Beiträge zu Sozial & Sicher 

Hugo Fasel: "Unser soziales Engagement ist nicht dazu da, unserem eigenen Wohlbefinden zu dienen."

faktuell.ch im Gespräch mit Hugo Fasel, Direktor der Caritas Schweiz

Hugo Fasel

faktuell.ch: Herr Fasel, die Caritas steht in Konkurrenz zu den anderen Flüchtlingshilfswerken, mit denen sie zusammen den Dachverband «Schweizerische Flüchtlingshilfe» (SFH) bilden, und unzähligen privaten Anbietern. Wie kommen Sie an ihre Aufträge?

 

Hugo Fasel: Zum Funktionieren der Hilfswerke gibt es viele Klischees. Sie funktionieren aber sehr unterschiedlich. Unser Gesamtbudget von 120 Millionen Franken teilt sich auf in drei Säulen. Die erste Säule, die Spenden, sind ein normaler Wettbewerbsmarkt, bei dem auch jedes Jahr zusätzliche ausländische Organisationen mitmischen. In der zweiten Säule schreiben der Bund und die Kantone sämtliche Aufträge aus. Es handelt sich also um Akquise in einer normalen Wettbewerbssituation. Die dritte Säule ist international. Wir beschaffen Mittel bei der EU und den Aussenministerien von Norwegen, Schweden, Luxemburg, USA etc. Wenn wir beispielsweise in Syrien Projekte realisieren, dann auch aufgrund von Ausschreibungen. Da müssen wir uns konkurrenzfähig zeigen und durch unsere Qualität und Verlässlichkeit überzeugen. Auch durch schweizerische Genauigkeit.

 

faktuell.ch: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) setzt für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene in den ersten fünf bis sieben Jahren rund zwei Milliarden Franken ein. Ein Teil davon geht an die Hilfswerke. Das kann lukrativ sein…

 

Hugo Fasel: … von diesen ungefähr zwei Milliarden Franken des SEM erhalten die Hilfswerke nur wenig. Die gesamte Rechtsberatung, die jetzt ausgeschrieben ist, macht in der ganzen Schweiz nur etwa 20 Millionen Franken aus. Bei den rückläufigen Flüchtlingszahlen wird der Betrag sogar wesentlich darunter liegen. Gemessen an den zwei Milliarden also ganz marginal. Geld erhalten wir noch bei den Unterkünften. Aber da arbeiten wir auch mit Freiwilligen, die zum Tarif Null mithelfen.

 

faktuell.ch: Asylsuchende können sich das Hilfswerk aussuchen, das sie beraten soll…

 

Hugo Fasel: …das stimmt so nicht. Wenn ein Asylsuchender in ein Zentrum kommt, dann ist er mit dem Auftragnehmer konfrontiert, den das SEM ausgewählt hat. Das SEM kontrolliert die Qualität und schreibt zirka alle drei Jahre wieder aus. Dadurch kann der Standard regelmässig überprüft werden.

 

faktuell.ch: Wie setzen sich denn die zwei Milliarden der SEM-Gelder konkret zusammen?

 

Hugo Fasel: Aus Sozialhilfe und normaler Lebensunterstützung für Asylsuchende. Aber die Gelder für Betreuung und Rechtsberatung sind wie gesagt marginal.

 

faktuell.ch: Angesichts der rückläufigen Asylgesuche könnten Sie gezwungen sein, einige Ihrer 350 Mitarbeitenden zu entlassen.

 

Hugo Fasel: Um ein Asylzentrum zu führen, braucht man nur einen Hauswart und zwei, drei andere Angestellte für die Aufsicht. Die Asylbewerber sind selbständige Leute. Integrationsmassnahmen gehören nicht zu unseren Aufgaben. Aber wenn die Flüchtlingszahlen zurückgehen, ist es tatsächlich so, dass wir Leute abbauen müssen. Der Kanton Schwyz hat uns im Juni 2018 mitgeteilt, dass durch den Rückgang, auch von unbegleiteten Minderjährigen (UMA), das Haus der Jugend in Immensee schliessen muss. Das bedeutet 16 Kündigungen.

 

faktuell.ch:  Nebst anerkannten Hilfswerken gibt es längst auch Private wie die international tätige ORS, die am Verteilungskampf um Hilfsgelder teilhaben. Damit ihre Gewinne auch bei rückläufigen Asylzahlen nicht einbrechen, bieten sie vermehrt Coaching statt einfache Betreuung an, um die Leute in den Arbeitsmarkt zu bringen. Wäre eine solche Erweiterung der Angebotspalette auch für Sie als Chef eines grossen Hilfswerks ein interessanter Markt?

 

Hugo Fasel: Wissen Sie, es gibt Fragen, die ich gar nicht beantworte. Wenn ich eine Kritik äussere, wird das als Neid interpretiert. In einer Branche kommentiert man die Mitbewerber nicht. Jeder hat sein Konzept und lässt dem andern das seine. Die Auftraggeber müssen die Qualität beurteilen. Das sind die Kantone, teilweise die Gemeinden, teilweise das SEM. Wenn es eine Ausschreibung gibt und ich will in Luzern ein Zentrum führen, aber beispielsweise eine ORS den Auftrag erhält, dann hat sie den vorgegebenen Bedingungen besser entsprochen.

 

faktuell.ch:  Sie nehmen das sportlich.

 

Hugo Fasel: Kommt ein anderes Hilfswerk zum Zug, müssen wir uns überlegen weshalb. Haben wir zu viel gewollt? Gehen wir bewusst nicht unter einen bestimmten Standard und akzeptieren, dass ein anderer Anbieter bereit ist, zu einem bescheideneren Standard zu arbeiten? Wir haben unsere Massstäbe und Werte. Nach diesen entscheiden wir.

 

faktuell.ch: In der Flüchtlingshilfe wirken nicht wenige mit, die zuweilen – Stichworte kriminelle Schlepper, illegale Einreisen – etwas naiv erscheinen. Wie sieht diesbezüglich das Psychogramm von Leuten aus, die bei der Caritas arbeiten?

 

Hugo Fasel: Es ist für mich schwierig, diese Frage korrekt und nicht verletzend zu beantworten. Aber wenn sie sich unsere Strategie 2020 ansehen – eine kleine Broschüre und nicht mehr hundert Seiten wie bei meinem Amtsantritt – dann heisst es da «Unternehmensstrategie» und nicht «Hilfswerk». Und was steht im Zentrum der Strategie? «Wettbewerbsfähigkeit»…

 

faktuell.ch: …wofür andere Hilfswerke Caritas als «neoliberal» gescholten haben.

 

Hugo Fasel: Es geht bei uns um ein Engagement für Solidarität und Gerechtigkeit. Und unser soziales Engagement ist für Menschen bestimmt, die gegenwärtig nicht allein zurechtkommen, aus welchen Gründen auch immer. Aber es ist nicht dazu da, unserem eigenen Wohlbefinden zu dienen. Wir haben hier eine harte Linie eingerichtet. Bei uns gilt Effizienz und wer hier eine Führungsfunktion hat, muss unternehmerisch denken. Wir haben eben eine Woche Schulung hinter uns – in Rechnungswesen. Es kann bei uns keiner mehr ein Projekt machen und sagen, es ist jetzt halt mit dem Budget nicht ganz aufgegangen. Es geht auch um Verbindlichkeiten. Ein Termin ist ein Termin. Wenn wir eine Ausschreibung gewinnen wollen, dann muss man halt mal die Ferien verschieben. Eine andere Verhaltensweise geht nicht mehr.

 

faktuell.ch: Klingt in der Tat schon etwas «neoliberal», jedenfalls nicht nach «Kuschelkultur».

 

Hugo Fasel: Eine Aufgabe wie die der Caritas erfordert heute unternehmerische Kompetenz. Wir haben ein hohes Ziel, ein solidarisches Ziel und ein Ziel das besagt, dass ich für den andern etwas tun will. Dafür braucht es Effizienz.

 

faktuell.ch: Im Leitbild der Caritas steht, dass sich das Hilfswerk auf die Seite der Armutsbetroffenen weltweit stellt…

 

Hugo Fasel: …ja, aber wie wir das tun hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert, ebenso wie die Anforderungen. Das wird auch dazu führen, dass in den nächsten Jahrzehnten einige Organisationen verschwinden. Die können im veränderten Umfeld nicht überleben.

 

faktuell.ch:  Die Spendierfreudigkeit in der Schweiz offenbar da und dort rückläufig.  

 

Hugo Fasel: Bei uns ist das Gegenteil der Fall. Die Spenden steigen kontinuierlich. In der Strategieplanung 2020 sind wir von 28 Millionen Franken Spenden im 2017 ausgegangen. Es waren aber tatsächlich 34 Millionen. Die Leute schätzen, dass wir Positionen beziehen und nicht nur einen technokratischen Ansatz haben. Wir verwalten Armut nicht einfach, wir beschränken uns nicht auf Projektarbeiten. Damit will ich Projekte nicht disqualifizieren. Aber wir wollen beides. Die Caritas hat sowohl einen projektbezogenen wie auch einen politischen Ansatz.

 

faktuell.ch: Was heisst das konkret?

 

Hugo Fasel: Die Armut hat Ursachen. Deshalb haben wir eine Forschungsabteilung im Haus. Das haben nicht viele Hilfswerke. Mit unserer Forschung, die wir Grundlagen nennen, beziehen wir Positionen. Wir reden über die Ursachen der Armut im Inland, wir fordern Ergänzungsleitungen für Familien. Wir reden über die Gründe, weshalb ein Land wie Kongo nicht vom Fleck kommt. Nämlich weil alle versuchen, über Sonderbeziehungen und Bestechungen an die Rohstoffe ranzukommen.  

 

faktuell.ch:  Auch die Entwicklungszusammenarbeit wird dafür kritisiert, dass sie   menschenunwürdige Verhältnisse festigt, indem sie eine korrupte Oligarchie und skrupellose dubiose Firmen bedient. Wie sehen Sie das?

 

Hugo Fasel: Es ist einfach zu sagen, dass die Bevölkerung die Sache selber in die Hand nehmen sollte. Die Bevölkerung im Kongo möchte ihre Regierung längst loswerden, aber solche Diktaturen werden immer wieder gestützt. Das ist ausgeprägt in jenen Ländern der Fall, die Rohstoffe haben. Diese Länder können sich fast nicht entwickeln, weil sie in Auseinandersetzungen um die Rohstoffe mit Grossmächten oder regionalen Mächten gelangen. Ein afrikanisches Land ohne Rohstoffe hätte mehr Chancen für die Entwicklung. Diese Missverhältnisse spricht Caritas an.

 

faktuell.ch: Die Kritik an der Art und Weise der Entwicklungszusammenarbeit ist in den letzten Jahren lauter geworden und wird inzwischen auch in Kreisen diskutiert, die vor nicht allzu langer Zeit jede Änderung strikt abgelehnt haben.

 

Hugo Fasel: Darüber bin ich sehr froh. Denn damit kommt die Sprache auch auf die Umstände und die politischen Zusammenhänge. Nehmen wir die USA. Sie subventionieren ihre Agrarprodukte dermassen, dass sie in einem beliebigen Land praktisch gratis auf den Markt kommen. Dort bleibt kein einziger Bauer wettbewerbsfähig. Und wir selber schützen unseren Markt gegen die EU. Die Diskussion über die richtige Entwicklungszusammenarbeit ist mir darum höchst willkommen.

 

faktuell.ch: Sie bekommen jetzt Unterstützung von Ignazio Cassis, dem neuen Bundesrat und Aussenminister. Er will in seiner Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) die Schraube anziehen.

 

Hugo Fasel: Ich bin hellhörig und auch sehr interessiert, was Bundesrat Cassis vorhat. Bisher hat er nur die Migration erwähnt. Man kann sich immer fragen, worauf man sich konzentrieren will. Etwa in Libyen Asylzentren zu führen, damit die Leute nicht über den Teich kommen. In welchen Ländern die Schweiz künftig noch präsent sein wird, entscheidet allerdings nicht Aussenminister Cassis, sondern der Entwicklungsausschuss der OECD.

 

faktuell.ch: Sie waren in Ihrer Zeit als Nationalrat Präsident der entwicklungspolitischen Kommission der Grossen Kammer. Schon damals wurde die geographische und thematische Fokussierung der Entwicklungszusammenarbeit thematisiert. Weshalb kommt keine Strategie zustande?

 

Hugo Fasel: Das hat verschiedene Ursachen. Das Parlament sieht zuerst Fokussierung, also ein Ziel, auf das es sich konzentrieren will. Dann kommen die einzelnen parlamentarischen Vorstösse. Jeder hat eine unterschiedliche Erwartung an die DEZA. Plötzlich sind die Eritreer das Problem. Also gibt es Vorstösse im Parlament und jetzt muss die DEZA rasch 20 oder 50 Millionen nach Eritrea verschieben. Weil im Parlament immer wieder solche Interventionen Erfolg haben, lösen sich Strategien auf. Umgekehrt darf man ruhig festhalten, dass auch die DEZA sich konsequenter fokussieren müsste. Das ist eine Führungsaufgabe. Gemessen am Resultat braucht es mehr Führung und Fokussierung. Und Bundesrat Cassis hat bisher nur gesagt, was er nicht will. Wie gesagt: Ich bin gespannt, wo der neue Bundesrat die Akzente setzen will. Ich bin sehr gespannt.

 

faktuell.ch: Hilfswerken wird – auch das ist Teil der Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit – neuerdings vorgeworfen, dass sie in Afrika exorbitante Löhne und Zulagen bezahlen und ihre Mitarbeiter teure Geländewagen fahren. Was sagen Sie dazu?

 

Hugo Fasel: Die Kritik ist nicht einfach falsch. Es gibt hin und wieder schon ein Auftreten, das auch mich stört. Der Anstand erfordert aber, dass man bereit ist, eine Differenzierung vorzunehmen. Wer fährt jetzt mit solchen ‘Kisten’ herum und wer nicht? Heute kann jeder etwas behaupten und kommt damit durch, weil der Wissenstand der Öffentlichkeit so tief ist. Nur eine breite Debatte schafft Wissen.

 

faktuell.ch: Gut ausgebildete Einheimische arbeiten vor Ort gerne für Hilfswerke. Sie stehen damit aber der einheimischen Verwaltung und Wirtschaft nicht mehr zur Verfügung, wo sie – Stichwort Korruptionsbekämpfung – besonders gebraucht würden. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?

 

Hugo Fasel: Diese Überlegung ist sehr ambivalent. Wenn ein bestens gebildeter Tschader bei der Caritas einen Arbeitsplatz erhält, dann bleibt er im Tschad. Gleichzeitig beobachten wir, dass die ganzen Nordländer systematisch Bestqualifizierte absaugen und nach Europa bringen. Dann stellt sich die Frage, wer welche Löhne bezahlt. Caritas orientiert sich an den Löhnen, die vor Ort bezahlt werden. Das kann natürlich jeder sagen, aber ich kann es unterlegen. Die Caritas hat ein internationales Netz. Es gibt in jedem Land eine Caritas. Es gibt eine Caritas Nepal, es gibt eine Caritas Bangladesch, mit der wir jetzt ein Projekt Rohingya machen. Wir stellen der Caritas Bangladesch die Mittel zur Verfügung und klären mit ihr ab, was wir für die Rohingyas tun können. Entlöhnt werden die Mitarbeitenden der dortigen Caritas gemäss Lohnsystem in Bangladesch.

 

faktuell.ch:  Die Migration ist ein globales Geschäftsmodell. Die Weltbank schätzt, dass 2017 allein aus der Schweiz 25 Milliarden Dollar ins Ausland abgeflossen sind – Tendenz: Volumen steigend. Für gewisse Länder sind dies Rücküberweissungen, resp. Remissen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Auch eine Art Entwicklungshilfe?

 

Hugo Fasel: Das ist so. Aber das ist normal. In einem Land wie Nepal stammt ein ganz grosser Teil der Einnahmen der Bevölkerung tatsächlich von jungen Nepalesen, die unter schwierigen Bedingungen im Ausland arbeiten. Beim Wiederaufbau von Schulhäusern in Nepal hatten wir beispielsweise Leute, die in Katar Bauarbeiten geleitet hatten.

 

faktuell.ch: Das ist also keine besondere Leistung der Schweiz oder Europas…

 

Hugo Fasel: … nein und die Remissen sind wichtige Einnahmen für diese Bevölkerungen. In Tadschikistan haben wir ein Projekt gemacht mit Remissen. Die jungen Männer arbeiten in Russland und schicken Geld nachhause. Wir haben Gruppen gebildet von Familien, meistens Frauen, und ihnen empfohlen, das Geld das ihnen der Mann schickt, nicht einfach auszugeben, sondern einen Teil davon zusammenzulegen und gemeinsam zu investieren. Wir haben den Gruppen erklärt, dass sie fast genossenschaftlich etwas Gemeinsames unternehmen können wie eine Milchverarbeitung zu erstellen. Das ist Entwicklung. Die Frage, was man mit den Remissen politisch auslösen kann, ist sehr interessant.

 

faktuell.ch: Was ist denn Ihre ideale Vorstellung von Entwicklungszusammenarbeit?

 

Hugo Fasel: Ich bin ein Verfechter der kleinkörnigen Entwicklungszusammenarbeit. Projekte müssen nicht gross sein, sondern über eine längere Zeit hinweg betrieben werden, mit jährlich ein bis drei Millionen Franken. Das sind immer noch signifikante Beträge. Aber die Projekte müssen regional eingebunden und übersichtlich sein. Diese Kleinkörnigkeit ist präzis, da Resultat lässt sich auswerten. Das ist kein Streusand.

 

faktuell.ch: Stichwort ‘Effizienz’...

 

Hugo Fasel: …wer Gelder entgegennimmt, steht in der Pflicht, sich anzustrengen, damit möglichst viel davon bei den Bedürftigen ankommt. Die Unterschiede bei den administrativen Kosten der Hilfswerke sind enorm. Bei der Caritas liegen sie bei rund 10 Prozent.  Der Median ist über 20 Prozent. Die Hälfte der Hilfswerke haben also höhere und die andere Hälfte tiefere administrative Kosten. Gewisse Hilfswerke bringen es auf über 40 Prozent. Das muss öffentlich diskutiert werden, damit die Spender wissen, wem sie ihr Geld geben. Wir können als Hilfswerk grundsätzlich nur profitieren von einer engagierten und kritischen Diskussion.

 

faktuell.ch:  Sie haben gesagt, dass die Projekte messbar sein sollten. In Nepal hat die Caritas letztes Jahr über 3000 Leute für Hygiene- und Gesundheitsfragen sensibilisiert. Wie lässt sich der Erfolg dieser Aktion messen?

 

Hugo Fasel: Alle schreien gegenwärtig nach Messung. Das führt in gewissen Jahresbericht zu absurden Aussagen wie dieser:  «Wir haben 86'437 Menschen geholfen.» Das zeigt, dass ein Pseudovorgehen mit Pseudogenauigkeit gewählt wurde. Die Wirkungsmessung. Da hört man nur «Messung». Aber die Wirkungsmessung beginnt mit der Analyse: Worin besteht das Problem?

