. Man müsste sich der Anrüchigkeit bewusst sein, die absolute Positionen haben.  Unter irdischen Bedingungen ist alles durchzogen. Beispiel Klimawandel. Ich weiss nicht, wer bei dem Streit Recht hat. Ich sage nur, wenn wir erst handeln, wenn wir definitiv Bescheid wissen, sind wir zu spät. Das heisst, wir müssen viel mehr eventual handeln. Die Wissenschaft hat keine Wahrheiten. Sie hat Hypothesen, die sie überprüft.

 

faktuell.ch: Sie werten damit den Prognostiker auf, obwohl Prognosen – seien es ökonomische oder ökologische – häufig falsch sind?

 

Ludwig Hasler: Ich plädiere für die Freude an Varietät. Prognosen engen häufig ein, machen Angst, wollen gängeln. Dass jedes Partikularinteresse auf die Bühne will und die andern ausspielen, ist klar. Es ist nur nicht besonders schlau. Wir müssten interessiert sein an Gegnern. Ich pflege rein privat sogar meine Feinde. Es gibt niemanden, der mich so aufmerksam beobachtet, wie ein Feind. Der hat mich immer im Auge und lässt sich nichts vormachen. Ich plädiere nicht für eine durchgehende Kultur von Feindschaften. Aber Gegnerschaften. Wir machen Gegnerschaften heute dauernd kaputt. Warum eigentlich? Das ist ein Zeichen von insgeheimer Verunsicherung. Wenn ich mit meiner Weltsicht einigermassen sattelfest bin, dann will ich sie an anderen Weltsichten reiben. Reiben, nicht ausmerzen, nicht vom Tisch haben. Das kann ich natürlich nur, wenn der andere das ähnlich sieht. Sonst bin ich dann auch nicht mehr so friedlich.

In der Aufklärung hiess das Konzept: Man kann die Gesellschaft nicht mehr strikt von oben dirigieren, in ihrer bürgerlichen Phase prosperiert sie nur als sogenannt offener Prozess. Wenn also kein Einzelner und keine Klasse weiss, was für alle richtig und gut und schön ist. Wer entscheidet dann, wohin die Entwicklung gehen soll? Alle. Klar. Bloss wie? Geht nur über die Institution der öffentlichen Diskussion. Doch nach welcher Logik soll die funktionieren? Der Philosoph Hegel sah es so: Öffentlichkeit funktioniert wie eine grosse Versammlung, auf der „eine Gescheitheit die andere auffrisst“. Alle Gescheitheiten, sprich Meinungen, treten auf, präsentieren sich im besten Licht, treten aber danach nicht genau so ab, wie sie angekommen waren, sondern jetzt wird gestritten und gefressen, und dieses wechselweise Fressen der Meinungen spekuliert auf Verdauung: dass alles, was an den einzelnen Gescheitheiten nur perspektivisch und interessegebunden ist, ausgeschieden werde und zurückbleibe, worauf alle Gescheitheiten sich einigen können. Kant hatte ein ähnliches Modell: Meinungen müssen sich stärken und sich dann aneinander reiben. So lange bis das, was an der Meinung nur „mein“ ist, abgerieben ist. Dann bleibt das Verallgemeinerungsfähige. Ist doch eine tolle Theorie! Ich habe nie verstanden, weshalb der Begriff „Meinung“ eine so hohe Achtung geniesst. Es ist ein Possessivpronomen, es ist „mein“. Und etwas, das mein ist, kann ich doch nicht mit der Wahrheit verwechseln. Das ist nicht möglich. Das Reiben der Meinungen gefällt mir. Das heisst auch, dass man für möglichst viele Meinungen die Möglichkeit organisieren muss, sich aneinander zu reiben.

 

faktuell.ch: Ist das als Ermunterung für Politiker zu verstehen, sich über die Parteigrenzen hinweg aneinander zu reiben mit ihren Meinungen?

 

Ludwig Hasler: Die meisten fühlen sich schon haarsträubend gestresst, ehe sie überhaupt zur Politik kommen. Dann erträgt es auch keine Flüchtlinge mehr. Das ist einfach zu viel. Mal Ruhe mit Afrika.

 

faktuell.ch: Also sind wir satt und zugleich gestresst. Der Grizzly liegt im Kornfeld und das stresst ihn auch?

 

Ludwig Hasler: Es gibt eine interessante Theorie. Die stammt von meinem Namensvetter Gregor Hasler, Psychiater, Chefarzt, Professor in Bern. Er befasst sich mit Resilienz, unserer seelischen Widerstandskraft. Er kennt ungefähr alle Studien zu Stress und so, die man ernst nehmen sollte, und er kommt zu folgendem Schluss: Das Stressgefühl nimmt seit Jahren krass zu. Bloss warum? Steigen auch die Lasten, die Verpflichtungen, die Strapazen, die Risiken? Nein, ganz im Gegenteil. Nicht das Lastensystem verändert sich, sondern das Belohnungssystem, das wir meist unberücksichtigt lassen, weil wir stur ökonomisch denken. Das Belohnungssystem funktioniert nur kulturell. Oder religiös oder ideologisch. Jedenfalls über eine Idee. Früher fand die Einordnung von Leistung und Belohnung über die Religion statt. Heute haben wir Stress: Ich kriege mein Geld, dann ein schönes Haus und irgendwann habe ich alles und es geht nicht weiter. Dann bin ich frustriert, habe ein Burnout oder bin wenigstens depressiv verstimmt. Ich kenne ukrainische Musiker, die haben nichts von alledem. Musikalische Wunderleute, verdienen zu Hause praktisch nichts, sind im Sommer hier. Die erschüttert nichts. Die haben nicht einmal Stress.

 

faktuell.ch: Kein Streben nach materiellen Gütern?

 

Ludwig Hasler: Nein, die haben einen völlig andern Bezug zum Leben. Einen intimen sozusagen. Die gehen nicht als erstes in die Beiz zum Bier. Sondern zum Fluss, zum Wasser. Da müssen sie ankommen, da sind sie geerdet. Gleichzeitig haben sie den Kontakt nach oben, zum Göttlichen. Darum fehlt es ihnen an nichts – obwohl es ihnen (nach unseren Massstäben) an allem fehlt. Ich vermute: Uns fehlt genau diese Intimität mit dem Leben. Es ist die Bagatellisierung des Lebens, die uns daran hindert, den äusseren Wohlstand in ein glückliches Leben umzumünzen. Oder auch nur in ein gesundes. Ein besseres Gesundheitswesen als in der Schweiz gibt es ja gar nicht. Der therapeutischen Medizin, bei der man alles im Griff hat, folgt jetzt die Optimierungsmedizin. Das hört natürlich nie mehr auf. Sie können nicht sagen, die Krankenkasse muss ein neues Trommelfell bezahlen, für Viagra aber müsse der Mann selber aufkommen. Was ist wichtiger? Wer entscheidet das? Ein Bundesamt? Mit welcher Befugnis?

 

faktuell.ch: Die schweizerische Sozialpolitik basiert auf Solidarität. Nehmen wir die Krankenkassenprämien. Junge, gesunde Menschen wählen eine hohe Franchise, um zu sparen. Kaum setzt sich dies durch, greift der Staat korrigierend ein und will die Franchise herabsetzen. Die Solidarität wird also nicht gelebt.  