 

faktuell.ch: Wie beispielsweise…

 

Hugo Fasel: … wenn ich sehe, dass in einer Region Kinder häufiger krank sind als in einer anderen Region, dann leiste ich zu Beginn Denkarbeit und suche nach den möglichen Ursachen. Sind sie schlechter ernährt, gibt es keine Toiletten, ist das Wasser weniger sauber, haben sie zwar Wasser, aber waschen sich die Hände nie? Die grossen gesundheitlichen Fortschritte in der Schweiz kamen im 19. Jahrhundert über die Hygiene. Mit der Hygiene kam die grösste Erhöhung der Lebenserwartung. Wenn ich mir das Hygieneverhalten in einer Region systematisch ansehe und die Einwohner sensibilisiere, dann sind die Resultate sichtbar. Die Kleinkörnigkeit schafft die Übersicht. Wie häufig fehlen die Kinder jetzt in der Schule, wie viele Leute gehen mit Durchfall und andern Krankheiten in die Gesundheitszentren? Nehmen die Zahlen ab? Sensibilisierung ist a priori schwierig zu messen. Wir müssen gleich zu Beginn überlegen, wie wir die Änderungen erfassen...

 

faktuell.ch: … und wie lang es womöglich geht, bis sich etwas tatsächlich messen lässt?

 

Hugo Fasel: Als die Schweiz begann, sich mit der Gleichberechtigung der Geschlechter zu befassen, arbeitete man nur mit weichen Faktoren. Dann gab es ein Gleichstellungsgesetz. Das erlaubte den Frauen, selber zu entscheiden, ob sie eine Erwerbstätigkeit wollten, um nicht vom Ehemann abhängig zu sein. Das sind alles weiche Faktoren, die auch in der Schweiz über mindestens eine Generation zählten. Dort sollte man die Messung nicht überstrapazieren, sondern sich eingestehen, dass ein Veränderungsprozess nur über eine längere Zeitperiode stattfindet. Die zentrale Frage ist: ‘Habe ich bei meiner Betrachtung Kontinuität? Wenn ich ein Projekt zur Gleichberechtigung mache, kann ich am Schluss messen, dass jetzt alle etwas emanzipierter sind. Aber wenn das Projekt nach drei Jahren aufhört, sagt das nicht viel aus. Weiche Faktoren lassen sich nur über Kontinuität bearbeiten.

 

faktuell.ch: Für Gleichberechtigung haben wir uns in der Schweiz selber entschieden. In den Entwicklungsländern stellen auch kleinkörnige Projekte, wie Sie sie propagieren, einen Eingriff in Kultur und Tradition eines Landes dar. Wie rechtfertigen Sie als Hilfswerk-Verantwortlicher solche Eingriffe Aussenstehender? 

 

Hugo Fasel: Jede Intervention verändert etwas und jede Veränderung hat ihre positiven, aber auch ihre negativen Seiten. Das ist nichts Ausserordentliches. Darüber kann man sich nicht ewig streiten. Bei generellen Themen, bei denen es um weiche Faktoren geht, ist der Massstab nur, ob man mit Kontinuität aufwarten kann. Wenn die nicht gegeben ist, braucht man auch nicht lange zu messen.

 

faktuell.ch: Eines der Kernprobleme der Armut in Entwicklungsländern scheint die grosse Kinderzahl zu sein. Warum stösst die Aufklärung gleichsam auf taube Ohren?

 

Hugo Fasel: Wie viele Kinder in einem Land geboren werden, hängt vom Entwicklungsstand ab. Wir sehen uns die Geburtenrate im Ausland einfach nicht genau an. Ein verbreitetes Klischee besagt, dass Muslime sich vermehren wie Kaninchen und den Westen überschwemmen. Das ist ein Missbrauch der demographischen Daten und stimmt nicht. Im muslimischen Iran liegt die Geburtenrate unter zwei Kindern pro Frau. Wir beobachten in allen Ländern, dass die Geburtenrate sinkt, wenn das Einkommen steigt und die Leute merken, dass sie die Kinder nicht mehr brauchen als künftige Arbeitskraft. Die Geburtenrate geht rapide zurück.  Das heisst, die Leute stellen automatisch auf Kondome und Pille um. Das heisst nicht, dass wir nicht Aufklärungsarbeit leisten sollten. Das gehört dazu.

 

faktuell.ch: Warum bringt das Thema Entwicklungshilfe an den Stammtischen meist nur holzschnittartige Betrachtungen hervor, die mit der Realität wenig zu tun haben?

 

Hugo Fasel: Unsere Entwicklungszusammenarbeit hat ein enormes Kommunikationsproblem. Wenn ich mich auf Veranstaltungen umhöre, oder die Botschaften ans Parlament lese, stelle ich fest, dass eine unverständliche Sprache verwendet wird. Ich nehme unser Haus nicht aus. Da muss man intern dauernd dran arbeiten. Was willst du eigentlich sagen? Es ist eine enorme Herausforderung, verständlich darzustellen, worin Entwicklungszusammenarbeit besteht. Wenn ich den Hunger bekämpfen will, dann muss ich konkret sagen, weshalb konkret in diesen Ländern und Regionen Hunger herrscht. Wenn ich dann so Sätze lese wie «Empowern der systemischen Faktoren» frage ich mich, wo ich da gelandet bin.

 

faktuell.ch: In der Schweiz macht sich die Caritas für die Bekämpfung der Armut stark, von der mehr als 600'000 Menschen betroffen sind. Wie kommen die Leute zur Unterstützung durch die Caritas?

 

Hugo Fasel: Wir verteilen keine Gelder. In der Schweiz machen wir systematisch Armutspolitik. Wir haben es geschafft, dass man in der Schweiz über Armut diskutiert. Die ersten Berichte sind in der Schublade verschwunden. Aber wir wissen jetzt, wie viele Leute von der Armut betroffen sind. Wir sensibilisieren, klären auf und schlagen Massnahmen vor. Auf diese Weise ist das Armutsprogramm des Bundes zustande gekommen. Durch normalen Austausch mit dem Parlament. Jetzt verteidigen wir die Sozialhilfe. Aber wir selber können keine Mittel für die Individualhilfe mobilisieren.

 

faktuell.ch: Wie steht es denn mit der Arbeit der Freiwilligen?

 

Hugo Fasel: Die Vermittlung von Freiwilligen ist nicht in unserem Budget. Das weisen wir auch nicht aus. Es gibt immer wieder Leute, die uns fragen, ob sie einen Beitrag leisten können. Man darf nicht unterschätzen, wie viele Leute sich in sehr diskreter Form engagieren. Unter der Bedingung, dass ihr Engagement nicht hoch gehängt wird. Das geht durch alle Schichten. Wenn ich Ihnen Namen nennen würde, die alle kennen, dann würden einige den Kopfstand machen. Die Solidarität der Bevölkerung in der Schweiz wird im Allgemeinen unterschätzt. Das ist die wichtigste Erfahrung, die ich bisher in der Caritas gemacht habe. Das findet keinen Eingang in unsere Konten. Das ist reine Vermittlungsarbeit. Ich habe daraus gelernt, dass man sich anmahnen muss, nicht immer mit Klischees unterwegs zu sein. Wir dürfen niemanden auf seine Rolle und Funktion reduzieren.

 

faktuell.ch: Im Caritas-Markt können Leute mit minimalem Einkommen günstig einkaufen. In Bern stellt die Leitung fest, dass nur wenige Schweizer bei der Caritas einkaufen, weil sie sich genieren, von Bekannten gesehen zu werden. Ausländer hingegen nutzen das Angebot und zeigen sich «markenaffin». Das kann es ja nicht sein oder?

 

Hugo Fasel: Wir werten diese Märkte laufend aus. Der Markt in Bern ist gut sichtbar, das ist ein Problem. In der Westschweiz haben die Leute einen anderen Umgang mit Unterstützung. In Zürich garantiert die Grösse Anonymität. Die Sache mit den Markenprodukten ist eine normale Konditionierung. In der Westschweiz haben wir beispielsweise Produkte aus Frankreich. Wenn wir diese in einem Markt in der Deutschschweiz anbieten, fragen sich die Konsumenten was das soll. Und umgekehrt.  Auch arme Leute haben ihre Geschmäcker. Wir müssen mit dem Angebot reagieren. In den Caritas-Märkten beschränken wir den Einkauf eines Produktes pro Person. Damit die Käufer nicht selber einen Markt aufziehen. Einen Grossteil unserer Produkte schenken uns die Grossverteiler. Sie stellen uns gewisse Produkte zu einem Superpreis zur Verfügung. Schlimm sind leider die Bauern.  Sie lehnen eine Unterstützung der Hilfswerke kategorisch ab. Das taten sie sogar zur Zeit der Milchschwemme. Haarsträubend!

 

faktuell.ch: Ein ziemlich grosser Prozentsatz armer Menschen in der Schweiz verzichtet aus freien Stücken auf Sozialhilfe, obschon sie Anspruch darauf hätten. Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung in einer Zeit, in der sich ansonsten sich jeder holt, was möglichst billig zu haben ist – Stichworte ‘ich bin doch nicht blöd’?

 

Hugo Fasel: Armut ist ein Zeichen der Stigmatisierung. Stigmatisierung am Caritas-Markt ist das eine, aber das geht wesentlich weiter. In den Schulen wird die Armut bei den Kindern sichtbar. Wir haben in der Schweiz 100'000 armutsbetroffene Kinder. Wir mögen zwar nicht Geld verteilen, aber wir sind laufend daran, in die Netze der Armen hineinzukommen und ihnen zu sagen, dass sie nicht zu Lasten ihrer Kinder zurückhaltend sein sollten. Das ist eine falsche Scham und das braucht zuweilen Arbeit, Aufklärung und Unterstützung. Es ist Teil des Armutsphänomens, dass sich Leute selber in eine schwierige Situation bringen, weil die Stigmatisierung funktioniert. Daran muss man arbeiten. 

 

faktuell.ch:  Eines Ihrer Angebote ist die Familienplatzierung für Jugendliche in schwierigen Situationen. Wo ist die Schnittstelle zur Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden KESB?

 

Hugo Fasel: Die KESB weist zu. Wir suchen Familien, die bereit sind, Jugendliche aufzunehmen. 

 

faktuell.ch: Die Caritas hat die Idee «BonLieu»-Restaurant für Armutsbetroffene entwickelt. Was soll man sich darunter vorstellen?

 

Hugo Fasel: Stiftungen und Private leisten einen Beitrag, dass eine armutsbetroffene Familie auch einmal auswärts essen kann. Dazu machen wir Verträge mit Restaurants, die von allen Schichten besucht werden. Eine arme Familie erhält von Caritas einen Gutschein, gibt diesen beim Vertragsrestaurant ab, bezahlt einen Betrag und die Differenz übernehmen wir. Wir bieten dies als aktive Unterstützung an, um die Leute aus ihrer Isolierung zu holen.

 

faktuell.ch: Caritas ermöglicht Armutsbetroffenen auch den Besuch kultureller Anlässe mittels ‘KulturLegi’. Wie funktioniert das?

 

Hugo Fasel: Wir verteilen kein Geld. Die ‘KulturLegi’ ist ein Instrument, das es Familien ermöglicht ins Theater zu gehen, wo die Plätze ohnehin leer blieben. Bezahlen müssen sie immer etwas.  Auch in den Märkten. Die Leute haben das Recht, ein Produkt zu erhalten wie alle andern, aber sie haben auch die Pflicht zu bezahlen wie alle andern. Es gibt nichts gratis. Das gibt es nicht.

 

 

 

Gesprächsführung: Elisabeth Weyermann (das Gespräch wurde im August 2018 geführt)

 

 

 

 

 


Stefan C. Wolter: "Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45"

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Bildungsökonom

Stefan C. Wolter

 

faktuell.ch: Wir haben ein vorbildliches duales Bildungssystem in der Schweiz. Aber jährlich bleiben 10'000 Lehrstellen unbesetzt. Es entsteht der Eindruck, dass es Schülerinnen und Schüler reihum an die Universität zieht. Wie ist es tatsächlich, Herr Wolter?

 

Stefan Wolter: Die aktuelle Lehrstellenlücke ist vor allem eine demographische Konsequenz. Was den Sog an die Universitäten anbelangt, so ist festzuhalten, dass die Maturaquote in den letzten 20 Jahren praktisch unverändert geblieben ist. Von anfangs 1980er bis Mitte 1990er-Jahre stieg sie stark an und verdoppelte sich von 10% auf 20%, weil die Mädchen auf- und dann sogar überholten. Seit diesem Anstieg schwankt die Maturaquote immer um die 20%. Eintrittsticket an Uni ist die Maturität und die wird gesamtschweizerisch immer noch restriktiv vergeben.

 

faktuell.ch: Sie haben 2015 eine gross angelegte Bevölkerungsumfrage zu Bildungswünschen und -aspirationen durchgeführt...

 

Stefan Wolter: … wir haben 6000 Leute befragt. Wir wollten wissen, was sie für die ideale Ausbildung ihres Kindes halten.

 

faktuell.ch: Mit welchem Ergebnis?

 

Stefan Wolter: Zu meiner Überraschung schlägt die Lehre die Universität! Der Berufsbildungsweg ist immer noch «Number One» in der Schweiz.

 

faktuell.ch: Sinkt der Leistungsanspruch bei der Maturität, damit möglichst viele Jugendliche die Zulassung erhalten, wie böse Zungen behaupten?

 

Stefan Wolter: Die Quoten sind ja wie erwähnt stabil geblieben, damit kann nicht von einem sinkenden Leistungsanspruch ausgegangen werden. Zudem verfügen wir auch nicht über Leistungsmessungen über die Zeit, d.h. niemand kann es wissen. Was wir aber in unseren Bildungsberichten immer wieder thematisieren – ist der Umstand, dass zu einem zu grossen Teil die Falschen ans Gymnasium gelangen. Für Eltern mit guter Ausbildung, für Akademiker gibt es für den Nachwuchs tatsächlich nichts anderes als die Universität. Auch wenn das Kind die Leistungen nicht bringt, muss es trotzdem auf Biegen und Brechen an die Universität.

 

faktuell.ch: In welcher Grössenordnung setzen ehrgeizige Eltern privates Geld ein, um ihren Nachwuchs für die Uni fit zu machen?

 

Stefan Wolter: Mit Geld beziffern lässt sich das nicht. Wir wissen aber seit kurzem, wie viel Kinder Nachhilfeunterricht nehmen. Im 8./9. Schuljahr ist es ein Drittel. Das ist viel! Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler braucht sogar Langzeit-Nachhilfe. Da ist eine sozioökonomische Abhängigkeit klar vorhanden. Die Intensität des Nachhilfeunterrichts ist in jenen Kantonen besonders hoch, in denen der Zugang zum Gymnasium noch über Prüfungen und Vorschlagsnoten reglementiert wird. In den Kantonen, in denen der Zutritt am grünen Tisch entschieden wird, sagt man einfach „Ich will ins Gymnasium“, dann kommt man ins Gymnasium und braucht auch keine Nachhilfestunden. Im ersten Jahr fällt man dann allerdings schon durch oder muss repetieren. Ähnlich wie beim Medizinstudium. Da kennen die Deutschschweizer Kantone den Numerus Clausus mit Eignungstest und an den Westschweizer Universitäten kann jedermann studieren, wird aber spätestens nach dem zweiten Jahr rausgeschmissen, wenn er oder sie es nicht bringt.

 

faktuell.ch: Volkswirtschaftlich nicht gerade sinnvoll?

 

Stefan Wolter: Jaaa… darüber gibt es viele Diskussionen. Die Universitäten Genf und Lausanne begründen dieses Vorgehen damit, dass es gerechter sei, wenn ein Student ein Jahr lang seine Eignung unter Beweis stellen kann als nur beim eintägigen Test. Für mich sind allerdings die Kosten für ein Jahr verlorene Zeit zu hoch!

 

faktuell.ch: Wie sieht es in der Bildung mit der Chancengleichheit aus.
Reicht die Förderung der Lehrerschaft, Kinder aus einem nichtakademischen, gar bildungsfernen Elternhaus eine tertiäre Ausbildung zu vermitteln?

 

Stefan Wolter: Chancengerechtigkeit ist, wie bereits beim Zugang zum Gymnasium erwähnt, leider noch nicht überall gegeben. Allerdings sind unterschiedliche Bildungswege nicht nur auf Probleme bei der Chancengerechtigkeit zurückzuführen, es gibt auch Unterschiede bei den Bildungsaspirationen und –wünschen. So sind beispielsweise Erstgenerations-Ausländer mit unserem Bildungssystem noch wenig vertraut und orientieren sich nach dem Herkunftsland. Selbst Eltern, die auch aus Ländern mit einer Berufsbildungstradition kommen, müssen deswegen auch eine Präferenz für die Schweizer Lehre haben. Unsere Daten zeigen beispielsweise, dass gerade deutsche Einwanderer ihre Kinder gar nicht in die Lehre schicken wollen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Abiturquote in Deutschland sich der 50% Marke nähert, d.h. dort ist die Lehre schon ein Auslaufmodell. Wenn der Weg zum staatlichen Gymnasium verbaut ist, dann haben die Eltern das Geld, um eine private Alternative zu zahlen. Und das tun sie auch!

 

faktuell.ch: Welche Ausbildung rentiert volkswirtschaftlich am meisten?

 

Stefan Wolter: Das hängt von der Sichtweise ab. Aus fiskalischer Sicht lautet die Frage: Wer zahlt am meisten zurück von dem was in seine Ausbildung investiert wurde. Aus persönlicher Sicht: Rentiert sich die Ausbildung für mich? Die private Rendite bezogen auf die Bildungsjahre ist momentan bei Fachhochschulen und bei höherer Berufsbildung am höchsten. Denn die Ausbildungsgänge sind in einer relativ kurzen Zeit absolviert und es lässt sich damit ein gutes Einkommen generieren. Die Uni schneidet schlechter ab, nicht weil die Löhne absolut gesehen tiefer liegen, sondern weil man viel mehr Bildungsjahre gebraucht hat, um den erwarteten Lohn zu erzielen. Kurz: Mit einem Bachelor an einer Fachhochschule kann man praktisch dasselbe Einkommen erzielen wie mit dem Master an einer Universität.

 

faktuell.ch: Was raten Sie einem jungen Menschen, der möglichst schnell möglichst viel verdienen will?

 

Stefan Wolter: Bezüglich des Studienfachs kann ich keine grossen Ratschläge machen, da kennen wir die Löhne nur bis fünf Jahre nach dem Abschluss. Aber das ist gerade in einer akademischen Laufbahn noch nicht das Ende der Geschichte. Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45. Zwischen 25 und 45 liegt man mit dem Lohn unter oder auf gleicher Höhe wie mit anderen tertiären Abschlüssen. Dann werden die Einkommen höher bis zur Pensionierung. Aber mit diesen Kenntnissen können wir keine Ratschläge für eine Lebensperspektive geben.   

 

faktuell.ch: Warum werden nicht nur Studiengänge finanziert, von denen Wirtschaft und Staat profitieren können?

 

Stefan Wolter: Man weiss jeweils nur aus Vergangenheitsbetrachtung, was rentiert hat. Zu meiner Zeit wäre Linienpilot bei der Swissair wohl das non plus ultra gewesen. Piloten hatten eine Villa und gingen früh in Pension. Auch Journalist war ein gut bezahlter und angesehener Beruf. Aber an den Beruf des Informatikers dachte man damals nicht im Ansatz. Es entstehen also immer neue Berufe, die beim Studieneintritt noch gar nicht auf dem Radar waren oder von denen man noch nicht wusste, wie vielversprechend sie sein würden. Und Berufe, die super aussahen, versinken in die Bedeutungslosigkeit. Nichts gegen Piloten, aber heute sagt man „fliegende Tramchauffeure“...