 

Ludwig Hasler: Das sehe ich auch so. Solidarität ist geschichtlich eine Tugend, die man horizontal anwendet. Die Reichen unter sich, die Armen unter sich. Kein Mensch kann solidarisch mit allem sein, mit dem Tintenfisch in Ozeanien und den armen Fischern. Das beisst sich. Solidarisch kann man unter sich sein, die Belegschaft eines Unternehmens mit den Streikführern, die vom Boss entlassen wurden. Heute wird Solidarität heuchlerischer. Real ist eher die Konkurrenz aller Bittsteller beim Staat. Machen wir den Staat zur Amme, werden wir zu Kindern. Sogar die Alten. Man behandelt sie wie vor hundert Jahren. In einem Vortrag an einem Alterskongress in Aarau sagte ich kürzlich, dass es hirnrissig ist, was man alles macht für die Alten. Die sind heute derart fit, die sollen für sich selber sorgen. Und zwar untereinander. Das Problem ist heute nicht, dass die Alten nicht mehr abserbeln. Das Problem ist, dass es zwei Fraktionen gibt bei den Alten. Einerseits gibt es permanent neue Vitalitätsrekorde. Ich bin doch umzingelt von 70jährigen, die dauernd „umeseckle“. Die geben keine Ruhe. Gleichzeitig gibt es die andern, die man gar nicht mehr sieht. Sie gehen nicht mehr aus dem Haus, sind dick und krank und hocken nur noch vor dem Fernseher. Zum Teil haben sie auch kein Geld mehr. Und die Werbung vor den Sendungen bietet ihnen nur noch Abführmittel und dergleichen. Dann gibt es den himmeltraurigen Reigen von verdämmernden Demenzkranken. Das sind nicht die Avatare, die man immer in den Apothekerheftli sieht, die ewig leben und kein Mensch weiss warum…

 

faktuell.ch: …schön geliftet und mit blau schimmernden Haaren?

 

Ludwig Hasler: Diese Generation – ich rechne mich mit 70 auch dazu – soll mal die Jungen in Ruhe lassen. Mal aufhören, die Jungen auszuplündern. Das könnte man heute tun. Es ist mehr als genug Geld da. Es ist mehr als genug Kompetenz und Vitalität da.

 

faktuell.ch: Sie meinen also, die 70 bis 85jährigen sollen sich selber organisieren?

 

Ludwig Hasler: Ja. Der Druck würde höher, wenn die staatlichen Angebote nicht so hoch wären. Aber der Staat organisiert tausend Sachen für die Alten. Als ob sie selbst nichts organisieren könnten. Die staatlichen Angebote könnte man tendenziell abzügeln und das den Kirchen überlassen. Vor dreissig Jahren konnte man nicht so reden. Aber heute kann man es doch nicht als normal betrachten, wenn ein Mensch dreissig Jahre lang ausruht und rum jettet wie ein Irrer und immer als der gleiche zurück kommt und darauf wartet, dass ihm jemand ein Alters-Z‘mittag organisiert. 

 

faktuell.ch: Sie sagen, dass viele Rentner vor dem Fernsehen enden. Es gibt keinen tiefsten gemeinsamen Nenner in den TV-Sendungen. In wessen Interesse kann die Massen-Verblödung sein?

 

Ludwig Hasler: Der österreichische Schriftsteller Hermann Broch (1886 -1951) hat die  Spannungstheorie entwickelt. Sie besagt, dass der Mensch, um an der Arbeit funktionieren zu können, permanent auf einem Spannungspegel existieren muss, den er von Natur aus nicht hat. Jetzt könnte man sagen, okay, du arbeitest fünf Tage und dann kommt das Wochenende, da sollst du ruhen. Da könnte man eine Unterhaltung der intelligenten und entspannenden Art machen. Broch zeigt, dass es das „System“ nicht macht, das Fernsehen nicht bietet. Denn das Risiko wäre zu gross, dass zu viele Menschen am Montag nicht mehr in die am Arbeitsplatz geforderte Spannung reinkämen. Die würden abhängen. Im gesellschaftlichen System gibt es dagegen keinen Widerstand. Im System gibt es jede Menge Opfer, aber auch jede Menge Care Teams und Therapien. Die braucht es, denn das ist die einzige Boom-Branche. Die braucht das System. Es braucht Opfer – wofür brauchen wir sonst all die Kurstätten? Also müssen wir Klienten produzieren. Es ist die Reibungslosigkeit des Systems. Das läuft subkutan. Das System will keinen Widerstand. Der Widerstand könnte aus einem Spannungsabfall entstehen, der bedeutet, dass man schon rein physiologisch aus dem System kippt.