 

faktuell.ch: … und der Nimbus schwindet…

 

Stefan Wolter: … auch noch. Man muss aber in der Beurteilung auch berücksichtigen, dass viele Studiengänge gar nicht eindeutig mit einem Beruf verbunden sind. Jemand kann Philosophie mit Schwerpunkt Logik studieren – ein schwieriges Gebiet. Was damit nach dem Studium anfangen? Finanzanalyse wäre eine Möglichkeit. Damit verdient sich ein Haufen Geld und die Tätigkeit ist der Gesellschaft und Wirtschaft auch dienlich. Das Studienfach allein entscheidet also nicht über den beruflichen Erfolg. Was konkret aus unseren Daten hervorgeht: Geistes- und Sozialwissenschaftler haben eine heterogenere Verteilung des Erfolgs nach dem Studium. Jobs für diese Leute sind begrenzt. Nur wer ausgezeichnet abgeschnitten hat, erhält geeignete Arbeit. Dann allerdings verdient er gleich viel wie jemand, der Naturwissenschaften oder exakte Wissenschaften studiert hat. In diesen Fächern haben auch Studienabsolventen recht gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt wenn sie im Studium schlecht abgeschnitten haben. Geistes- und Sozialwissenschaften führen somit nicht per se zu schlechten Arbeitsmarktergebnissen, sondern sind nur mit einem höheren Risiko behaftet nicht dort und zu den Bedingungen arbeiten zu können, wie man sich dies bei der Studienwahl vorgestellt hatte…

 

faktuell.ch: ... beispielsweise in der Bundesverwaltung zu arbeiten?

 

Stefan Wolter: Tatsächlich ein wichtiger und interessanter Punkt! Der grösste einzelne Arbeitgeber für Akademiker ist der Staat. Der Staat beschäftigt Akademiker praktisch aller Studienfächer. Er zeichnet sich gegenüber der Privatwirtschaft aber dadurch aus, dass man bei ihm i.d.R. kleinere Bildungsrenditen erzielt. Das hat damit zu tun, dass der Staat eine viel kleinere Lohnspreizung hat als die Privatwirtschaft. Mit andern Worten: Wenn der Staat in die Studienwahl eingreifen würde, in dem er beispielsweise die gesamten Studienkosten auf die Studierenden überwälzen würde, müsste er auf der Lohnseite aktiv werden. Sonst würden ihm aufs Mal die Leute fehlen, die er selbst anstellen will. Der ehemalige Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, Hansueli Stöckling pflegte dazu jeweils sinngemäss zu sagen: „Wenn der Staat die Studienkosten dem Studenten anhängen würde, dann könnte er keinen Veterinär mehr einstellen.“ Und das stimmt heute noch.

 

faktuell.ch: Die CS hat eine Studie in Auftrag gegeben, die Aufschluss über die Lebensweise junger Menschen gibt. Wichtig sind für sie Geld, Status und Konsum. Die Jugendlichen wollen später im Beruf zwar viel Geld, aber auch viel Freizeit. Wenn der Chirurg nur 50% arbeitet, um viel Quality Time mit seinen Kindern zu verbringen, dann wird sich die staatliche Investition in seine Ausbildung nie lohnen. Wie lässt sich das Problem lösen?

 

Stefan Wolter: In der Schweiz ist die fiskalische Rendite für praktisch alle Ausbildungstypen positiv. Wenn der Staat einem jungen Menschen die tertiäre Ausbildung bezahlt und der nach dem Ausbildungs-Abschluss Vollzeit arbeitet, dann muss sich die Gesellschaft keine Sorgen machen. Sie kann auch einem Studenten aus gutem Haus die Ausbildung finanzieren, weil sie über Steuern, insbesondere die Steuerprogression, alle ihre Investitionen mit Zins und Zinszinsen zurückerhält. Wenn ein Studien-Absolvent aber nicht Vollzeit arbeitet, dann ist es für den Staat und somit auch die Gesellschaft schnell ein Verlustgeschäft.

 

faktuell.ch: Ausbildung ist doch ein Menschenrecht…

 

Stefan Wolter: … aber nicht alle haben den gleichen Zugang zu diesem Recht und wenn sich jemand seine Bildung von der Gesellschaft bezahlen lässt, und dann freiwillig darauf verzichtet, Vollzeit oder überhaupt zu arbeiten, dann überbürdet er die Bildungskosten der Gesellschaft ohne ihr etwas zurück zu geben. Damit käme es zu einer nicht vertretbaren Finanzierung von unten nach oben, die sicherlich nicht gerecht wäre.  

 

faktuell.ch: Weshalb nicht eine Bedingung an die Ausbildung knüpfen - wie bei den Militärpiloten. Die Ausbildung kostet eine Million und als Gegenleistung haben sie mindestens 5 Jahre bei der Luftwaffe zu dienen.

 

Stefan Wolter: Das wäre eine Möglichkeit. In andern Ländern wird sie schon praktiziert. In Australien häuft der Student ein virtuelles Schuldenkonto an und muss den vollen Betrag zurückbezahlen. Mit ungefähr 40 ist er dann schuldenfrei. Im kanadisch-amerikanischen Modell macht man es umgekehrt. Der Student trägt die Kosten von vorneweg und wenn er es sich nicht leisten kann, nimmt er einen Kredit auf. Ich bin gegen dieses Modell, weil es wieder zu einer Chancen-Ungleichheit führt. Abgeschreckt von den Schulden, verzichten viele auf ein Studium.

 

faktuell.ch: Wie sieht das übertragen auf die Schweiz aus?

 

Stefan Wolter: Noch bezahlt die Mehrheit in der Schweiz durch Arbeitstätigkeit ihr Studium zurück, also besteht meiner Meinung nach für die Mehrheit der Studierenden auch kein Handlungsbedarf. Aber man könnte eine Notfalllösung einführen und sagen, wer freiwillig nicht arbeitet, muss die Studienkosten akonto zurückzahlen. Das würde auch als Anreiz dienen zu arbeiten.

 

faktuell.ch: Paradox ist, dass wir in der Schweiz zu wenig Fachleute haben.

 

Stefan Wolter: Ja. Wir haben auf der einen Seite Leute, die ausgebildet sind, aber nicht arbeiten wollen, und auf andern Seite haben wir Fachkräftemangel. Bisher war das kein Problem, wir haben die Fachleute aus dem Ausland geholt. Wenn wir jetzt keine Ausländer mehr wollen, müssen wir das Problem anders lösen.

 

faktuell.ch: Ohne Diplome scheint heute nichts mehr zu gehen. Nehmen wir den Sozialbereich. Der Sozialarbeiter mit fürsorgerischer Frontarbeit ist – plakativ gesagt – ersetzt worden durch den Case-Manager auf dem Bürostuhl. Was bringt das den Klienten, der Gesellschaft?

 

Stefan Wolter: Man kann nicht am Berufsbedürfnis vorbei reglementieren. Die Berufe werden anspruchsvoller und durch die Ansiedlung auf tertiärem Niveau kann man auch deren Spektrum erweitern. Es reicht nicht mehr, dass man einen Sozialarbeiter ausbildet, damit er einen Jugendtreff leiten kann. Er muss eine Job-Perspektive haben, damit er – wenn er mit 40 genug vom Jugendtreff hat – auch in eine Kaderposition in einer Sozialbehörde aufsteigen kann. Dazu braucht er aber auch Kenntnisse von unserem Rechtssystem oder vom Personalwesen.

 

faktuell.ch: Das verhindert doch die Anstellung von Leuten, die eine Aufgabe mit natürlicher Affinität und gesundem Menschenverstand angehen. Warum kann der Sozialarbeiter den Jugendtreff nicht leiten so lange es ihm gefällt und dann einen Eignungstest für Weiterbildung machen?

 

Stefan Wolter: Unser Bildungswesen hat heute schon über die höhere Berufsbildung viele Möglichkeiten sich in einem Beruf ständig weiter zu qualifizieren. Daneben ist aber zu beachten, dass wir den Jugendlichen von heute mit der Berufsmaturität auch die Möglichkeit geben ohne sehr grosse Umwege zu einer tertiären Ausbildung zu gelangen, d.h. man muss auch Job-Profile schaffen, die auf diese jungen Leute zugeschnitten sind.

 

faktuell.ch: Aber ist es nicht so, dass die Berufe ohne Grund „verakademisiert“ werden?

 

Stefan Wolter: Ich denke nicht. Lassen Sie mich das am Beispiel der viel kritisierten Tertiarisierung des Lehrberufs machen: Auch wenn ein Primarlehrer oder eine Primarlehrerin einem Erstklässler „nur“ erste Schritte in Mathematik beibringen will, muss sie mehr mitbringen als „Ich habe es selber gelernt“. Schülerinnen und Schüler sind ganz unterschiedlich strukturiert. Nicht nur von ihren Fähigkeiten, sondern auch von ihrem Zugang zur Materie her. Die Lehrerin muss auf Meta-Ebene wissen, wie sie den unterschiedlichen Lern-Typen den Lerninhalt vermitteln muss. Wenn sie das nicht kann, lässt sie vielleicht mehr als die Hälfte der Schüler zurück. Und bevor sie denselben Lerninhalt unterschiedlich vermittelt, muss sie oder er noch Diagnostik beherrschen. Man muss herausfinden, welches Bedürfnis welcher Schüler hat: Hat ein Kind einen Lernrückstand? Braucht es besondere Zuwendung? Ist es hochbegabt und braucht einen zusätzlichen Lerninhalt? Dazu braucht man eine tertiäre Ausbildung.  Man kann die Lehrpersonen nicht mehr jahrzehntelang dem „learning by doing“ überlassen. Dann hätten sie bereits zu viele Jahrgänge potentiell mit „trial and error“ verloren.

 

faktuell.ch: Hat man sich vor 20, 30 Jahren mit einer nicht adäquaten Ausbildung zufrieden gegeben oder ist die Gesellschaft und damit die Bildung heute schlicht komplexer?

 

Stefan Wolter: Natürlich sind die Anforderungen komplexer geworden. Ich glaube aber eher, dass wir uns früher einfach mit weniger und schlechteren Ergebnissen zufriedengegeben haben. Dass Migranten im Unterricht nicht mitkamen, war eben weil sie Migranten waren und nicht, weil man die falsche Pädagogik und Didaktik anwendete oder falsch diagnostiziert hatte.

 

faktuell.ch: Im Gymnasium und an der Universität sind eigenständiges Lernen und damit Eigenverantwortung angesagt. Das heisst heute vorwiegend Informationsbeschaffung im Internet und via Social Media. Wie soll dies im so genannten postfaktischen Zeitalter noch möglich sein, in dem fake-news und Filterblasen – Facebook und Google zeigen dem Leser nur was seinem Weltbild entspricht – seriöse Information ersetzen?  

 

Stefan Wolter: Selbststudium gehört zur intellektuellen Entfaltung. Eigenständiges Lernen heisst aber nicht, dass die Studenten allein gelassen werden. Als Dozent muss ich ihre Defizite erkennen, sie anleiten, zur Eigenständigkeit erziehen. Der Zugang zum Wissen war noch in den 1980er-Jahren schwierig und teuer. Wissen war einer Elite vorbehalten und diese Elite hat uns mit dem ausgebildet was sie wusste und für richtig befand. Als Studenten waren wir unseren Professoren ausgeliefert. Und mehr oder weniger dazu verdammt zu glauben, was sie einem sagten. Das war ein Nachteil. Dem Nachteil der leicht zugänglichen Gratisinformation im Internet, dass sie falsch sein kann, steht der Vorteil gegenüber, dass leicht und schnell überprüfbar ist, ob auch stimmt, was ein Lehrer oder Dozent erzählt. Wenn ich bei einer Vorlesung einen Begriff verwende und ein Student mir sagt, Google meine dazu etwas Anderes, dann ist das nicht schlecht. Der Student setzt sich kritisch mit dem Thema auseinander und glaubt nicht einfach, was ich da vorne erzähle.

 

faktuell.ch: Welches ist denn heute die Hauptaufgabe der Lehrpersonen und der Dozierenden, wo sich die Schüler und Studenten die Informationen selbst besorgen können?

 

Stefan Wolter: Wir müssen ihnen beibringen, woran man richtige und falsche Information erkennt. Das ist mehr als nur „Medienerziehung“. Dazu würde ein Geschichtsstudent „Quellenstudium“ sagen. Also das Original finden und sich nicht auf ein Werk verlassen, das der Autor anhand unzähliger Quellen verfasst hat. Was früher nur Geschichtsstudenten leisten mussten, sollte heute jeder Student und jeder Bürger tun. Internet ist ein Riesenvorteil und diesen Vorteil erkauft man sich mit „noise“ – Informationen, die im Hintergrund herumschwirren und in denen viele Fehler stecken. Ich habe heute also hohe Kosten, weil ich herausfinden muss, was stimmt, dafür finde ich die Informationen deutlich schneller.

 

faktuell.ch: Welches ist denn die wichtigste Kompetenz, die Studierende brauchen, um sich im Bildungswesen durchsetzen zu können?

 

Stefan Wolter: Die heutige Forschung sagt, dass es die gleichen Fähigkeiten sind, die man auch sonst im Leben und bei der Arbeit braucht:  eine hohe Aufmerksamkeitsspanne und Hartnäckigkeit. Das sind Fähigkeit, die man üben muss und kann, sie sind nicht einfach angeboren.

 

faktuell.ch: Junge Menschen wollen Geld, Konsum und Status. Karriere macht sich vorzugsweise global, am besten im Silicon Valley. Die Schweiz finanziert das Studium, hat aber nichts davon. Wie sehen Sie das?

 

Stefan Wolter: Momentan sind wir eher die Netto-Gewinner beim globalen Braindrain, d.h. wir haben ein „Braingain“. Mehr Ärzte, die in einem anderen Land für Millionen ausgebildet worden sind, kommen in die Schweiz, um zu arbeiten, als beispielsweise Schweizer Ärzte auswandern.

 

faktuell.ch: Aber wie steht es mit dem Ehrgeiz der Schweizer Uni-Absolventen, im Silicon Valley rasch Millionär zu werden?

 

Stefan Wolter: Ehrzeiz ist nicht schlecht und Informatikausbildung auch nicht, aber das Silicon Valley ist wie das Hollywood der Wirtschaft. Für die meisten nur ein Traum. Nur wenige schaffen es. Im Silicon Valley gibt es ein grosses Proletariat, über welches die Medien wenig berichten. Jugendliche und auch ihre Eltern sehen häufig nicht, dass man eher im Lotto gewinnt als dort Millionär wird.

 

faktuell.ch: Und was ist mit den Jugendlichen, die es auch ohne Ausbildung zu Ruhm und Reichtum bringen wollen?

 

Stefan Wolter: Wir haben TV-Sendungen wie «Die Schweiz sucht den Superstar». Das sind bildungsmässig desaströse Programme. Denn es wird den Leuten vorgegaukelt, dass man es auch ohne Ausbildung – sei es in dem gewünschten Fach oder allgemein – an die Spitze schaffen kann. Lehrerinnen und Lehrer versuchen täglich zu vermitteln, dass im Leben nichts aus einem wird, wenn man nicht lernt. Diese Botschaft wird ständig konterkariert mit medial vermittelten Beispielen von Leuten, die es ohne Bildung zu etwas bringen. Sicher, man kann sozial und finanziell auch ohne Bildung Erfolg haben, nur ist die Wahrscheinlichkeit winzig klein.  

 

faktuell.ch: Eine neue Herausforderung ist die Migration. Welche Art von Bildungsoffensive ist angesagt, um Analphabeten und Verweigerer, aktuell zum Beispiel muslimische Frauen, marktfähig zu machen?

 

Stefan Wolter: Bei der legalen Arbeitsmigration sehen wir eine Polarisierung. Wir sehen eine Einwanderung von mehr als doppelt so vielen unqualifizierten Leuten als wir sie schon im Land haben. Gleichzeitig haben wir auch eine viel grössere Anzahl sehr gut ausgebildeter Migranten, aber die Mitte fehlt. Das ist verständlich. Unten holen wir Leute rein für Arbeiten, die wir selber nicht machen wollen. Oben holen wir Spezialisten rein für Funktionen, die uns fehlen. Statt zehn Jahre zu warten, bis wir die Spezialisten selber ausgebildet haben, nehmen wir sie aus dem Ausland. Hingegen das mittlere Spektrum der Qualifikationen können wir gut im Inland abdecken und haben wenig Bedarf nach Ausländern.

 

faktuell.ch: Und was bedeutet dies für die Ausbildung?

 

Stefan Wolter: Da gibt es eine Polarisierung. Die „unten“ haben das Gefühl, dass ihnen die Ausländer die Arbeitsplätze wegnehmen, und „oben“, an der Zürcher Goldküste, stöhnen Schweizer Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr ins Gymnasium können wegen der Migranten.

 

faktuell.ch: Dann haben wir die Flüchtlinge, die Asylbewerber…

 

Stefan Wolter: … die aktuelle Flüchtlingskrise ist glücklicherweise noch nicht ein sehr grosses Problem für die Schweiz. Was daraus noch wird, ist aber schwierig abzuschätzen. Jede Flüchtlingsgeneration nach dem 2. Weltkrieg hat sich komplett unterschieden. Tibeter, Ungarn, Tschechen, Tamilen in den 80er-Jahren, die Vertriebenen nach dem Kosovo- und Exjugoslawien-Krieg, heute arabische Flüchtlinge aus dem Raum Syrien, afrikanische Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea. Der Ausbildungsbedarf war bei jeder Flüchtlingswelle anders, ebenso die Motivation der Leute. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gab es früher nicht. Ich sehe das Problem, dass wir wenig von der Erfahrung, die wir mit früheren, grösseren Flüchtlingsströmen machten, auf die heutige Situation übertragen können – eben weil sich die Art der Flüchtlinge unterscheidet. Eine kulturelle Integration ist sicher das A und O. Aber nicht alle haben die Absicht, länger als nötig hier zu bleiben.

 

faktuell.ch: Integration erfolgt in erster Linie über die Sprache. Die Ressourcen sind allerdings beschränkt. Im Kanton Zürich hat die Bildungsdirektion beschlossen, die Mittel für Deutsch- und Analphabeten-Kurse per 2017 für drei Jahre zu streichen. Sparmassnahmen! Was halten sie davon?

 

Stefan Wolter: Das kann ich nicht verstehen. Die Sprache ist nicht nur wichtig für die Integration, sondern auch zur Verhinderung einer Ghettoisierung. Die Integration gelingt am besten dort, wo die Leute möglichst fern von Landesgenossen angesiedelt werden, weil sie die Landessprache und Landesbräuche schneller lernen. So viel weiss man aus der Literatur über Migrantenströme. Wenn die Sprachbindung wegfällt, provoziert man einen Druck, die neue Sprache zu lernen. Es gibt auch keinen Beruf mehr, den man ohne Sprache ausüben kann. Auch so genannt unqualifizierte Berufe sind sprachlastig.

 

faktuell.ch: Was zeigt die Erfahrung?

 

Stefan Wolter: Ich habe schon vor 20 Jahren, als ich noch Chefökonom im BIGA war, Probleme mit Jugendlichen gehabt, die einen schlechten Sprachhintergrund hatten. Ein paar Jahre nach dem Jugoslawienkrieg waren sie in der Schweiz, fanden keine Lehrstelle und wir meinten, sie könnten doch etwas Unqualifiziertes machen, zum Beispiel Gleisarbeiter bei der SBB. Da sagte uns der SBB-Vertreter: “Und was ist, wenn ich denen sage, wenn ein Zug kommt, winke ich dann mit einem roten Fähnli und die verstehen mich nicht?“ Wir haben uns auch gesagt, Industriearbeiter könnten Leute ohne Kenntnisse der Landessprachen werden, weil die ja nur bestimmte Handgriffe zu machen haben. Schon wieder lagen wir falsch. „Nein“, lautete der Bescheid, „wir haben Schichtwechsel oder Produktionswechsel, dann steht das im Aushang. Als Firmenchef kann ich die Leute nicht in 40 Sprachen bedienen.“

 

faktuell.ch: Welchen volkswirtschaftlichen Beitrag leisten eigentlich die verschiedenen Generationen im Vergleich – Vorkriegsgeneration, 68iger, Babyboomer, Millennials?

 

Stefan Wolter: Es fragt sich, ob diese Generationen nur eine Erfindung der Journalisten sind. Wissenschaftlich gesehen gibt es die nicht. Kulturelle Verschiebungen in den Jahrgängen sind unbestritten. Aber ich glaube nicht, dass man Leute aufgrund ihres Geburtsjahres homogen beurteilen kann. Klar ist, dass der Mensch durch das geformt wird, was er erlebt. Wenn jemand seine Bildungsentscheidung in einer Zeit der Rezession treffen muss, tut er dies anders als derjenige, der sich in einer Zeit entscheidet, in der wirtschaftlich Milch und Honig fliesst, und er damit rechnen kann, dass jeder Entscheid zum Erfolg führt. Das kann schon ganze Generationen prägen und auch längerfristige Auswirkungen haben.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Stefan C. Wolter

Ist seit 1999 Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und somit auch für die Bildungsberichterstattung der Schweiz zuständig. Er leitet auch die Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern und unterrichtet als ständiger Gastdozent auch an der Universität Basel. Wolter vertritt die Schweiz seit 1995 in verschiedenen Gremien der OECD und ist seit 2011 Präsident von deren Expertengruppe für Berufsbildung.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann (das Gespräch fand im November 2016 statt)


Mathias Binswanger: "Über mehr als ein Jahr hinaus kann man eine Wachstumsprognose nicht allzu ernst nehmen.“

faktuell.ch im Gespräch mit dem Ökonomen und Publizisten Mathias Binswanger

Mathias Binswanger

 faktuell.ch: Herr Binswanger, ökonomische Prognosen bewahrheiten sich kaum je – das sieht selbst der Laie. Sie erklären dies damit, dass auch in der Wissenschaft der Glaube eine Rolle spielt, nämlich der Glaube an die eigene postulierte Hypothese. Sind Prognosen «fake news»?

 

Mathias Binswanger: Nein. Die Ökonomie ist keine präzise Wissenschaft. Sie kann nicht voraussagen, was in Zukunft passiert. In der Physik geht das noch einigermassen, da sich das Verhalten von Atomen in der grossen Masse mathematisch ziemlich gut beschreiben lässt. In der Ökonomie ist das aber unmöglich, da sich Bedingungen ständig verändern und Haushalte und Unternehmen auf diese Veränderungen reagieren. Dennoch verlangt man von der Ökonomie genau das, was sie am wenigsten kann, nämlich die Zukunft vorauszusehen...

 

faktuell.ch: … einen Blick in die Kristallkugel zu werfen…

 

Mathias Binswanger: …ja genau. Es ist so: In Zeiten, in denen alles normal läuft, kann man relativ gut Prognosen machen, braucht sie aber nicht. In Zeiten, die turbulent sind, braucht man Prognosen, aber dann können auch Ökonomen keine wirklich guten Prognosen für die Zukunft stellen.

 

faktuell.ch: Prognosen, Umfragen und eine Unmenge von Studien gehören inzwischen wie ein Führungsinstrument zum politischen Alltag. Mehr und mehr wirken die publizierten Ergebnisse wie bestellt.

 

Mathias Binswanger: Es gibt viele Institute in der Schweiz, die einen breiten Fächer verschiedener Werte anbieten. Positivere und negativere. Entscheidungsträger suchen nicht unbedingt die richtige Prognose, sondern eine, auf die sie sich abstützen können. Wenn zum Beispiel ein Investitionsentscheid begründet werden muss, dann stützt man sich gerne auf eine möglichst positive Prognose. Sollte es dann schief herauskommen, kann man argumentieren, man habe sich auf eine Prognose eines renommierten Instituts gestützt, womit man die Verantwortung für den Fehlentscheid an die Prognose delegiert. Umgekehrt, wenn Politiker Massnahmen gegen Arbeitslosigkeit fordern, bevorzugen sie eine möglichst pessimistische Prognose, welche die Dringlichkeit der Massnahmen untermauert. In einer Wirtschaft mit einer grossen Produktvielfalt gibt es nicht überraschend auch eine gewisse Prognosevielfalt, so dass für jeden etwas Passendes dabei ist.

 

faktuell.ch: Klingt nach Manipulation. Beispiel Sozialversicherungen, wo teilweise desaströse Prognosen bis ins Jahr 2060 zirkulieren. Positive Entwicklungen – positiver Wanderungssaldo, seit 25 Jahren die höchste Geburtenrate, auf hohem Niveau erstmals seit vielen Jahren gedrosselte Alterung – werden bestenfalls am Rande thematisiert. Wie seriös ist das alles noch?

 

Mathias Binswanger: Schon eine einjährige Prognose für das Bruttoinlandprodukt ist relativ langfristig. Beim demografischen Wachstum kann man die Entwicklung über eine längere Frist voraussehen. Was in der Öffentlichkeit haften bleibt, ist aber oft nicht die Prognose an sich, sondern die mit ihr verbundenen Botschaften. Das dient oft politischen Zwecken. Man kann mit Prognosen Angst schüren oder Zuversicht schaffen. Neutral werden sie selten verwendet.

 

faktuell.ch: Wo bleibt der wissenschaftliche Anspruch – ist es für Ökonomen nicht problematisch, sich in den Dienst von Interessen zu stellen?  

 

Mathias Binswanger: Das heutige Wissenschaftssystem zwingt Wissenschaftler dazu, möglichst viele Drittmittelprojekte zu akquirieren. Damit haben automatisch auch die Interessen der Auftraggeber einen gewissen Einfluss auf die wissenschaftlichen Arbeiten.

 

faktuell.ch: Gekaufte Forschung?

 

Mathias Binswanger: Kein Forscher, den ich kenne, ist direkt käuflich und die wenigsten Wissenschaftler würde Ergebnisse publizieren, die den Fakten widersprechen. Nur sind die Fakten eben nicht immer klar. Durch geeignete Auswahl von Daten oder von statistischen Verfahren, können Ergebnisse beeinflusst werden. Und ein Auftraggeber möchte ja im Normalfall einen bestimmten Nutzen aus einem Forschungsprojekt ziehen. Man kann deshalb nicht erwarten, dass er längere Zeit Geld für Forschung ausgibt, deren Resultate seinen eigenen Interessen widersprechen. Das wäre eine sehr naive Annahme.

 

faktuell.ch: Seit Einführung der obligatorischen Krankenversicherung steigen die Krankenkassenprämien pro Jahr im Schnitt um 4,6 Prozent. Vermag die Ökonomie der Politik eine Handlungsbasis in Form von Szenarien zu geben, bevor sich die Prämien niemand mehr leisten kann?

 

Mathias Binswanger: So wie die Anreize im System gesetzt sind, ist es logisch, dass die Prämien von Jahr zu Jahr steigen. Wer Leistungen bezieht, bezahlt zum grössten Teil nicht selbst dafür, weil diese über die obligatorische Krankenversicherung und Steuern finanziert werden. Zudem besteht eine Informationsasymmetrie auf dem Gesundheitsmarkt: Die Anbieter von medizinischen Leistungen, Medikamenten und Therapien wissen wesentlich besser Bescheid als die Nachfrager, die Patienten. In dieser Kombination haben wir den idealen Wachstumsmarkt. Die Nachfrage lässt sich leicht über das Angebot steuern. In diesem System ist in Wirklichkeit niemand daran interessiert, dass die Kosten nicht steigen. Alle profitieren davon. Die Kosten sollen immer nur bei den andern nicht weiter steigen.

 

faktuell.ch: Das Gesundheitswesen ist gierig und expandiert, die Kosten steigen. Wiegen die neuen Jobs die Kosten auf?

 

Mathias Binswanger: Das Gesundheitswesen wird absehbar zum wichtigsten Arbeitgeber in der Schweiz. Diesen positiven Aspekt muss man auch sehen. Allerdings hat ein immer grösserer Anteil der Arbeit nicht unmittelbar mit ärztlichen oder pflegerischen Leistungen zu tun, sondern mit Administration oder Controlling. Die Fallpauschale hat beispielsweise dazu geführt, dass Spitäler Kodierer anstellen. Auch die Verwaltung und das Management sind viel komplizierter geworden. In den Spitälern muss alles aufeinander abgestimmt und die Qualitätskontrolle flächendeckend sein. Das bedingt sehr viele Arbeitsplätze, die ebenfalls einen erheblichen Teil der Gesundheitsausgaben ausmachen.

 

faktuell.ch: Mehr als anderswo wird das Publikum im Bereich des Gesundheitswesens mit Studien verunsichert, die teils nicht widersprüchlicher sein könnten – mal ist Zucker des Teufels, mal wichtige Energiequelle, usw. Wo bleibt die Seriosität der Forschung?

 

Mathias Binswanger: Man kann die Öffentlichkeit nicht permanent mit falschen Tatsachen zu überzeugen versuchen. Aber man kann steuern, in diese oder jene Richtung, Angst schüren vor gewissen Krankheiten. Das macht es leichter, entsprechende Behandlungsmethoden, Medikamente oder Therapien zu verkaufen. Und dann sind da auch gewisse Forscher, die einfach mit ihren Resultaten auffallen wollen. Und in die Medien gelangt man oft nur, wenn man übertreibt.

 

faktuell.ch: Zurück zur Politik. Die Schweiz hat ein schwerfälliges Politsystem. Bis Entscheide an der Urne gefallen sind, vergehen Jahre. Prognosen, die salopp gesprochen schon überholt sind, bevor die Tinte unter den jeweiligen Forschungsaufträgen trocken ist, passen wie die Faust aufs Auge.

 

Mathias Binswanger: Die Politik verlangt aber Prognosen. Es geht meistens darum, die Verantwortung zu delegieren, so dass ein politischer Entscheid auf eine ökonomische Prognose gestützt werden kann.

 

faktuell.ch:  Also Mutlosigkeit und Absicherung. Was ist die Alternative zur Prognose?

 

Mathias Binswanger: Die meisten Entscheide betreffen die Zukunft. Deshalb muss man auch gewisse Vorstellungen über die Zukunft haben. Es ist oft sinnvoller, mit Szenarien zu argumentieren. Ein Szenario kann einem Entscheid zugrunde gelegt werden, weil es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen wird. Wenn man so argumentiert, ist das realistischer.

 

faktuell.ch: Die Zukunftsszenarien zur Schweiz, die wir vom Bundesamt für Statistik kennen, sind lineare Fortsetzungen des Ist-Zustandes in drei Varianten – tiefe, mittlere, hohe Wahrscheinlichkeit. Reicht das? 

 

Mathias Binswanger: Eine rein lineare Fortsetzung des Ist-Zustands ist auf längere Sicht fast immer falsch. Aber den Bundesämtern fehlt meist der Mut für gewagtere Visionen, weil sie dadurch auch wieder kritisierbar werden. Das Problem in der Ökonomie liegt vor allem auch daran, dass viele der für Prognosen oder Zukunftsszenarien verwendeten Modelle falsch sind.

 

Faktuell.ch: Wie das?

 

Mathias Binswanger: Die Schweizerische Nationalbank beispielsweise arbeitet für Voraussagen über die Inflation permanent mit bestimmten Modellen, die zwar komplex aber unnütz sind. Seit 10 bis 15 Jahren wird deshalb immer vorausgesagt, dass in den nächsten 2 bis 3 Jahren die Inflation ansteigen werde. Dieser Fall ist bis jetzt aber nie eingetreten. Trotzdem arbeitet man weiter mit solchen Modellen, denn die Devise lautet: lieber ein falsches Modell, welches präzis falsche Ergebnisse liefert als eine ungefähr richtige Zukunftsprojektion, die aber nicht modellgestützt ist. Dieser Modellfetischismus ist weit verbreitet.

 

faktuell.ch:  Wenn sich Versicherungen wie bei der 2. Säule mit Prognosen in den Generationenvertrag einmischen, scheint die Interessenlage klar. Aber was bewegt Grossbanken wie UBS und CS, bei Universitätsinstituten Prognosen in Auftrag zu geben, die – wie im Fall der AHV – in der Öffentlichkeit mit Annahmen bis ins Jahr 2060 Angst auslösen?

 

Mathias Binswanger: Die Branche hat tendenziell das Gefühl, dass sich der Staat sonst zu wenig sorgfältig verhält. Aber es geht vermutlich auch um gewisse Interessen. Wenn die AHV als unsicher dargestellt wird, gewinnt die zweite und dritte Säule an Bedeutung und dort mischen die Banken, im Unterschied zur AHV kräftig mit. Die Vorsorge ist letztlich auch ein grosses Business.

 

faktuell.ch:  Die Anreize im Gesundheitssystem sind zu gross, um die Kosten zu dämmen. Dasselbe gilt im übertragenen Sinn auch für die Migration. Sie sind der Meinung, dass die Schweiz die Zustände in den Herkunftsländern nicht ändern kann, also müssten wir die Schweiz als Destination unattraktiv machen. Wie soll das konkret gehen?

 

Mathias Binswanger: Das Problem ist, dass man in der Schweiz nach wie vor von einer Fiktion ausgeht, nämlich von der Fiktion des „politischen Flüchtlings“. Den gibt es aber nur in seltenen Fällen. Zu uns kommen in erster Linie ökonomische Flüchtlinge aus absolut verständlichen Gründen. Sie sind bereit, alles zu riskieren, um ihr Land zu verlassen. Aber nicht, weil sie politisch verfolgt werden, sondern weil die wirtschaftliche Situation in ihrem Land desolat ist. Doch in der Schweiz sind sie dazu gezwungen so zu tun, als ob sie politische Flüchtlinge wären. Diese Tatsache müssten unsere Politiker endlich grundsätzlich anerkennen. Dann würde auch das Theater um die Einstufung einzelner Länder aufhören, aus denen Menschen reingelassen werden und dann plötzlich wieder nicht.

 

faktuell.ch: Sie kritisieren auch die Kommunikation der Behörden, nämlich dass vorgetäuscht werde, Flüchtlinge würden auch abgewiesen…

 

Mathias Binswanger: … wenn sie einmal hier sind, bleiben sie auch. Das ist der Anreiz: zu wissen, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben kann, auch wenn man abgewiesen wird. Sobald diese Menschen hier sind, kann man sie kaum mehr wegweisen. Es ist illusorisch Leute zurückzuschicken, die jahrelang in der Schweiz gelebt haben. Diese vorwiegend jungen Männer sind hier, dürfen aber nicht arbeiten und bekommen wenig Geld. Da ist der Weg in die Kriminalität nicht weit. Wir schaffen damit eine unglückliche Situation.

 

faktuell.ch: Besonders umstritten ist die Aufnahme von Eritreern.

 

Mathias Binswanger: Die grundsätzliche Aufnahme aller Eritreer war ein vorschneller Entscheid, ohne die Situation im Lande wirklich zu kennen. Generell sollten wir die Schweiz jedes Jahr für eine begrenzte Anzahl an Wirtschaftsflüchtlingen öffnen, ohne Eritreer zu bevorzugen. Man kann dann auch Kriterien definieren und Anreize setzen, wer kommen darf. Überlegenswert wäre auch, in den Herkunftsländern Schulen zu eröffnen und den besten Absolventen zu erlauben, sich danach in die Schweiz weiterzubilden und unter Umständen auch dort zu arbeiten. Die Prüfungen in solchen Schulen müssten allerdings von der Schweiz aus durchgeführt werden, da sonst sofort mit Korruption gerechnet werden muss. Es geht also darum, vor Ort in Ländern wie Eritrea Massnahmen zu ergreifen, was zugegebenermaßen nicht immer einfach ist. Aber man sollte zumindest einmal Versuche in diese Richtung unternehmen.

 

faktuell.ch: Forschungsinstitute beziffern die jährlichen Kosten, die eine Million Flüchtlinge in Deutschland verursachen, je nach Institut auf 15, 30 oder gar 50 Milliarden Euro. Gibt es eine annähernd glaubwürdige Kostenberechnung für die Schweiz?

 

Mathias Binswanger: Nein, nicht dass ich wüsste. Das ist aber normal. Egal, ob es sich um die Kosten von Migranten oder die vom Schwerverkehr verursachten Umweltkosten handelt. Man kann je nach Interessenlage sehr hohe oder sehr tiefe Kosten eruieren, weil es schlicht keine exakten Kriterien für die Abgrenzung gibt. Es ist immer die Frage, was man in die Kostenberechnung miteinbezieht. Sind das bei Migranten nur die unmittelbaren Kosten, die sie verursachen oder soll man weiter blicken und Annahmen treffen, wie viele von ihnen später arbeitslos bleiben, oder welche Kosten sie in Zukunft für unser Gesundheitssystem verursachen? Es ist die Frage, wo man da die Grenzen zieht. 

 

faktuell.ch:  Gut, aber eine aktuelle Vollkostenrechnung, wie es sie in anderen Bereichen auch gibt, müsste doch möglich sein. Wo klemmt’s?

 

Mathias Binswanger: Wahrscheinlich will man die Kosten so nicht ausweisen, weil sie sehr hoch sind. Es besteht wohl die Furcht, dass die Vollkostenrechnung die Stimmung in der Schweiz nicht zugunsten der Regierung beeinflussen würde.

 

faktuell.ch: Wäre es nicht ein hehrer Auftrag für Ökonomen, die Kosten für das laufende Jahr zu erheben?  

 

Mathias Binswanger: Das ist schwierig, weil man die Zahlen dazu erhalten müsste. Und die Zahlen erhält man nur, wenn dies politisch auch erwünscht ist. Sonst ist man auf Schätzungen angewiesen. Bei den Migrationskosten geht es auch um Anwaltskosten, Sozialhilfe, Kosten für medizinische Untersuchungen, Kosten für Polizeieinsätze etc.

 

 

Dr. rer.pol. Mathias Binswanger, Ökonom und Publizist, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St.Gallen. Er beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von (Finanz-) Wirtschaft und Gesellschaft, von Glück und Einkommen und dem Wettbewerb in Forschung, Bildung und Gesundheitswesen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Das Gespräch fand im Oktober 2017 statt)

 


Monika Bütler: "Teuer sind nicht die Armen. Teuer ist der Mittelstand, der sich selber finanzieren könnte und es nicht tut."

faktuell.ch im Gespräch mit Monika Bütler, Professorin für Volkswirtschaftslehre und Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen

Monika Bütler

 

faktuell.ch: Frau Prof. Bütler, Sie sprechen in einer Kolumne von einer „tickenden Anstandsbombe“, wenn von der Finanzierbarkeit des schweizerischen Sozialstaates die Rede ist. Was meinen Sie damit konkret?