 

faktuell.ch: Was ist denn ein gutes Leben für Sie?

 

Ludwig Hasler: Leben ist Bewegung.

 

faktuell.ch: Körperlich und geistig?

 

Ludwig Hasler: Beides, mindestens. Sich bewegen. Bewegt sein. Etwas bewegen. Also lebendig bleiben, Ohren spitzen und Augen auf. Je älter man wird, desto mehr Bewegung braucht man. Ich finde den Werbespruch „Lebst du noch, oder wohnst du schon?“ sensationell. Verhockt oder in Bewegung? Bewegung heisst auch Wandlung.  Darum bin ich skeptisch gegen das Willens-Motto, das unsere „Elite“ bestimmt: Sich im Griff haben, unter Kontrolle, körperlich topfit, mental weiterbildungsgehärtet, immer dran bleiben etc. ist zu einseitig, zu stur, zu irrtumsanfällig. Leben ist immer auch Verschwendung, Neugier, Leidenschaft, Verirrung, Ausschweifung. Wie könnten wir anders etwas entdecken? Innovativ sein, wie man das heute nennt?

 

faktuell.ch: 21‘000 Jugendliche haben im letzten Jahr die Lehre geschmissen. Der Bund gibt 450 Millionen Franken pro Jahr für Arbeitsintegrationsmassnahmen aus. Die Wirkung ist gering. Packen wir das Leben – wie Sie andeuten – falsch an?

 

Ludwig Hasler: Das Hirn hält sich an das, was es kennt. Nehmen wir die Ypsilon-Generation, die ich übrigens viel positiver sehe als die meisten. Was kennt diese Generation? Sie wurde maximal betreut. Sie stand immer im Mittelpunkt, konnte immer selber entscheiden und auch mitentscheiden, welches Auto angeschafft wird und wohin es in die Ferien geht. Diese Generation wurde von Helikopter-Eltern rundum behütet. Das kennt sie. Und daran hält sie sich. Das kann man ihr nicht vorwerfen. Dazu kommen die gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist alles da. Für alles hat es ein Hilfsprogramm. Man muss nicht müssen. Und im öffentlichen Bewusstsein herrscht der Spass-Imperativ. Das sind Faktoren, die zeigen, dass e Resilienz nicht früh entwickelt wird, weil sie nicht früh entwickelt werden muss. In andern Gesellschaften muss sie früh entwickelt werden, sonst geht man einfach drauf.

Dr. Ludwig Hasler, Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim „St. Galler Tagblatt“, dann bei der „Weltwoche“. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schweizweit bekannt für seine Vorträge.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

(das faktuell.ch-Gespräch mit Dr. Ludwig Hasler fand im August 2015 statt)


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Toni Bortoluzzi: "Kein Mensch verdient, dass man ihn einfach mit Geld zur Seite schiebt."

faktuell.ch-Gespräch mit alt Nationalrat Toni Bortoluzzi (SVP), von 1995 bis 2015 Mitglied der nationalrätlichen Kommission für Sicherheit und Gesundheit

Toni Bortoluzzi

 faktuell.ch: Herr Bortoluzzi, Ihr politisches Spezialgebiet ist seit über 30 Jahren die Sozialversicherungspolitik. Wenn Sie dieses Versicherungswerk auf der „grünen Wiese“ neu errichten könnten, welche Grundpfeiler würden Sie einschlagen?

 

Toni Bortoluzzi: Für mich gibt es zwei wesentliche Elemente: Die Erwerbsersatzversicherungen, in der kurz- und langfristige Erwerbslosigkeit erfasst werden sollten. Und Leistungen für Krankheit und Unfall. Diese sollten zusammengefasst werden. Das reicht, wenn man auf der ‚grünen Wiese‘ beginnt.

 

faktuell.ch: Und das liesse sich politisch durchsetzen?

 

Toni Bortoluzzi: Ich glaube schon. Es ist ja nichts anderes als die Zusammenfassung unserer neun Sozialversicherungen. Aber diese sind geschichtlich völlig unterschiedlich entstanden. Eine ‚grüne Wiese‘ ist eben nicht die Realität.

 

faktuell.ch: In welchen Bereichen sind für Sie die Finanzen aus dem Ruder gelaufen?

 

Toni Bortoluzzi: Vor allem im Gesundheitsbereich. Alles andere wie die Vorsorgebereiche Alter, Invalidität usw. scheinen mir überschaubar zu sein. Im Gesundheitsbereich hat es viele Abläufe, die für Kranke und die andern Prämienzahler, die Solidarität leisten, intransparent sind. Die vom Gesetz vorgeschriebene Wirtschaftlichkeit ist nicht überprüfbar.

 

faktuell.ch: Wie kam es, dass Sie sich im Nationalrat auf die für einen Milizparlamentarier doch eher arbeitsintensive Sozialpolitik als Schwerpunktthema entschieden?

 

Toni Bortoluzzi: Schon bevor ich in die Politik eingestiegen bin, hat es mich als Unternehmer immer interessiert, herauszufinden, was mit dem Geld passiert. Und es ist viel Geld.

 

faktuell.ch: 2012 ist die Fallpauschale SwissDRG eingeführt worden – mit der Begründung, die Kosten würden damit gesenkt. Doch jetzt rüsten die Kantone auf, um ihre Spitäler bei der freien Spitalwahl in die beste Position zu bringen. Wird das letztlich nicht noch teurer?

 

Toni Bortoluzzi: Ja, natürlich. Das ist leider so. Die Fallpauschale, die eingeführt wurde, damit sich Leistung und Qualität besser überprüfen lassen, ist im Moment – weil man sich weigert, das gesamte System der Fallpauschale einzuführen – ein Fass ohne Boden. Für einen Mitverursacher des Systems wie mich ist das besonders ärgerlich.

 

faktuell.ch: Ökonomie und Medizin finden nur schwer unter einen Hut.

 

Toni Bortoluzzi: Wir haben hervorragend ausgebildete Mediziner. Aber sie sind zu wenig mit einfachen ökonomischen Grundsätzen vertraut. Was unser Lehrling im zweiten Lehrjahr in der Schreinerlehre an Ökonomie lernt, lernen Ärzte erst, wenn es darum geht, den Zahltag festzulegen. Im Ernst: Der Patient ist an sich ein schlechter Marktteilnehmer. Er hat aufgrund seines Anliegens, wieder gesund zu werden, keine gute Ausgangslage, um ökonomische Grundsätze in den Vordergrund zu stellen. Und die Möglichkeiten der Versicherungen sind aufgrund der Gesetzgebung auch beschränkt.

 

faktuell.ch: Jahrhundertealte Genussmittel sind plötzlich Gegenstand staatlicher Anti-Kampagnen, die Verbotsliste wird lang und länger. Wie erklären Sie sich diese Abkehr vom ungesunden Genuss?

 

Toni Bortoluzzi: Im Gesundheitswesen gibt es einen gesellschaftlichen Trend und dieser hat einen unglaublich grossen Einfluss. Auf der einen Seite werden Kügelchen geschluckt, deren Wirkung wissenschaftlich nicht belegt, aber gesellschaftlich wahnsinnig akzeptiert ist; auf der andern Seite gibt es eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber gesundheitlichen Gefahren, indem man einfach auf die Reparaturwerkstätte vertraut, die schon alles wieder in Ordnung bringen.

 

faktuell.ch: Was empfehlen Sie?

 

Toni Bortoluzzi: Meines Erachtens läuft das Ganze in die falsche Richtung, weil die Prävention auf der Basis von Verboten und Ausgrenzung aufbaut und nicht auf der Einsicht der Menschen, selbstverantwortlich mit Genussmitteln umzugehen.