 

Monika Bütler: Jedes unserer Sozialsysteme – vielleicht mit Ausnahme der Altersversicherung, in der das Alter zweifelsfrei messbar ist – ist auf einen gewissen Anstand angewiesen, sonst funktioniert es nicht. Mit der Urbanisierung und Globalisierung nehmen die Hemmungen aber ab, Leistungen zu beanspruchen. Bedenklich ist es dann, wenn Leute Leistungen beziehen, die sich selber finanzieren könnten.

 

faktuell.ch: Müsste man jene bestrafen, die Leistungen unkontrolliert abgeben?

 

Monika Bütler: Missbrauch lässt sich nie verhindern. Zudem ist ein Grossteil der Fälle in der Grauzone. Sie sehen einem Menschen nicht an, ob er wirklich nicht arbeiten kann. Empirisch belegt ist allerdings: Je höher die Leistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unberechtigte Leistungen beantragen  – und, gerade weil es oft nicht eindeutig ist. diese Leistungen auch erhalten. Das Problem nur mit Kontrollen zu lösen, ist illusorisch.

 

faktuell.ch: Verschiedene Untersuchungen kommen zum Schluss, dass in der Schweiz auf jeden Sozialhilfebeziehenden mindestens zwei Personen kommen, welche berechtigte Unterstützungsleistungen nicht beanspruchen…

 

Monika Bütler: …da muss man unterscheiden. Es gibt eine grosse Gruppe von Leuten, denen Leistungen auf dem Papier zustehen, die aber nicht wirklich bedürftig sind. Ein Student, der in St. Gallen wohnt, gilt mangels Einkommen auf dem Papier als bedürftig, ist es aber natürlich nicht. Eine zweite Gruppe von Menschen bezieht die Leistungen aus Stolz oder anderen Gründen nicht, obschon sie wenig Geld hat. Viele AHV-Bezüger haben auch das Gefühl, Ergänzungsleistungen seien nur für Leute, die wirklich gar nichts haben, und nicht für solche, die bereits eine AHV-Rente haben. Eine dritte Gruppe kennt die ihnen zustehenden Leistungen nicht.

 

faktuell.ch: Hätte man da nicht die Pflicht, diese Leute auf ihre Ansprüche aufmerksam zu machen?

 

Monika Bütler: Die letzte Gruppe ja. Aber man muss nicht gerade den Schuhlöffel hinhalten Ein gutes Beispiel für mich: Die Stadt Luzern hat Betreuungsgutscheine für Krippen eingeführt. Jetzt zeigt sich, dass plötzlich viele Leute subventionierter Betreuung nachfragen, weil sie endlich wissen, wie sie zu einem subventionierten Platz kommen. Vorher war es so, dass jene, die den subventionierten Platz am meisten brauchten, keinen hatten.

 

faktuell.ch:Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat bekräftigt, dass sie an Leistungen mit Anreizcharakter festhalten will. Warum braucht es Anreize, damit sich jemand Mühe gibt, seine Lage zu verbessern?

 

Monika Bütler: Ich finde das Anreizsystem in der Sozialhilfe eine totale Fehlkonstruktion. Der Unterschied zwischen der Sozialhilfe und einem Erwerbseinkommen müsste den Anreiz bieten zu arbeiten. Offenbar tut sie dies nicht, weil sie zu grosszügig ist – gerade für Junge. Für einen 55-jährigen Ausgesteuerten gilt dies natürlich nicht. Zusätzliche Leistungen zu einer Sozialhilfe, die ohnehin mit dem sozialen Existenzminimum viel mehr als das Existenzminimum abdeckt, halte ich für einen teuren Unsinn. Was schlussendlich als Anreiz verkauft wird, ist in den meisten Fällen ein negativer Anreiz – ein Anreiz, ein paar Stunden zu arbeiten und dann wieder aufzuhören. Solche Anreize hindern die Leute eher daran, aus der Sozialhilfe herauszukommen.

 

faktuell.ch:Die Volkswirtschaftslehre erklärt, dass Individuen mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize reagieren. Kurz: Man nimmt, was aus freien Stücken offeriert wird…

 

Monika Bütler: ...und versucht das Beste draus zu machen. Das gilt nicht nur für Sozialhilfeempfänger, sondern auch für Firmen und Steuerzahler. Es wäre im übrigen sinnvoller, Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten in der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen nicht separat abzurechnen. Die Sozialhilfebezüger sollten den gesamten Betrag erhalten, der ihnen zusteht. Dann können sie selber entscheiden, ob sie mehr für eine Wohnung bezahlen oder ihre Zähne flicken lassen wollen. Das Aufschlüsseln der Leistungen führt eher zu Überkonsum. Gerade der Mietzinswucher in Zürich ist ein gutes Beispiel. Wenn die Sozialhilfeempfänger die Wohnungsmiete von 1100 Franken aus ihren Bezügen selber bezahlen müssten, würden viele ein solches Loch für ihr Geld nicht akzeptieren. Zahlt hingegen der Staat, nimmt man es hin. Gibt man den Leuten das Geld in die Hand, kann jeder damit das Beste für sich machen. Nehmen wir zum Beispiel die Ergänzungsleistungen: Weshalb soll ein alter Mann, der bescheiden in einem ganz kleinen Zimmer wohnt, und dafür jeden Tag sein „Zweierli“ trinken geht, weniger erhalten, als jemand, der Wohn- und Gesundheitskosten ausreizt? Ich finde das nicht besonders liberal. Die Anreize gehen in die falsche Richtung.

 

faktuell.ch: Die Leistungsbezüger sollen selber mehr Verantwortung übernehmen können?

 

Monika Bütler: Genau. Natürlich gibt es Menschen, die das nicht können, ihnen soll man helfen. Die meisten würden aber lernen, einzuteilen.

 

faktuell.ch: Mancherorts verspricht man sich viel vom Einsatz von Sozialinspektoren als Kontrolleure der Anspruchsberechtigung. Was halten Sie davon?

 

Monika Bütler: Ohne Kontrolle geht es nicht. Man kann auf zwei Arten dafür sorgen, dass die Leute sich an die Regeln halten: Entweder man kontrolliert oder man kontrolliert etwas weniger und wer erwischt wird, wird bestraft. Diesen Zielkonflikt gibt es überall, nicht nur in der Sozialhilfe, sondern auch bei den Steuern. Der Anstand der Leistungsbezüger und die Moral der Steuerzahler bilden ein Gleichgewicht, das die Schweiz so lange ausgezeichnet hat. Sinkt der Anstand, leidet die Steuermoral und der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar.

 

faktuell.ch: Auch zehn Jahre nach Einführung der Leistungen mit Anreizcharakter in der Sozialhilfe vermag die SKOS gemäss einer von ihr veranlassten Untersuchung keine „nachhaltige Wirkung“ nachzuweisen.

 

Monika Bütler: Das überrascht niemanden. Bei diesen offensichtlich falschen Anreizen brauche ich keine Studie.

 

faktuell.ch: Zum ersten Mal hat sich die SKOS entschlossen, in ihren Richtlinien Leistungskürzungen zu empfehlen – bisher wurden die Leistungen stets ausgebaut, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration zu fördern. Ab 2016 erhalten Junge und Grossfamilien ab sechs Personen von der Sozialhilfe weniger.

 

Monika Bütler: Die Sozialhilfe ist für mich für Junge immer noch zu hoch. Und sie ist in dieser Form weiterhin ein Hindernis für junge Leute, eine Lehre zu machen. Auch für Familien ist die Sozialhilfe zu hoch. Ich sehe selbst in meinem Bekanntenkreis, dass einige Familien nach den Steuern nicht mehr Geld zur Verfügung haben als eine Sozialhilfefamilie. Da stimmt etwas nicht.

 

faktuell.ch: Darf sich die Sozialhilfe in die Familienplanung einer Grossfamilie einmischen?

 

Monika Bütler: Furchtbar! Das wiederspricht völlig meiner liberalen Ansicht …

 

faktuell.ch: ... auch wenn sie es im Wissen tun, dass sie mit ihrem Verhalten der Allgemeinheit zur Last fallen?

 

Monika Bütler: Die Leute zu bevormunden – das funktioniert einfach nicht. Ich bin eher der Meinung, man sollte die Leistungen knapper ansetzen. Und man könnte auch den Müttern zutrauen zu arbeiten wenn es die Väter nicht tun.  

 

faktuell.ch: Thema Ausländerintegration: Bereits vor dem neuen, grossen Flüchtlingsstrom hat sich gezeigt, dass Arbeitsbeschaffung und Integration der Flüchtlinge ausserordentlich schwierig zu bewerkstelligen sind. Selbst 10 Jahre nach der Einwanderung sind um die 40 Prozent vollständig von der Sozialhilfe abhängig. Sind die Leistungen zu grosszügig?

 

Monika Bütler: Sie sind wirklich zu hoch – ausser für ältere Leute, die den Einstieg nicht mehr schaffen, da sind sie eher zu knapp. Das Problem mit den unqualifizierten Migranten ist, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nie so viel verdienen, um sich ein Leben wie in der Sozialhilfe leisten zu können. Bei Jungen und bei Familien kann man kürzen.

 

faktuell.ch: Die Krankenkasse ist in der Schweiz obligatorisch. 40 Prozent können sie nicht bezahlen und erhalten dafür Prämienverbilligungen. Weshalb können die Gesundheitskosten nicht einfach über die Steuern laufen?

 

Monika Bütler: Trotz aller Kosten ist die obligatorische Krankenkasse  mit Kopfprämie und Subventionen für Geringverdiener letztlich ein Erfolgsmodell. Werden die Gesundheitskosten über die Steuern bezahlt, dann sinkt auch der Druck zu Reformen, weil es für die einzelnen gar nicht mehr ehrsichtlich ist, wie teuer das Gesundheitssystem ist.

 

faktuell.ch: 2,2 Millionen von 8 Millionen Menschen in diesem Land leiden unter psychischen Krankheiten, heisst es im jüngst unbeachtet publizierten Nationalen Gesundheitsbericht. Woran liegt es, dass in einem reichen, vom Wohlstand begünstigten Land wie der Schweiz jeder vierte psychisch angeknackst ist?

 

Monika Bütler: Es gibt heute mehr Diagnosen. Das ist nicht nur schlecht, weil man so gewisse Krankheiten frühzeitig erfassen und behandeln kann. Schizophrenie ist ein sehr gutes Beispiel, weil die Betroffenen heute viel eher beruflich und sozial voll integriert sind. Wenn ein Kind ADHS hat, sind eine frühe Diagnose und damit eine rechtzeitige Therapie sinnvoll. Damit wird dem Kind ein möglichst normales Leben ermöglicht. Aber mehr Diagnosen heisst auch, dass Leute, die vorher ganz zufrieden waren, plötzlich eine Diagnose kriegen. Das ist heikler. Es ist ein Wohlstandsphänomen. Je mehr Wissen und Mittel vorhanden sind, desto mehr wird diagnostiziert. Das ist auch bei körperlichen Krankheiten so. Neurodermitis, Allergien…. alles hat zugenommen.

 

faktuell.ch: 1,4 Mio. Menschen in der Schweiz sind über 65-jährig. Die 800‘000 Babyboomer kommen seit 10 Jahren ins Pensionsalter. Diese sogenannte. Generation Gold, die sich fitter als frühere Generationen fühlt und oft Jugend- und Gesundheitswahn vereint, wird absehbar auch einmal pflegebedürftig. Damit steigen die Gesundheitskosten – eine Studie der Uni St. Gallen rechnet mit 4 Milliarden Franken Zusatzbelastung für die Krankenkassen bis 2030. Was sind die Konsequenzen?

 

Monika Bütler: Das wird uns ziemlich viel kosten. Die Ergänzungsleistungen (EL) sind heute die implizite Pflegeversicherung. Das ist bei niedrigen Einkommen sinnvoll. Die hohen Einkommen zahlen ohnehin selber. Für den ganzen Mittelstand – sicher die Hälfte der Bevölkerung – generiert die Finanzierung über EL falsche Anreize. Erstens kauft niemand eine Pflegeversicherung. Das würde ich wohl auch nicht tun: Jeder Franken aus der Versicherung reduziert die Leistungen aus der EL um einen Franken. Die Versicherung lohnt sich einfach nicht. Und zweitens besteht ein Anreiz, möglichst wenig Vermögen zu haben und möglichst alles Geld auszugeben, damit man möglichst wenig zahlen muss, wenn die finanzielle Notlage eintritt. Teuer sind nicht die Armen. Sie müssen wir immer unterstützen. Teuer ist der Mittelstand, der sich eigentlich selber finanzieren könnte und es nicht tut.

 

faktuell.ch: Also weg mit dem ganzen Anreizsystem?

 

Monika Bütler: Ganz weg davon kommt man nicht. Eine Idee wäre, dass vom Kapital in der zweiten Säule ein Anteil zur Seite gelegt wird für die Pflege. Das bedeutet zwar weniger Rente oder Kapital. Aber es ist ein relativ einfacher Weg, eine Pflegeversicherung einzuführen. Wer 600‘000 Franken Kapital hat bei der Pensionierung, muss beispielsweise 200‘000 davon für eine Pflegeversicherung zur Seite gelegt haben.

 

faktuell.ch: Wie grosszügig ist unser Sozialstaat im internationalen Vergleich?

 

Monika Bütler: Extrem grosszügig! Er ist nur finanzierbar, weil wir erstens einen sehr guten Arbeitsmarkt haben, der so flexibel ist, dass fast alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten können. Der zweite Grund ist, dass die Menschen in der Schweiz immer noch ein Arbeitsethos haben. Allerdings: Wenn die Sozialleistungen zu grosszügig sind, darf man sich nicht wundern, wenn die Arbeitstätigen mehr und mehr frustriert sind, weil ihnen immer weniger bleibt.

 

faktuell.ch: Letzte Frage. Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie an die Zukunft der sozialen Sicherheit in der Schweiz denken?

 

 

Monika Bütler: Wir müssen die Absicherung des Sozialstaates vom traditionellen Familienmodell lösen und an die Vielfalt der Familienmuster anpassen. Persönlich finde ich wichtig, dass wir die Jungen nicht vergessen. Das heisst in erster Linie: Nicht die „Kreditkarte“ der Jungen belasten, sie nicht bezahlen lassen für allzu grosszügige Leistungen. Was man oft vergisst: Die Alten sind nicht so homogen wie es den Anschein macht. Die über 80-jährigen haben selber noch nicht viel gehabt und meist neben den eigenen Kindern noch die Eltern unterstützt. Aber die Babyboom-Neurentner mit zusätzlichen 70 Franken AHV zu alimentieren, ist absurd. Hier geht es um eine Generation, die alles hatte. Die meisten hätten genug sparen können, um sich selber zu finanzieren.

Und jetzt hat man plötzlich das Gefühl, man müsse ihnen –zu denen ich selber gehöre – den Übergang in den dritten Lebensabschnitt noch versüssen…

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann (das faktuell.ch-Gespräch mit Prof. Monika Bütler fand im Oktober 2015 statt)


Urban Laffer: „In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines.“

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Urban Laffer, Doyen der Schweizer Chirurgen, über die Kostentreiber im Gesundheitssystem (vom Mai 2015)

 faktuell.ch: Herr Prof. Laffer, vom Krankenversicherungsgesetz (KVG) hatte man sich bei der Einführung 1996 kostendämpfende Wirkung versprochen. Wo ist sie geblieben?

 

Urban Laffer: Wer vor 20 Jahren fürs KVG stimmte, wusste nicht, worauf er sich einliess. Die Leute sind mit tieferen Prämien gelockt worden; diese sind aber nicht gesunken. Das hängt allerdings nicht mit dem KVG zusammen, sondern mit der Entwicklung der Medizin, welche die heutigen Behandlungen teurer macht.

 

faktuell.ch: 1996 kamen etwas mehr als 20 Prozent der Versicherten in den Genuss von Prämienverbilligungen durch Steuermittel, heute sind es, je nach Kanton, 30 und mehr Prozent. Ist ein System, das sich nur mit Steuermitteln behaupten kann, ein gutes System?

 

Urban Laffer: Die Prämien sind in der Tat massiv gestiegen und nicht proportional zur Einkommensentwicklung. Insofern ist die Vergünstigung für viele sicher sinnvoll und schlicht auch nötig.

 

faktuell.ch: Wie viel Solidarität jener, die die vollen Prämien bezahlen müssen, ist zumutbar? Wäre es nicht gerechter, die obligatorische Grundversicherung gleich für alle über die Steuern zu finanzieren?

 

Urban Laffer: Im Endeffekt wäre es wieder dasselbe. Wer gut verdient, bezahlt für die anderen. Mich stört nur ein Punkt. Ich habe in meiner Tätigkeit viele Leute kennengelernt, die arbeiten und Steuern bezahlen könnten, dies aus Bequemlichkeit aber einfach nicht tun.

 

faktuell.ch: Was halten Sie vom Vorschlag der Santésuisse, die Minimalfranchise von 300 auf 500 Franken anzuheben, um die Eigenverantwortung zu erhöhen?

 

Urban Laffer: Einen gewissen Effekt hätte die Erhöhung schon. Heute geht man viel schneller zum Arzt als früher. Und der Arzt muss sich jedem annehmen, auch wenn er nur Zeit blockiert, die er für echte Patienten brauchen könnte.

 

faktuell.ch: Wer nur allgemein und erst noch mit Höchstfranchisse von 2500 Franken versichert ist, fährt besser als Zusatzversicherter (halbprivat, privat), wenn er einmal ins Spital muss. Denn mit den eingesparten Prämien kann er sich locker den Komfort eines Einzelzimmers leisten.

 

Urban Laffer: Wenn ein Flugzeug abstürzt, geht es in der ersten und in der Holzklasse allen gleich. Der Pilot kann für die Passagiere erster Klasse nicht besser aufpassen. So ist es auch in der Medizin, mit oder ohne Einzelzimmer. In der Tat ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand jedes Jahr zum Arzt muss, bis etwa 50 gering. Bis dahin kann man sich schon einen gewissen Stock für Spitalkomfort anlegen.

 

faktuell.ch: Bleiben die beiden Vorteile der Zusatzversicherten, den Arzt und das Spital frei wählen zu können.

 

Urban Laffer: Die öffentlichen Spitäler sind Weiterbildungskliniken. Wir bilden den Nachwuchs aus. So gesehen sind das – gerade in der Chirurgie – Lehrlinge. Als Allgemein-Patient nehmen sie in Kauf, dass sie ein Lehrling operiert. Das macht vielen Menschen Angst. Sie kommen ins Spital und es operiert sie irgendwer...

 

faktuell.ch: … der Patient als Versuchskaninchen…

 

Urban Laffer: Neinnein. Wenn ich bei einer Ausbildungsoperation assistierte, passte ich viel besser auf, als wenn ich selber operierte und mir meine grosse Erfahrung zustatten kam.

 

faktuell.ch: Gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwischen öffentlichen und privaten Spitälern?

 

Urban Laffer: Es ist kein eigentlicher Konkurrenzkampf. Die Behandlung im Privatspital ist für die Versicherung teurer. Auch die Honorare der Belegärzte sind höher, weil sie einen Praxisstillstand geltend machen können, was ihnen ausgeglichen wird.

 

faktuell.ch: Kein Kampf um gut betuchte Patienten nach Massgabe von: Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen?