 

faktuell.ch: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) investiert Millionen von Steuergeldern, um der Nation gesundes Verhalten beizubringen. Hat in der Politik noch jemand den Durchblick, was die diversen ineinander verpackten Kampagnen tatsächlich kosten?

 

Toni Bortoluzzi: Wenn man den Aufwand nicht scheuen würde, könnte man die Details sehen, wobei viel natürlich auch versteckt läuft. Zum Teil als Steckenpferd von Chefbeamten im BAG. Dazu gehören Wellness-Wochenenden für HIV-Positive mit Partner im 4-Sterne-Hotel. Oder Versuche mit Drogenpilzen an der Uni Zürich, deren Wirkung man schon seit Jahrzehnten kennt und nicht für die Heilung einsetzen kann. Über die euphorische Haltung des BAG zu solchen Übungen kann man nur staunen. Das hat mit Wissenschaft und ergebnisorientierter Prävention nichts zu tun.

 

faktuell.ch: Ein bewährtes Mittel, Kampagnen aufzugleisen, sind Studien, die in Auftrag gegeben werden. Aus den Ergebnissen werden aber nur jene Teile herausgepickt, die ins Konzept passen. Beispielsweise über den volkswirtschaftlichen Schaden des Rauchens, der vom BAG seit Jahren konstant mit 4,5 Milliarden Franken angegeben wird, obschon der mit der Studie beauftragte Professor tatsächlich alles in allem bloss auf etwa eine halbe Milliarde kommt...

 

Toni Bortoluzzi: …ich würde behaupten, dass die Raucher in der volkswirtschaftlichen Rechnung ein positives Element sind, weil sie generell fünf Jahre weniger alt werden. Es ist natürlich fast unanständig, so etwas zu sagen, auch wenn es stimmt.

 

faktuell.ch: Warum interveniert die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) nicht, wenn Studienergebnisse nur selektiv veröffentlich werden?

 

Toni Bortoluzzi: Man befasst sich natürlich nie intensiv mit diesen statistischen Ergebnissen von Studien. Wer das tut, mag die Schwächen schon sehen…

 

faktuell.ch: …Sie wollen sagen, dass Politikerinnen und Politiker emotional entscheiden, statt auf Zahlen abzustellen?

 

Toni Bortoluzzi: Absolut. Das ist immer so. Politik ist keine fassbare genaue Wissenschaft. Wenn es das Emotionale, Ideale nicht brauchen würde, dann bräuchte es auch keine Politik. Dann könnte man die Wissenschaftler entscheiden lassen. Aber das funktioniert nicht.

 

faktuell.ch: Auch bei der 6. IV-Revision lautet das wie ein Mantra wiederholte Rezept „Hilfe zur Selbsthilfe“, was heisst: Rückführung in den Arbeitsmarkt. Die damit verbundenen Erwartungen scheinen sich nicht oder zumindest nicht im erhofften Ausmass zu erfüllen. Wo hapert‘s?

 

Toni Bortoluzzi: Vor etwa 10 Jahren hat die Einsicht eine Mehrheit gefunden, dass soziale Hilfe den Bezüger in seiner Fähigkeit stärken sollte, selber einen Beitrag zu leisten, wenn auch auf bescheidenem Niveau. Vorher war die Mehrheit immer der Meinung, den armen Kerlen müsse man helfen. Und das war‘s dann. Die neue Denkweise würde zu einer deutlich tieferen Belastung führen. Aber es ist natürlich so, dass die 230 000, die schon Rente beziehen, nach dem System ‚einmal Rente immer Rente‘ leben. Die kommen nicht mehr aus dem Prozess heraus. Da muss man sich keine Illusionen machen. Hinzu kommt, dass die Ausbildung der Sozialarbeiter weiterhin in eine falsche Richtung läuft. Sie übernehmen das Verständnis der 70er- bis 90er-Jahre und meinen, den Guten und Armen zu helfen, indem sie sie mit Geld zudecken. Das ist sozialpolitisch falsch und auch nicht menschengerecht.