 

Urban Laffer: Das öffentliche Spital muss alle nehmen. Darunter leiden sie zum Teil. In der Cafeteria des öffentlichen Spitals sehen sie die sozialen Probleme einer Gesellschaft. Im privaten Spital haben sie das nicht. Sie können ihre Patienten wählen und andere an die öffentlichen Spitäler verweisen.

 

faktuell.ch: Die Gesundheitskosten in der Schweiz belaufen sich auf rund 70 Milliarden Franken im Jahr, Tendenz steigend. Als besonderer Kostentreiber erweisen sich die Spitäler: von 2011 auf 2012 sind zum Beispiel allein die Spitalausgaben um 2,3 Milliarden oder 9,8 Prozent auf fast 20 Milliarden gestiegen, was rund 2500 Franken pro Einwohner entspricht. Was sind die wichtigsten Gründe dieser Kostenexplosion?

 

Urban Laffer: Allein die Lebenserwartung ist in den letzten 50 Jahren im Durchschnitt um 20 Jahre gestiegen. Dieser Fortschritt hängt mit besseren Medikamenten zusammen, mit generell besserer Gesundheitsversorgung und der Behandlung der Krankheiten. Wenn ich nur die riesigen Fortschritte betrachte, die die Chirurgie in den letzten 20 Jahren gemacht hat…

 

faktuell.ch: ...bis hin zur heutigen Schlüsselloch-Chirurgie…

 

Urban Laffer: …nicht allein wegen der Technik, sondern auch, weil wir daraus viel über die Physiologie gelernt haben, was wir bei andern Operationen anwenden können. Als ich vor 40 Jahren Assistent beim Kantonsspital Basel war, erhielt ein Gallenblasen-Patient mindestens fünf Tage nichts zu essen und musste sicher fünf weitere Tage im Spital bleiben. Heute erhält er nach dem Aufwachen sofort etwas zu essen und ist nach drei bis fünf Tagen wieder zuhause. Als ich vor Jahren meine Arbeit in Biel aufnahm, lag ein Patient im Durchschnitt 13 Tage im Spital, heute sind wir bei 5,5 Tagen.

 

faktuell.ch: Dafür liegt der Patient jetzt länger in der Rehab-Klinik und bezahlt die Sozialindustrie mit Hotelbetrieb statt das Spital.

 

Urban Laffer: Das ist etwas anderes. Früher war der Familienzusammenhalt besser. Der Patient, der nach Hause kam, konnte auf die Pflege in der Familie zählen. Heute muss man für sehr viele – vor allem ältere Patienten – Aufenthaltsorte suchen, weil man weiss, dass sie, auf sich allein gestellt, sich in ihrer Wohnung nicht versorgen können, und sei es nur, dass jemand für sie kochen würde. Das macht das Gesundheitswesen natürlich auch teurer.

 

faktuell.ch: Seit 2012 gilt schweizweit eine neue Spitalfinanzierung: Pauschalfinanzierung dank einheitlicher Zuordnung der Fälle in nach Schweregrad gewichteten Diagnosegruppen („DRG“), multipliziert mit dem verhandelten Preis, der Base Rate.. Im Zeichen von Effizienzsteigerung sollten die Spitäler ihre Leistungen steuern. Wie muss man sich diese Steuerung vorstellen?

 

Urban Laffer: Je grösser eine Operation ist, je mehr Krankheiten der Patient sonst noch hat, desto mehr steigt die Fallschwere bzw. pro Patientengruppe der Case Mix Index  (CMI), bis um das mehrfache der Fallpauschale. Umgekehrt das andere Extrem: Ein Kind, das ja im Prinzip gesund ist, hat beispielsweise bei einem Leistenbruch einen Cost Weight  von etwa 0,3. Das heisst, es steht nur ein Drittel der Fallpauschale zur Verfügung. So wird gesteuert.

 

faktuell.ch: Entscheidend für den Wettbewerb sind aber die schweizweit einheitlichen Fallpauschalen. Sie, Herr Laffer, waren schon bei der Einführung skeptisch, ob die Kantone diese Änderung mittragen würden. War ihre Skepsis berechtigt?

 

Urban Laffer: Grundlage eines fairen Wettbewerbs wäre die freie Spitalwahl. Es ist aber vor der Einführung der neuen Spitalfinanzierung verpasst worden, für alle Spitäler die gleiche Ausgangslage zu schaffen.

 

faktuell.ch: Inwiefern?

 

Urban Laffer: Im Prinzip sollte ein Spital heute nur haben, was es aus der Fallpauschale einnimmt – 45 Prozent zahlen die Versicherungen, 55 Prozent der Kanton. Darüber hinaus sollte der Kanton seine Spitäler eigentlich nicht mehr subventionieren dürfen. Aber das wird hintergangen. Unterschiedliche Fallpauschalen, wobei die Patienten die Differenz selber berappen müssen und nicht ihr Kanton, sind nur das eine; Kantone, die ihre Spitäler mit Steuergeldern „aufrüsten“, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben, das andere. Also kann man die freie Spitalwahl schon wieder vergessen.

 

faktuell.ch: Worin besteht denn der Wettbewerb, wenn die Kosten in allen Spitäler gleich hoch sind – nur in der Reputation?

 

Urban Laffer: Genau. Wir haben in der Schweiz 140 Akutspitäler. 40 würden ausreichen. In den USA, wo ich zwei Jahre gearbeitet habe, nehmen die Patienten Anfahrtswege von einem halben oder einem ganzen Tag auf sich. In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals aus nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines. Mit Schliessungen könnte man aber effektiv Kosten sparen.

 

faktuell.ch: Unser hochstehendes Gesundheitssystem zieht betuchte Patienten aus dem Ausland an. Subventionieren wir mit unseren Steuern und Krankenkassenprämien wohlhabende Ausländer?

 

Urban Laffer: Nein. Sie bezahlen die vollen Kosten. Und ihr Ansatz ist so hoch, weil sie sich das auch leisten können. Ein Spital, das sich das entsprechende Renommee aufgebaut hat, muss das auch tun, weil es da um zusätzliche Einnahmen geht.

 

faktuell.ch: Stichwort: Ökonomie. Passen ökonomische Effizienzüberlegungen überhaupt zum Gesundheitsbetrieb, zum Beruf des Arztes, der doch alles in seiner Macht stehende tun sollte, um dem Patienten zu helfen?

 

Urban Laffer: Heute ist der Arzt zu ökonomischen Überlegungen aufgefordert, weil alles, was er macht, unter die Fallpauschale fällt. Also muss er überlegen, ob eine bestimmte Untersuchung wirklich sinnvoll ist. Oder soll er den Patienten nach Hause entlassen und ihm empfehlen, die Untersuchung beim Hausarzt zu machen, was der Kasse wieder verrechnet werden kann.

 

faktuell.ch: Mit andern Worten: Nichts unversucht zu lassen, ist zu teuer; etwas zu unterlassen aber für den Patienten gefährlich – und für den verantwortlichen Arzt unter Umständen teuer?

 

Urban Laffer: Falsch. Ich komme auf die KVG-Abstimmung von 1996 zurück. Der Bevölkerung hat damals kein Mensch erzählt, was mit einer Annahme des neuen KVG auf die Gesunden zukommen würde…

 

faktuell.ch: ...auf die Gesunden?

 

Urban Laffer: Ja, dass sie mit dem ökonomischen Denken in der Medizin Abstriche auf sich nehmen müssen. Dass man beispielsweise einen Arzt nicht mehr einklagen kann, wenn er etwas nicht untersucht. Oder wenn ein Patient noch drei Tage länger im Spital bleiben wollte, weil zuhause sein Badezimmer renoviert wurde, hat man das selbstverständlich erlaubt. Heute geht das nicht mehr. Das sind Dinge, die der Bevölkerung nicht bewusst waren, als sie dem neuen KVG zugestimmt hat.

 

faktuell.ch: Eine OECD-Studie, die die Häufigkeit von 5 Operationen untersucht hat, stellte fest, dass die Schweiz bei den meisten Operationen zur Gruppe der Länder mit einer hohen Rate gehört. Wir bei uns zu viel operiert?

 

Urban Laffer: Zum Teil, ja.

 

faktuell.ch: Erklärt das die gewaltige Zunahme gewisser Operationen – beispielsweise der Knieprothesen-Operationen, die sich innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt haben?

 

Urban Laffer: Die Knieprothese gibt es noch nicht so lange, und sie hatte am Anfang noch ihre „Kinderkrankheiten“. Heute weiss man, dass es gut herauskommt, dass auch computerassistiert navigiert wird, damit die Flächen richtig stimmen. Das erklärt einen Teil der Zunahme. Der andere hat damit zu tun, dass die Menschen älter werden…

 

faktuell.ch: ...dank der medizinischen Fortschritte…

 

Urban Laffer: … und dank den Ansprüchen der Patienten, die sich verändert haben. Ich wuchs in einem Dorf auf. Da sah ich viele Bauern unter Schmerzen aufs Feld humpeln. Als ich schon Arzt war, riet ich ihnen, die Hüfte untersuchen zu lassen. Aber sie meinten, das gehe ganz gut so, wie es sei. Heute sind wir weniger bereit, mit Schmerzen zu leben. Lebensqualität geht vor.

 

fakutell.ch: In der Schweiz kommen auf 8 Millionen Einwohner 900 Orthopäden, in den Niederlanden auf 17 Millionen nur 650. Ist das der Grund, dass bei uns häufiger zum Skalpell gegriffen wird, wie Bernhard Christen sagte, der frühere Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie?

 

Urban Laffer: Das hat schon einen Einfluss. Es geht immer auch ums Überleben.

 

faktuell.ch: Wäre für Sie eine Altersbeschränkung für Operationen vertretbar, wie sie beispielsweise in Grossbritannien diskutiert wird?

 

Urban Laffer: Nein. Ich hoffe sehr, dass wir in der Schweiz nie so weit kommen, dass wir Altersbeschränkungen für medizinische Behandlungen einführen. Bevor wir rationieren, gibt es noch viel zu rationalisieren.

 

faktuell.ch: Klingt nach weniger Komfort?

 

Urban Laffer: Wir sollten uns bewusst sein, wie hochstehend unser Gesundheitswesen ist. Täglich wird geputzt, die Bettwäsche gewechselt, es gibt drei Menus zur Auswahl etc. Da gibt es noch sehr viel Luxus. In Italien bringen die Angehörigen das Mittagessen ins Spital. Komfort hat einen Preis. Wenn gespart werden muss, sollten wir uns in Ruhe überlegen, was sinnvoll ist und was nicht. Mir ist wichtig, dass die Bevölkerung weiss, wie die Konsequenzen von Sparmassnahmen aussehen, und dass man nicht einfach die Leistungserbringer zum Sparen auffordert.

 

faktuell.ch: Vielleicht ist der Leistungskatalog der Krankenkassen zu breit?

 

Urban Laffer: Das beschäftigt mich schon lange. Aber es ist fast nicht möglich, etwas zu ändern. Heute gibt es Bestimmungen, welche Leistungen nicht bezahlt werden. Aber eine Richtlinie oder Verfügung, welche Leistungen bezahlt werden, gibt es nicht. Wir haben eine Negativliste, aber es fehlt eine Positivliste.

 

faktuell.ch: Gehört die Schönheitschirurgie in den Leistungskatalog?

 

Urban Laffer: Nein, nur die Wiederherstellungschirurgie wie Brustimplantate nach Krebsoperationen oder schlecht verheilte Narben nach Verbrennungen.

 

faktuell.ch: Ein Arzt, der reine Schönheitschirurgie macht, ist eigentlich ein Restaurateur. Die mittlerweile zu einiger Prominenz aufgestiegene Daniela Katzenberger bezeichnet sich als lebendes Ersatzteillager. Wo hört der Spass auf?

 

Urban Laffer: Die Person, die so etwas macht, fällt einen persönlichen Entscheid, der die Allgemeinheit nicht belastet. Problematisch, aber kaum anders zu lösen,  ist allerdings, dass die Versicherungen die Komplikationen solcher Eingriffe zahlen müssen, weil sie unter Krankheit laufen.

 

faktuell.ch: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) spielt im schweizerischen Gesundheitssystem eine Schlüsselrolle. Brauchen wir überhaupt einen gesundheitspolitischen Vormund, wie es das BAG für viele darstellt?

 

Urban Laffer: Wir nähern uns in der Gesundheitspolitik tatsächlich einer Planwirtschaft, statt dass wir den Wettbewerb spielen lassen und gewisse Entscheidungen noch selber treffen können. Das BAG mischt sich immer öfter in die Gesundheitsbehandlung ein, die nicht seine Aufgabe ist. Beispielsweise kann es die Qualitätssicherung, für die sich das Amt jetzt stark machen will, ruhig den medizinischen Fachgesellschaften überlassen.

 

faktuell.ch: Befürchten Sie den manchmal fast missionarisch anmutenden Eifer der Gesundheitsbeamten?

 

Urban Laffer: Nein. Prävention kann ich akzeptieren, solange es bei Empfehlungen bleibt. Sie können als Bürger mitmachen oder nicht. All diese Kampagnen im Namen der Volksgesundheit bewirken, dass die Bevölkerung noch älter wird, die Behandlungen noch teurer werden, und dass wir immer mehr Posthospitalisations-Institutionen brauchen, mehr Pflegeheime – das ist der Effekt.

 

faktuell.ch: Wer ist im Seilziehen der wechselnden Interessen zwischen Patienten, Ärzten, Pharmaindustrie, Krankenkassen und Staat, also BAG, Kostentreiber?

 

Urban Laffer: Das sind alle. Unsere Politiker sind sich dessen aber nicht immer bewusst. Ein Beispiel: Die Übernahme von EU-Normen nach dem Rinderwahnsinn hat das Spital Biel 3,5 Millionen gekostet. Früher hatte man ein Instrumentarium, das nach Gebrauch gewaschen, dann sterilisiert und dann wieder gebraucht wurde. Seit dem Rinderwahn ist das nicht mehr ausreichend. Dabei gibt es eine Statistik, die zeigt, dass in England mehr Lastwagenchauffeure beim Abtransport von getöteten Rindern starben, als Patienten an Rinderwahnsinn.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

 

(Das faktuell.ch-Gespräch mit Prof. Urban Laffer hat im Mai 2015 stattgefunden.)

 

 


Urban Laffer,

Professor für Chirurgie, war von 1995 bis Ende April 2015 Chefarzt der Chirurgischen Klinik am Spitalzentrum Biel. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrere Standesorganisationen präsidiert, so die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie (2002-2004) und den Verband der chirurgisch und invasiv tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz (seit 2004)


Heinz Locher: «Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh.»

faktuell.ch im Gespräch mit Heinz Locher, Gesundheitsökonom, Unternehmensberater, Publizist und Dozent

 

Heinz Locher

 

faktuell.ch: Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 haben sich die Prämien verdoppelt. Trotz des politischen Versprechens von damals, alles werde billiger. Kostentreiber sind alle Mitspieler im Gesundheitswesen: Ankurbler Wissenschaft / Pharmaindustrie, umsatzinteressierte Krankenkassen, Spitäler und Ärzte, anspruchsvolle Versicherte und eine Politik, die die Exzesse nicht kontrollieren kann. Beginnen wir mit der Wissenschaft. Wie kann man sie bremsen, laufend neue Krankheiten zu finden, Herr Locher?

 

Heinz Locher: Die muss man nicht bremsen. Die Wissenschaft hat ihre eigene Gesetzmässigkeit. Der Wissenschafter muss tun, was es braucht, um in den Peer Review- Zeitschriften publizieren zu können. Peer Review (Gutachten von Gleichrangigen zwecks Qualitätssicherung) erzeugt einen Konformitätsdruck. Ganz originelle Typen haben keine Chance, den Gutachtern zu genügen. Wissenschafter befassen sich mit hoch aktuellen Themen, von denen sie sich eine gewisse Resonanz versprechen. Für gute Resonanz gibt es Forschungsgelder und mit der Forschung den Vorsitz in Beiräten oder die Rolle als Mitherausgeber von wissenschaftliche Publikationen. Diese Gesetzmässigkeit orientiert sich nicht unbedingt nach den Bedürfnissen der Bevölkerung. Das ist ein Problem. Wenn sich ein Wissenschafter diesem Druck entziehen will, muss er es sich finanziell leisten können und bereits ein sehr hohes Prestige haben. Da haben wir eine gewisse Tragik.

 

faktuell.ch: Eine weitere Preis-Ankurblerin ist die Pharmaindustrie.

 

Heinz Locher: Die Pharmaindustrie ist dazu verdammt, ihren Aktionären zu gefallen. Ob die Pharmapreise zu hoch sind, kann man nicht den Pharmapreisen ablesen, sondern am exorbitanten Wert der Firmen bei Fusionen oder Verkäufen. Für mich heisst das: Mehr öffentliche Mittel in die Forschung investieren. Wir, die Bevölkerung, müssen bereit sein, das Geld via Steuern statt via Prämien zu bezahlen. Das wäre für mich ein Korrekturfaktor. Das ist nicht sehr populär, aber entweder wollen wir ein Ergebnis erzielen oder Ideologien folgen.

 

faktuell.ch: Ist nicht endlich eine ethische Diskussion darüber nötig, bis in welches Alter teure Operationen und Medikamente für jedermann sinnvoll sind?

 

Heinz Locher: Das ist eine Frage des Gesichtspunkts. Ist es aus Patientensicht sinnvoll, einer 93jährigen Frau Chemotherapie zu geben, wenn die Lebensverlängerung darin besteht, drei Monate länger an Schläuchen zu hängen. Das ist nicht sinnvoll. Einverstanden. Aber aus Kostensicht muss ich sagen, eine Rationierung brauchen wir wirklich nicht.

 

faktuell.ch: Lebensverlängerung ist das eine. Wie sieht es aus, wenn bei einer schwangeren Frau festgestellt wird, dass der Embryo schwer geschädigt ist, im Leben nur vegetieren und die Gesellschaft viel Geld kosten wird?

 

Heinz Locher: Das soll die Frau entscheiden. Wir verschwenden in der Schweiz derart viel Geld für Unnötiges, da liegt das drin. Von dieser Diskussion sind wir bei unseren jetzigen Gesellschaftsverhältnissen noch weit, weit entfernt.

 

faktuell.ch: Krankenkassen sind gewinnorientiert. Sie möchten möglichst wenig kranke Versicherte und möglichst hohe Prämien.

 

Heinz Locher: Die Krankenkassen sind die grössten Versager im System. Sie machen ihren Job nicht. Krankenkassen interessieren sich – zugegebenermassen etwas zugespitzt und verkürzt gesagt - für die Risikoselektion von Versicherten, für die Optimierung der Maklergebühren, für den Bonus des CEO. Eigentlich sollten sie Treuhänder der Versicherten sein und Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitssystems in deren Sinne tragen aber das kann man vergessen. Sie wären wichtig als Korrektiv zu den anderen Kräften, die auch eine Legitimation haben (Kantone, Leistungserbringer). Aber diese Rolle wollen und können sie nicht wahrnehmen. Totaler Ausfall. Damit fehlt ein Player. Es ist wie ein Parallelogramm, bei dem ein Vektor ausfällt. Dann gibt es Verzerrungen.

 

faktuell.ch: Inwiefern versagen denn Spitäler und Ärzte, die betriebswirtschaftlich denken, ihre Maschinen amortisieren und möglichst viele Operationen durchführen müssen?