 

faktuell.ch: Was ist daran falsch, Menschen zu bedauern, und ihnen eine Rente zu zahlen?

 

Toni Bortoluzzi: Das ist für mich eine absolute Katastrophe. Der oder die Betroffene wird als Mensch nicht mehr ernst genommen, sondern zum Rentenfall, vor dem man Ruhe hat. Das ist für mich keine Sozialpolitik. Kein Mensch verdient, dass man ihn einfach mit Geld zur Seite schiebt!

 

faktuell.ch: Heute gibt es 400 psychische Krankheiten, vor 50 Jahren waren es 100. Heute ist fast die Hälfte aller neuen IV-Renten auf psychische Gründe zurückzuführen – in der Altersgruppe der 18- bis 24jährigen sind es sogar 70 bis 80 Prozent. Was sagt Ihnen das?

 

Toni Bortoluzzi: Meine Version ist: Es hat mit dem Kiffen zu tun. Ich habe den Cannabis-Konsum im letzten Frühling mit sieben hoch angesehenen Schweizer Psychiatern thematisieren können. Jemanden, der kifft, kann man in einem Betrieb wie zum Beispiel in einer Schreinerei über längere Zeit nicht brauchen, weil Aufmerksamkeit und Präsenz mangelhaft sind, was gefährlich ist. Letztlich trägt der Betrieb die Verantwortung. Die Psychiater waren sich zwar einig, dass Kiffen bei den Jungen ein Problem ist und eine Ursache für die Steigerung von IV- Renten wegen psychischer Störungen sein könnte, aber sie befürchteten, sich politisch damit zu weit zum Fenster hinauszulehnen. Das hat mich masslos geärgert.

 

faktuell.ch: Schien es den Psychiatern politisch nicht opportun zu sein, ihre Meinung offiziell zu vertreten?

 

Toni Bortoluzzi: Genau! Damit war das Geschäft erledigt. Das ist schon alarmierend.

 

faktuell.ch: Wie soll die IV saniert werden, wenn sie ab 2017 wieder ohne 0,4 Mehrwertsteuerprozente auskommen muss?

 

Toni Bortoluzzi: Es wird jetzt wird der Hinterste und Letzte merken, dass eine Sanierung in dieser Art nicht möglich ist. Es gab gute Geister wie auch den Herrn Berset, die fanden, man kriege die Sanierung auch ohne die Vorlage 6B hin...

 

faktuell.ch: … die vom Parlament abgelehnt wurde und u.a. die Einführung eines stufenlosen Rentensystem und eine verstärkte Betrugsbekämpfung vorsah…

 

Toni Bortoluzzi: Richtig. Es hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass die Vorlage 6A allein …

 

faktuell.ch: ... Schaffung von integrationsfördernden Rahmenbedingungen zur Wiedereingliederung von Rentenbezügern, Wiedereingliederung von 17‘000 bzw. Reduktion des Rentenbestandes um 12‘500 gewichtete Renten innerhalb von sechs Jahren…

 

Toni Bortoluzzi: … genügen würde. Daran habe ich nie geglaubt. Es wird ohne die Vorlage 6B nicht gehen. Aber politisch getraut man sich im Moment wahrscheinlich nicht, vor das Volk zu gehen und zu sagen, wir brauchen das Geld weiterhin… Die 6B wird mehr oder weniger kommen. Es geht gar nicht anders. Man kann auch die Entwicklung der jungen psychischen Fälle in die Betrachtungen mit einbeziehen. Psychische Probleme fallen in der Regel wellenförmig an, der Betroffene erholt sich zum Teil und kann wieder arbeiten. Deshalb könnte man nach Bedarf Taggeld zahlen und den Rentenanspruch beseitigen. Da muss man vielleicht einen neuen Weg finden. Aber das machen dann die andern. Ich nicht mehr. (Nationalrat Bortoluzzi kandidiert im Herbst nicht mehr, die Red.)

 

faktuell.ch: Der ehemalige FDP-Präsident und Nationalrat Franz Steinegger hat kürzlich kritisiert, der Bundesrat spreche immer noch von Flüchtlingen, als hätten wir dieselbe Situation wie im Zweiten Weltkrieg, als politisch Verfolgte an der Grenze standen. Heute sei Migration in erster Linie ein Geschäft, grösser als der Drogenhandel, an dem kriminelle Organisationen verdienten.

 

Toni Bortoluzzi: Ich neige auch dazu, dass es keine Migration unter diesem Titel – an Leib und Leben bedroht – mehr gibt. Bei Konflikten zeigt die Schweiz Aufnahmebereitschaft für eine Anzahl Leute und damit hat sich’s. Der Rest sind nur noch wirtschaftsbezogene Zuwanderungen, die Gewerbe, Industrie und Dienstleister brauchen. Wir müssen einfach zu einer neuen Beurteilung kommen. Unsere Asylpolitik hat seit dem Zweiten Weltkrieg keine neue Grundhaltung entwickelt, obwohl sich die Herausforderungen geändert haben. Die Schweiz war immer ein Einwanderungsland. Mein Grossvater kam auch hierher. Aber damals gab es noch keine Sozialversicherungen. Er hatte kein Auffangnetz. Er musste krampfen.

 

faktuell.ch: Wo stünden wir in den Sozialwerken ohne den grossen Zustrom von Ausländern?

 

Toni Bortoluzzi: Es wäre für sie zweifellos eine Entlastung. Gegen 50 Prozent der Bezüger von Arbeitslosengeldern sind Ausländer. Wir haben uns kürzlich mal kundig gemacht, welche minimale Beitragsfrist für einen Anspruch auf Leistungen von AHV, IV und Arbeitslosenkasse reicht. Wenn man 14 Tage eine Arbeitsstelle hat und dann entlassen wird, kann man bereits stempeln gehen. Das ist nicht versicherungskonform. Es mag sozialpolitisch begründet sein, aber das Versicherungsprinzip müsste in dieser Phase stärker gewichtet werden.

 

faktuell.ch: Wie sieht Ihre Lösung aus?

 

Toni Bortoluzzi: Wenn man schon relativ offen sein will gegenüber der Zuwanderung, muss man wenigstens die Schwelle für den Sozialleistungsbezug etwas höher setzen. Man sollte zum Beispiel mindestens ein Jahr Beiträge zahlen müssen, um überhaupt einen Anspruch zu haben. Und mit einem Jahr an Beiträgen sollte der Anspruch geringer sein als mit mehreren Jahren. Da gibt es viele Varianten. Oder ein geringerer Anspruch mit nur einem Jahr an Beiträgen statt mehreren Jahren.

 

faktuell.ch: Sie haben über 20 Jahre lang die Sozialpolitik im Bundeshaus beeinflusst. Ziel erreicht?

 

Toni Bortoluzzi: Mein Hauptanliegen war es, dass eine Mehrheit in diesem Land sagen kann: Die soziale Sicherheit Schweiz ist gebaut. Es gibt keinen Ausbau mehr, sondern wir konzentrieren uns auf das Erhalten der wichtigen Leistungen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

 

(Das faktuell.ch-Gespräch mit Toni Bortoluzzi hat im Juli 2015 stattgefunden.)

 


Toni Bortoluzzi,

Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) seit 1991, Mitglied der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit seit 1995, Co-Präsident der Parlamentarischen Gruppe für Behindertenfragen, Co-Präsident Gruppe für Altersfragen.

Frühere politische Ämter: Gemeinderat (1982 bis 1986), dann Gemeindepräsident (1986 bis 1998) von Affoltern am Albis (ZH), Zürcher Kantonsrat (1984 bis 1991).

 

 



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