 

Heinz Locher: Als Unternehmensberater sehe ich, unter welchem Druck sie stehen: «survival of the fittest», also purer Darwinismus. Dem kann sich keiner entziehen und wird davon angetrieben. Ich sehe die Lösung darin, dass die Regulatoren, also Bund und Kantone, durch eine intelligente Regulierung strukturell Voraussetzungen schaffen für anständige Qualität. Die beginnt nicht beim Ergebnis, sondern beim Festlegen von Auflagen, wer wie qualifiziert sein muss, Mindestmengen – also Qualität schon am Anfang.  

 

faktuell.ch: Damit geht es auch in Richtung integriertes Gesundheitswesen, bei dem zu Medizin und Pflege auch soziale, juristische und finanzielle Beratung und Unterstützung kommen?

 

Heinz Locher: Ja, die integrierte Betreuung müsste hinzukommen. Unser Gesundheitswesen ist immer noch auf eine junge Bevölkerung ausgerichtet. Man hat eine Krankheit, einen Unfall und wird geheilt. Erledigt. Bei einer Bevölkerung mit multimorbiden (an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidenden), chronisch Kranken ist das Ziel nicht heilen, sondern erhalten der Lebensqualität. Wir haben Akutspitaler, Ärzte, Spitex, Pflegeheime. Alle leben nebeneinander her, alle haben ein anderes Finanzierungssystem. Also gibt es keine integrierte Versorgung. Und wer koordiniert, wird dafür nicht bezahlt. Die grosse Veränderung muss da stattfinden.

 

faktuell.ch: Und wie soll die zustande kommen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen grosse Wellen: ein neues Gesundheitsverständnis, eine neue Erwartungshaltung, aber nicht im Sinn von Verzicht, sondern von einer Neustrukturierung des Versorgungssystems. Es muss der Zusammensetzung der Bevölkerung gerecht werden, also auf multimorbide, chronisch Kranke ausgerichtet sein.

 

faktuell.ch: Braucht es eine der – oft umstrittenen – Aufklärungskampagnen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG)?

 

Heinz Locher: Nein, das bringt nichts. Aufklärung, Prävention kann das BAG punktuell machen. Bei HIV beispielsweise war das sinnvoll. Aufklärung ist gut, aber nicht nur Aufgabe der Behörden. Primär muss die Bewegung von unten kommen, «grass root». Es ist in der Schweiz fast revolutionär, wenn man fragt, was denn gut wäre für die Versicherten. Da käme man weit weg von den gängigen Themen in der Gesundheitspolitik.

 

faktuell.ch: Wie am besten vorgehen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen jemanden, der die Interessen der Bevölkerung vertritt. Die Patientenstellen sind zu schwach und haben auch kein Geld. Vielleicht ist die Zeit reif für das Projekt «TCS für Versicherte und Patienten»

 

faktuell.ch: Stellen wir doch noch die politische Verantwortungsfrage: Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 verzeichnen wir vier Vorsteher des Eidg. Departements des Innern: Dreyfuss, Couchepin, Burkhalter und Berset. Weshalb ist es der Gesundheitsministerin Dreyfuss und den drei Gesundheitsministern nicht gelungen, die Kostenexplosion zu stoppen? Sind sie schlecht beraten oder ist das System zu träge?

 

Heinz Locher: Das System ist nicht zu träge. Es geht einfach allen immer noch zu gut.

 

faktuell.ch: Es geht uns zu gut?

 

Heinz Locher: Ja, allen. Jetzt gibt es allerdings erste Erosionserscheinungen. Die schwarze Liste. Oder Leute, die eine Franchise von 2500 Franken wählen und nicht zum Arzt gehen können. 10% der Bevölkerung können die Franchise nicht bezahlen. Das sind Zerfallserscheinungen. Uns bleibt immerhin noch eine Chance. Ich war starker Befürworter des Krankenkassen-Obligatoriums. Krankheit sollte nicht ein Verarmungsgrund sein. 

 

faktuell.ch: Das Problem wird gelöst mit Prämienverbilligungen…

 

Heinz Locher: …oder eben nicht mehr. Ich bin der Meinung, dass man die Belastung der Haushalte deckeln muss, bei etwa 10% des Haushaltbudgets. Alles andere geht zu Lasten der Steuerzahler. Die Steuern sind – im Unterschied zu den Prämien – progressiv. Man muss dafür sorgen, dass das Ventil, nämlich höhere Prämien, gestopft wird, dann gibt es höhere öffentliche Ausgaben. Das ist vordergründig eine blosse Verlagerung der Finanzierung. Hintergründig aber nicht. Denn einer, der sich nicht wehren kann, wird ersetzt durch einen, der sich wehren kann, nämlich durch die Kantone. Die müssen zahlen. Die Kantone können entscheiden, was und wie viel sie sich leisten wollen und damit sind die Ausgaben demokratisch legitimiert. Denn es findet eine Diskussion mit der Bevölkerung darüber statt, wie viel das Gesundheitssystem kosten darf. Was wir für die Gesundheit ausgeben, können wir nicht für die Bildung ausgeben und der Steuerzahler hat das Geld auch nicht mehr im Sack, um damit zu tun, was er will. Diesen demokratisch legitimierten, zwingend informierten Diskurs muss es geben. Vielleicht ist die Bevölkerung bereit, mehr für das Gesundheitswesen auszugeben. Ich bezweifle allerdings, dass man mehr ausgeben kann als heute. Wir geben schon viel zu viel aus für überflüssige Leistungen. Das ist eben nicht wie beim Schwimmer im WC-Spülkasten. Wenn der oben ist, stellt das Wasser ab. So einen Schwimmer haben wir nicht im Gesundheitswesen.

 

faktuell.ch: Geht es da nicht auch um eine ideologische Frage. Wer für Solidarität ist, will Staat, wer Wettbewerb befürwortet, will ihn nicht.  

 

Heinz Locher: Man muss Bund und Kantone bestrafen für ihre Nicht-Tätigkeit. Der Bund bezahlt den Kantonen einen Fixbeitrag an die Kosten, 7,5%. Der Bund hat eine gewisse Verantwortung für die Zulassung von Leistungen und Preisen. Ich bin der Meinung, das muss man verdoppeln. Der Bund muss auch mehr bluten, die Kantone die Hauptlast tragen und den Rest bezahlen. Es muss weh tun. Die Prämie a gogo erhöhen geht nicht. Selbstbehalt und Franchise sind ohnehin schon hoch. Anlässlich der Budgetdebatte in der Kantonsregierung wird es dann heissen, der Gesundheitsdirektor sei ein frecher Kerl. Die Regierung hat 40 Millionen Franken zu verteilen und der hat schon 25 kassiert. Und zwar als gebundene Ausgabe. Nichts zu machen. Also werden die Stimmbürger gefragt, ob sie eine Steuererhöhung wollen. Das ist der Mechanismus, den ich sehe. Die Prämienzahler haben natürlich auch ihren Beitrag zu leisten. Langfristig muss man ihre Erwartungshaltung korrigieren. Das dauert eine halbe Generation. In der Zwischenzeit muss man ihnen den Stoff knapphalten.

 

 faktuell.ch: Sie sagen, wir haben noch genug Geld…

 

Heinz Locher: …schon, aber die Finanzierung ist unsozial. Deshalb muss man das stoppen und es muss denen weh tun, die sich wehren können. Und wenn sie sich nicht wehren wollen, wie beispielsweise in Neuenburg, wo die Bevölkerung zwei Spitäler will, sollte man vielleicht eher die Bevölkerung auswechseln als die Regierung…

 

faktuell.ch: Sie haben auch schon gesagt, das Gesundheitssystem in der Schweiz liege am Boden. Umfragen zeigen aber, dass nur ein Prozent der Versicherten damit unzufrieden ist.

 

Heinz Locher: Gut, das hat natürlich einen anderen Zusammenhang. Wenn man das international vergleicht…

 

faktuell.ch: sind wir super…

 

Heinz Locher: …ja, die Frage ist, wo wir super sind. Super sind wir sicher beim so genannten «access», beim Zugang. Noch! Jetzt haben wir aber die schwarze Liste, auf der immer mehr Leute stehen, die nicht mehr zum Arzt gehen können, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen. Die Frage ist, müssen sie oder ich für 300 Franken Franchise und 700 Selbstbehalt Zugang zu 15'000 Ärzten haben? Könnte man mit dem Grundabonnement den Zugang nicht auf 1000 Ärzte beschränken? Das wäre keine echte Einschränkung. Und wenn ein Versicherter mehr will, muss eine Überweisung stattfinden.

 

faktuell.ch: Weshalb wehren sich die Versicherten nicht gegen die laufende Erhöhung der Prämien?

 

Heinz Locher: Weil sie eben zufrieden sind. Um sie aufzurütteln, müsste man ihnen einen «sense of urgency», ein Gefühl der Dringlichkeit vermitteln.

 

faktuell.ch: Und wie kriegen Sie das hin?

 

Heinz Locher: Es gibt die zynische Variante. Dort ansetzen, wo es weh tut. Das geht nicht. Da gehen die Leute unter. Das zeigt sich jetzt bei der schwarzen Liste. Ich finde das absolut skandalös. Wenn Sie die Prämie nicht mehr bezahlen können, kommen sie auf einen Status zwischen Strafgefangenem und Sans Papier. Es kann doch nicht sein, dass sie ihr Leben lang Prämien bezahlen und wenn sie klamm sind, dann nichts erhalten. Aber das wird knallhart durchgezogen. Da ist die Schwangere, die man im Spital nicht entbinden will, weil sie die Prämien nicht bezahlt hat. Solche Fälle gibt es immer häufiger. Leute im Strafvollzug und Asylbewerber sind obligatorisch versichert. Wenn aber ein ausländischer Dieb in der Schweiz in die Kiste kommt, dann ist er nicht KVG-versichert. Er muss den Arzt selber bezahlen. Er hat aber kein Geld. Konkreter Fall: Ein inhaftierter osteuropäischer Dieb hatte Nierensteine. Das ist sehr schmerzhaft, aber es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr. Da wurde medizinisch nichts unternommen. Das ist das Niveau. Das ist die Realität. Und das weiss kaum jemand.

 

faktuell.ch: Sie wissen was zu tun wäre. Weshalb können sich Gesundheitsökonomen politisch nicht durchsetzen?

 

Heinz Locher: Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh. Ich bin der Meinung, dass die Revolution nicht aus Bomben besteht, sondern dass man das System destabilisieren muss. Konstruktiv. Ein Weg, den ich vorschlage: Die Versorgungsverantwortung, die heute die Kantone haben, muss auf den Bund übergehen. Der will das zwar nicht und die Kantone sind auch nicht einverstanden. Aber immerhin haben wir ab 1848 auch die Schweizer Armee eingeführt, den Schweizer Franken, die SBB. Man fragte sich damals, auf welcher Ebene ein Problem gelöst werden muss und kam zum Schluss, dass die nationale Ebene die richtige ist. Das ist nicht ein Kantonsproblem.

 

faktuell.ch: Was heisst das heute für das Gesundheitswesen?

 

Heinz Locher: Wenn man das Gesundheitswesen neu auf Bundesebene ansiedeln würde, dann müssten sich sämtliche Akteure neu bewerben. Die Vögel würden auffliegen vom Telefondraht und man könnte mit Interesse zusehen, wo sie landen. Man müsste nicht alles, wie beispielsweise die Spitalplanung, eins zu eins von den Kantonen auf den Bund übertragen, sondern nur die Regulierungsebene ändern. Der gegenwärtige Gesundheitsminister Alain Berset hat hohen Respekt vor den Kantonen. Das ist realpolitisch vernünftig. Aber von der Sache her überhaupt nicht. Mit den Kantonen will der Bund nicht Krach haben, was heisst, dass keiner für etwas verantwortlich ist. Kollektive Verantwortungslosigkeit. Jeder macht, was er will, keiner was er soll und alle machen mit. Das System bleibt wie es ist, solange nicht eine Katastrophe passiert. Eine Katastrophe scheinen mir allerdings schon die 1000 bis 3000 Toten pro Jahr zu sei, die man vermeiden könnte. Das Gesundheitswesen ist wie Zivilluftfahrt eine Risikoindustrie. Und 20 bis 30 Jahre im Hintertreffen. In den 1990er-Jahren gab es viele Flugunfälle wegen der Hierarchie im Cockpit. Der Kopilot sieht den Fehler, wagt sich aber nicht, den Captain darauf hinzuweisen. Er muss jeden Captain kennen, um zu wissen wie weit er gehen kann, ohne dass seine Karriere im Eimer ist. Genauso ist es heute noch im Operationssaal. Die  assistierende Pflegefachfrau kann nicht einfach sagen, die Blutgruppe sei B, wenn der Herr Professor behauptet, es handle sich um A. Das ist die Hierarchie.

 

faktuell.ch: Es gibt Versicherte, die den Arzt regelmässig aus purer Langeweile oder Ängstlichkeit besuchen. Ist es denkbar, sie für überflüssige Konsultationen bezahlen zu lassen?

 

Heinz Locher: Ja, aber das macht den Braten nicht fett. Schlimm sind die Franchisen. Wer sagt, eine hohe Franchise sei Ausdruck der Selbstverantwortung, der erzählt völligen Nonsens. Eine hohe Franchise sollten – wenn schon - diejenigen wählen, die sie problemlos zahlen können. Leider wird sie aber von denen gewählt, die weder gesund sind, noch sie sich leisten können. Dann liegen sie finanziell am Boden. Solche Dinge muss man aufdecken. Ich bin der Einzige, der Bundesrat Berset, der gegen zu hohe Rabatte für hohe Franchisen war, öffentlich unterstützt hat. Es dürfte eigentlich gar keine höhere Wahlfranchise geben. Wer das Glück hat, gesund zu sein und Geld zu haben, der soll die Prämie bezahlen. Denn wegen der Rabatte fehlt Geld, mit dem man den Kranken helfen könnte. Es muss eine vermehrte Solidarität gesund – krank geben.

 

faktuell.ch:  Die Probleme liegen ausgebreitet vor uns. Woran hapert es politisch und wie lautet Ihr Appell an die grosse Politik, National- und Ständerat?

 

Heinz Locher: Für Gesundheitspolitik braucht es eine enorme Sachkenntnis.  Sonst macht man Blödsinn. Wir brauchen eine neue Generation von verantwortungsbewussten, kompromissbereiten Politikerinnen und Politikern, wie man sie in andern Politikbereichen findet. Steuerreformen und AHV-Revisionen kamen so zustande. Dort übernahmen Parlamentarier Verantwortung und stärkten damit natürlich auch den Bundesrat. Mein Appell: Übernehmt Verantwortung, zeigt Euch, ihr neuen Gesundheitspolitiker! Aber eben: Jeder, der in die Gesundheitskommission kommt, hat am nächsten Tag schon fünf Beirat- und Verwaltungsratssitze. Oder umgekehrt. Die schlimmste Lobby ist nicht die der Krankenkassen, sondern der Pharma. Wenn man den Beiräten der Krankenkassen einen Leistungslohn bezahlen würde, dann müssten die noch Geld herausgeben – bei dem was sie bewirken.

 

faktuell.ch: Also geht es nicht darum, Kosten zu dämmen, sondern das System zu ändern.

 

Heinz Locher: Es geht um Zugang und Qualität. In der Qualität sind wir nicht Weltmeister. Das wird einfach immer behauptet. Wir sind nicht schlecht, aber liegen nur etwa im oberen Drittel. Wir haben aber beispielsweise keine systematischen Qualitätsmessungen im ambulanten Bereich. Und wenn man nichts misst, kann man alles behaupten. Wir sind weit weg vom Idealzustand, insbesondere vom künftigen Idealzustand. Die eine Frage ist, kann die Volkswirtschaft die Kosten bezahlen. Die Antwort lautet ja. Die andere Frage lautet, ob die Finanzierung sozial ist. Die Antwort ist ein deutliches nein. Dort muss man stoppen. Die Betroffenen sollen sich wehren können. (veröffentlicht am 5. Juni 2018)

 


Eduard Gnesa: "Ja wann, um Himmels willen, sollte es uns denn gelingen, Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt zu bringen, wenn nicht jetzt!"

faktuell.ch im Gespräch mit Dr. iur. Eduard Gnesa, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Migration, Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit und gegenwärtig vom Staatssekretariat für Migration (SEM) Beauftragter für Flüchtlinge und Wirtschaft.


faktuell.ch: Herr Gnesa, Sie haben im Auftrag des SEM eine Verbesserung der Integration von Flüchtlingen (FL) und vorläufig Aufgenommenen (VA) in den Arbeitsmarkt geprüft. Grundtenor der Arbeitgeber: Im Prinzip beschäftigen wir gern FL und VA. Aber die bleiben nicht lang, die Ausbildung lohnt sich nicht.  

 

Eduard Gnesa: Das SEM und der Bundesrat gehen davon aus, dass die meisten anerkannten Flüchtlinge in der Schweiz bleiben. Eine Ausnahme kann sein, dass sich die Lage im Herkunftsland beruhigt und die Flüchtlinge wieder dorthin zurückkehren. Im Parlament wird darüber diskutiert, ihren Status zu verbessern, wie dies auch in verschiedenen Studien angeregt worden ist.

 

faktuell.ch: Viele Bürger verstehen das nicht. Die VA haben kein Bleiberecht in der Schweiz. Sie müssen, sobald sich die Lage bei ihnen zuhause verbessert hat, wieder ausreisen. Wenn Sie aber die VA aktiv in den Arbeitsmarkt integrieren, dann wirkt unsere Asylpolitik doch wie eine Farce.

 

Eduard Gnesa: Von den VA bleiben ca. 90 Prozent. Wird z.B. ein junger Syrer vorläufig aufgenommen, der wegen dem Krieg geflohen ist, ohne aber persönlich politisch verfolgt zu sein, dann wird die vorläufige Aufnahme meistens zum Daueraufenthalt, wenn der Krieg anhält. Das Wort «vorläufig» macht es schwierig für die Arbeitgeber. Bei meinen 50 Interviews war es auch mein Auftrag, ihnen zu sagen, dass viele VA bleiben. Das ist die Realität.

 

faktuell.ch: Das müsste den Schweizern aber auch einmal unmissverständlich klar kommuniziert werden…

 

Eduard Gnesa: …richtig.

 

faktuell.ch: Sie machen in ihrem Bericht drei Schlüsselempfehlungen, mit denen sich die Hürden bei der Anstellung abbauen lassen. Die erste lautet auf Information und Vernetzung. Zu früher Potenzialabklärung und zu Job Coaching rät die zweite Empfehlung. Beide Punkte sind Teil der Integrationsagenda Schweiz und werden ab 2019 bereits umgesetzt. Inwiefern verbessert die Potenzialabklärung die Lage der Flüchtlinge?

 

Eduard Gnesa: Wenn ein anerkannter Flüchtling länger in Durchgangszentren ist und höchstwahrscheinlich in der Schweiz bleibt, ist es sinnvoll zu wissen, welche beruflichen Qualifikationen bzw. Kompetenzen er mitbringt. In den Bundeszentren wird in Zukunft noch mehr triagiert. Es gibt z.B. Asylbewerber aus dem Balkan, die gehen müssen, weil dort keine Verfolgung mehr vorkommt und es Rückübernahmeabkommen gibt; diese Personen bleiben bis zur Ausreise im Bundeszentrum. Wo das SEM aber für das Asylverfahren mehr Zeit braucht, werden die Asylbewerber nach ca. einem Monat den Kantonen übergeben. Für diese Personen wäre es sinnvoll, wenn anerkannte und erfahrene Organisationen eine erste Potenzialabklärung machen könnten, z.B. über die Qualifikationen, Diplome, Berufserfahrung etc. So kann man von den Bundeszentren aus auch besser steuern. Ein Beispiel: Informatiker und Informatikerinnen muss man nicht unbedingt in grosser Zahl in die Bergkantone schicken, sondern eher nach Zürich, Lausanne oder Genf. Anderseits würde es wohl auch Sinn machen, einen Teil der Flüchtlinge mit Erfahrung im Gastgewerbe Tourismuskantonen zuzuteilen. Das SEM könnte zu den Potentialabklärungen einen Leitfaden erstellen.

 

faktuell.ch: Beispiel Eritreer. Die meisten jungen Eritreer bezeichnen sich offenbar als Schafhirten. Was soll bei ihnen die Potenzialabklärung konkret bringen?

 

Eduard Gnesa: Zugegeben, anders als bei anderen Flüchtlingen ist die Potentialabklärung bei den Eritreern oft schwierig, weil sie im Militärdienst – dem häufigsten Fluchtgrund – wenig gelernt haben, was auf unserem Arbeitsmarkt gefragt ist. Wenn jemand bei der Potentialabklärung Erfahrungen in der Landwirtschaft vorweisen kann, dann ist das Pilotprojekt des SEM und des Schweizerischen Bauernverbands ein guter Anfang. Die Evaluation der Berner Fachhochschule zeigt, dass ein Grossteil der Teilnehmenden auf dem Arbeitsmarkt Fuss fassen konnte. Ich bin der Meinung, dass diesbezüglich die Musik in den Kantonen spielt. Viele sind denn auch zurzeit daran, die Integrationsagenda von Bund und Kantonen umzusetzen.

 

faktuell.ch: Und wenn die Asylbewerber nicht kooperativ sind?

 

Eduard Gnesa: Wir können sie deswegen sicher nicht einsperren. Aber wir können – wie dies der Kanton Graubünden bereits erfolgreich praktiziert – Anreize schaffen. Wer beruflich weiterkommt, kann zum Beispiel von einer Gemeinschaftsunterkunft in eine Wohnung umziehen.

 

faktuell.ch: Nehmen wir das andere Ende des Spektrums: Ein aus Syrien geflüchteter Arzt, dessen Diplome, sofern er überhaupt welche vorweisen kann, nicht anerkannt sind. Wie geht da die Potenzialabklärung?

 

Eduard Gnesa: Er müsste zuerst die Sprache lernen. Und dann – sofern das Diplom in der Schweiz nicht anerkannt ist – die erforderlichen Zusatzleistungen erbringen und allenfalls kann er in anderer Funktion im Gesundheitsbereich tätig sein. Das bringt ihn wieder auf die richtige Schiene. Das ist ein schwieriger Fall, aber auch ein seltener…

 

faktuell.ch: … weil es wenig Akademiker unter den Asylbewerbern gibt?

 

Eduard Gnesa: Nur ein Fünftel verfügt über eine Ausbildung auf der Sekundar- oder gar Tertiärstufe.

 

faktuell.ch: Andersrum. Es gibt heute so viele Start-ups und innovative Kleinunternehmen. Sind konventionelle Diplome heute noch zwingend?

 

Eduard Gnesa: Es kommt auf den Bereich an. In Bern hat z.B. ein junger IT- Unternehmer ein Inserat geschaltet, das sich an anerkannte Flüchtlinge richtete. Es solle sich melden, wer im Herkunftsland in der Informatik gearbeitet oder studiert habe. Der Mann hat Erfolg und bringt 70 bis 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge in die Erwerbstätigkeit. Jetzt kommen wir zur Bedeutung der Sprache bei der Integration. Wir sagen immer, man müsse zwingend eine Landessprache lernen. Das stimmt für die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge ganz sicher. Aber die jungen Informatiker können erst einmal mit Englisch in die Arbeit einsteigen. Sie sehen: die Ausgangslage für Menschen, die in die Schweiz kommen, kann sehr unterschiedlich sein. Dem muss man bei der Potentialabklärung auch Rechnung tragen.

 

faktuell.ch: Job Coaching für jeden Flüchtling und VA. Hört sich an wie eine massive Ungleichbehandlung gegenüber arbeitslosen Schweizern, die sich beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum RAV melden müssen und keine Unterstützung erhalten?   

 

Eduard Gnesa: Nochmals: Die allermeisten Flüchtlinge und die meisten VA bleiben. Das ist die Realität. Wenn ein 25-jähriger Asybewerber als Flüchtling anerkannt wird und bis zum Pensionsalter nie arbeitet, dann kostet er die Steuerzahler eine Million Franken. Das Job Coaching soll ihm helfen, rasch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit sein Leben zu finanzieren und sich zu integrieren. Dass es manchmal auch Vermittlung braucht, zeigt eine Episode, die mir der CEO einer grossen Schweizer Baufirma erzählt hat: Ein anerkannter Flüchtling aus Afghanistan ist ein hervorragender Mitarbeiter. In der Sommerhitze bestand die Gefahr eines Unfalls auf der Baustelle, weil er als Muslim während des Ramadans nichts trinken wollte. Der Chef sagte sich, dass vielleicht ein Imam weiterhelfen könnte. Gesagt, getan. Der Imam erklärte dem Arbeiter, dass man laut Koran bei schwerer Arbeit oder Krankheit trinken darf. Problem gelöst.

 

faktuell.ch: Stehender Vorwurf: FL und VA konkurrenzieren die Schweizer auf dem Arbeitsmarkt.

 

Eduard Gnesa: Sehen wir uns die Zahlen im Bereich der wenig qualifizierten Arbeitskräfte an: 37'220 Personen waren 2017 arbeitslos. Das sind 27,3 Prozent aller Arbeitslosen. Und trotzdem werden für Tätigkeiten, die wenig qualifizierte Arbeitskräfte ausüben können, nach wie vor Personen aus dem Ausland rekrutiert. Es wäre doch sinnvoll, auch die Flüchtlinge zu berücksichtigen, weil sie bereits in der Schweiz sind und auch hier bleiben. Es ist weiter zu bedenken, dass genau ein Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz Flüchtlinge und VA sind, also etwa 80`000. Wir können es uns leisten, diese Menschen auszubilden und zu integrieren; das kostet uns auf längere Sicht weniger.

 

faktuell.ch: Ihre dritte Empfehlung: «Anreize für Arbeitgeber», weil diese angeblich mehr Aufwand haben mit Flüchtlingen. Heisst dies, dass eine Firma subventioniert wird, wenn sie Flüchtlinge anstellt und dann de facto zur Sozialfirma mutiert?

 

Eduard Gnesa: Mehr als die Hälfte der Arbeitgeber, die ich interviewt habe, brauchen gar keinen Anreiz, wenn die Mitarbeiterin, der Mitarbeiter die Anforderungen an die Qualifikation erfüllt und ganz normal einen GAV-Mindestlohn bezieht. Im Pflegebereich und im Gastgewebe hingegen ist den Arbeitgebern beispielsweise die Sprache sehr wichtig, denn mit Patienten und Gästen sollte es keine Missverständnisse geben. Der Kanton Graubünden hat ein Teillohnmodell „Teillohnplus“ eingeführt, das gut funktioniert. Am Projekt Teilnehmende können während eineinhalb Jahren Berufserfahrung in einem Betrieb sammeln. Ende Monat erhalten sie einen Teillohn, der mit Sozialhilfe aufgebessert wird. Der Lohn steigt von anfänglich 500 auf 2'500 Franken. Der Arbeitgeber verpflichtet sich, die Mitarbeitenden berufspraktisch zu qualifzieren. Das Projekt ist erfolgreich, denn 84 Prozent der Teilnehmenden fanden nach Aneignung der Berufserfahrung eine Festanstellung oder konnten eine Berufslehre beginnen…

 

faktuell.ch:  … wie eine Lehre…

 

Eduard Gnesa: … ja, zum Teil wie eine Vorlehre. Und das ist ja auch der Grund, weshalb der Bundesrat jetzt 54 Millionen Franken für die Integrationsvorlehre bereitstellt. 18 Kantone machen mit. Im Lauf eines Jahres wird sich herausstellen, welche Eignung eine Person hat. Mechaniker, Coiffeuse oder was auch immer. Das ist ein erster Schritt und den finde ich sehr gut. Es ist bei den Arbeitgebern auch sehr positiv angekommen, dass die Kantone jetzt statt 6000 Franken als Integrationspauschale pro Flüchtling neu 18‘000 erhalten. Damit kann man auch Potenzialabklärung und Job Coaching finanzieren.

 

faktuell.ch: Das Bundesamt für Migration hat 2014 erstmals eine sogenannte  Verlaufsstudie über die Erwerbstätigkeit der Asylbewerber in der Schweiz durchgeführt. Zeitraum 1997 bis 2012, also vor der grossen Flüchtlingswelle. Erkenntnis: Nach zehn Jahren haben 26 Prozent der Menschen, die ganz oder vorläufig in der Schweiz bleiben, keinen Tag gearbeitet. Weil sie die Sprache nicht genügend beherrschen oder keine Lust haben, einer Arbeit nachzugehen, die tieferen Status hat als ihre Funktion in ihrer Heimat. Von Sozialhilfe lebt es sich gut. Was bringen da Potenzialabklärung und Job Coach?

 

Eduard Gnesa: Wenn eine Person sich nicht integrieren will, kann man allenfalls auf der Grundlage des jeweiligen kantonalen Sozialhilfegesetzes Sanktionen gegen sie ergreifen. Wer guten Willen zeigt, soll Anreize erhalten. Es gibt aber auch Flüchtlinge, die über 55 sind, vielleicht gefoltert wurden und unter Traumata leiden. Diese bringen wir nie auf den Arbeitsmarkt. Sie sind für immer auf Sozialhilfe angewiesen. Aber ihre Unterstützung gehört zu unserer humanitären Tradition...

 

faktuell.ch: … und was ist mit den Jungen, die unter die Integrationsagenda des Bundes fallen?

 

Eduard Gnesa: Genau um die geht es mir! Potenzialabklärung und Begleitung durch den Job Coach. Gute Beispiele können viel auslösen. Als anerkannte Flüchtlinge wissen sie, dass sie in der Schweiz bleiben können, und richten sich oft nach ihren gleichaltrigen Freunden aus. Wenn sie sehen, dass diese dank einer Arbeit etwas erreicht haben, auf eigenen Füssen stehen, ein tolles Motorrad haben etc., dann möchten sie das auch und bemühen sich um einen Job.

 

faktuell.ch: Die erwähnte Studie zeigt auch: Zehn Jahre nach Einreise arbeiten von den Personen mit Härtefall-Regelung über 60 Prozent. Von den Flüchtlingen 47 Prozent, VA 25 Prozent. Empfehlung der Autoren: Für den Zugang auf den Arbeitsmarkt sollen FL, VA und Härtefälle den Personen mit C-Ausweis (unbefristete Aufenthaltsbewilligung) gleichgestellt werden. Was halten Sie davon?

 

Eduard Gnesa: Wir müssen aufpassen, dass Flüchtlinge mit Ausweis B nicht gegenüber den EU-Bürgern privilegiert werden. Bei VA wäre es aber sinnvoll, ihnen nach einer gewissen Zeit einen Ausweis B zu geben, dessen Berechtigung man jeweils nach ein oder zwei Jahren überprüfen könnte. Dafür müssten sie arbeiten und keine Sozialhilfe beziehen. Dann sind sie den anderen Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz gleichgestellt. Wenn sie die Auflagen nicht erfüllen und auf Dauer sozialhilfeabhängig sind, müssen sie unter Umständen die Schweiz verlassen wie andere Ausländer und Ausländerinnen mit Ausweis B.

 

faktuell.ch: Das ist eine Idee für die Zukunft.

 

Eduard Gnesa: Ja, man sollte sie prüfen. Man belohnt die VA, die sich in den Arbeitsmarkt und in unsere Gesellschaft integriert haben, mit einem neuen Status, der ihre Integrationsbereitschaft einbezieht. Das würde auch die andern motivieren. Den C- Status kann man den VA nicht von Beginn an geben, das wäre ein Pull-Faktor. Ein VA ist nicht politisch verfolgt, er ist nur hier, weil in seinem Land Krieg oder politische Unruhe herrscht.

 

faktuell.ch: Im Dezember wird der UNO-Migrationspakt unterzeichnet. Er ist rechtlich unverbindlich, für die Unterzeichner-Nationen aber doch ethisch einzuhalten. Dieser Pakt befreit Migranten explizit von der Verpflichtung, sich in die Kultur des Aufnahmelandes zu integrieren. Flüchtlinge bringen wie Migranten, also Ausländer mit Arbeitsvisum, auf dem Arbeitsmarkt eine fremde Kultur ein. Der muslimische Flüchtling weigert sich, seine Frau arbeiten zu lassen. Gibt es nicht in seiner Kultur. Der Migrant aus Indien wird sagen, dass es seiner Kultur entspricht, erst gegen 11 Uhr einzutrudeln, wenn Arbeitsbeginn um acht Uhr ist. Wie soll ein Land damit umgehen?

 

Eduard Gnesa: Der Migrationspakt enthält 23 Ziele. Diese Ziele, so stellt auch der Bundesrat fest, entsprechen voll und ganz unserer Migrationspolitik. Um diese zu erreichen, gibt es Instrumente. Jetzt zum Kulturbegriff. Was der Pakt meiner Meinung nach dazu sagen will, ist, dass der Ausländer, die Ausländerin sich nicht assimilieren muss. Es gibt Staaten wie Frankreich, die mit Assimilation eine schlechte Erfahrung gemacht haben. Siehe Bidonvilles in Paris und um Marseille. Einem Neuankömmling zu sagen, er sei vom ersten Tag an Franzose funktioniert nicht. Integration in der Schweiz heisst, unsere Verfassung anzuerkennen. Die ganze Wertekulturdebatte ist in der Schweiz gar nicht notwendig. Es steht alles in der Verfassung: beispielsweise Gleichberechtigung Mann/Frau, Religions- und Kultusfreiheit, Respektierung und Beachtung der Grundrechte. Und das Ausländer- und Integrationsgesetz sieht vor, dass die Schweiz als Aufnahmeland von den Migrantinnen und Migranten generell eine Bereitschaft zur aktiven Integration und zur Partizipation einfordert. Der Pakt widerspricht dem nicht. Der Flüchtling muss deswegen nicht seine Kultur aufgeben. Er muss nicht mit mir jassen oder im Kirchenchor mitsingen.

 

faktuell.ch: Am meisten Probleme bei der Integration machen offensichtlich die Muslime.

 

Eduard Gnesa: Ich bin gegen eine Verallgemeinerung. Richtig ist aber, dass die Gesetze für alle gelten. Bemerkenswert finde ich, dass der Europäische Gerichtshof das Burkaverbot in Frankreich geschützt hat mit dem Argument, in der europäischen Kultur sei anerkannt, dass wir einander ins Gesicht und in die Augen sehen. Ich bin auch der Ansicht, dass muslimische Mädchen am Schwimmunterricht in der Schule teilnehmen sollen. Ausserdem haben wir in der Schweiz das Polygamie-Verbot.

 

faktuell.ch: Mancherorts wird das Polygamie-Verbot in der Schweiz umgangen, indem die Sozialhilfe mehrere Frauen des Muslims einfach als Haushaltsmitglieder führt. Denn es sei dem Mann nicht zumutbar, sich für nur eine Frau entscheiden zu müssen und die andere oder die anderen in seinem Land auf sich allein gestellt zurückzulassen…

 

Eduard Gnesa: Mir sind solche Fälle nicht bekannt. Generell kann ich aber sagen, dass Ausländerinnen und Ausländer im Grossen und Ganzen – auch im Vergleich zu EU-Staaten – in unserem Land gut integriert sind. Das geht aus einem Bericht zur Integration des Bundesamtes für Migration von 2006 hervor, den der damalige Bundesrat Blocher in Auftrag gegeben hatte. Natürlich hat der Bericht auch Mängel benannt; er hat Probleme nicht verschwiegen und Massnahmen aufgezeigt, wie man zu Lösungen kommt.

 

faktuell.ch: Sie haben schon angedeutet, dass Anreize und auch Sanktionen im Asylbereich sinnvoll sein können. Unter dem Motto «Arbeit statt Sozialhilfe» will selbst die früher eher milde gestimmte Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) die Leute in die Pflicht nehmen. Sie verlangt, dass die Verpflichtung, einen Berufseinstiegskurs zu absolvieren, im Asylrecht verankert wird. Wer das nicht tut und auch die Beschäftigungsprogramme schwänzt, wird sanktioniert. Ihre Einschätzung?

 

Eduard Gnesa: Das ist ein möglicher Ansatz. Der andere Ansatz ist, wie erwähnt, mit Anreizen zu arbeiten: jemandem den Aufenthaltsstatus früher zu geben oder jemanden bei der Wohnungssuche zu privilegieren. Es darf bei den FL, die ohnehin hierbleiben, nicht der Eindruck entstehen, dass im reichsten Land der Welt die Sozialhilfe ohne Gegenleistung endlos für sie aufkommt. Dem gilt es entgegenzuwirken, weil mangelnde Integrationsbereitschaft auch zu Fremdenfeindlichkeit führen kann, was wir im Interesse aller verhindern wollen.

 

faktuell.ch: Sie haben mit Ihrem Bericht für das SEM die Vorlage zu einer besseren Integration der Flüchtlinge und VA in den Arbeitsmarkt gegeben. Was muss erfüllt sein, damit Sie sich zufrieden zurücklehnen und sagen können: Ziel erreicht?

 

Eduard Gnesa: Was mit den Empfehlungen konkret passiert, muss nun das Staatsekretariat für Migration entscheiden. Wir haben zwei gute Grundlagen: Die Integrationsagenda des Bundes und der Kantone. Dann haben wir das Ergebnis meiner Interviews mit den Arbeitgebern, das zeigt, dass der Wille ihrerseits da ist, Flüchtlinge anzustellen – vorausgesetzt, sie bringen die richtige Qualifkation mit.

 

faktuell.ch: Wie soll der Informationsaustausch, die Erfolgskontrolle stattfinden?

 

Eduard Gnesa: Ein runder Tisch mit Arbeitgebern, Bund und Kantonen ist unter den Empfehlungen, aber vor allem in den Kantonen sollten sich Arbeitgeber und kantonale Stellen vermehrt treffen und Best practices austauschen. Laut einer OECD-Studie sind 70 bis 80 Prozent der Arbeitgeber in Europa zufrieden mit Flüchtlingen als Mitarbeitern. Wenn sich das multipliziert, man den Arbeitgebern die Befürchtungen nehmen kann, dann haben wir in gewissen Branchen zumindest zum Teil die fehlenden Arbeitskräfte, und diese müssen nicht mehr im Ausland rekrutiert werden. Letztes Jahr blieben von 10‘000 angebotenen Lehrstellen ganze 7000 offen. Ich habe bei den Arbeitgebern gespürt, dass sie auch deshalb interessiert sind, Flüchtlinge anzustellen, und sich auch bewusst sind, dass sie eine soziale Mitverantwortung tragen.

 

faktuell.ch: Wie sieht es denn mit den bisherigen konkreten Erfahrungen der Arbeitgeber mit Flüchtlingen aus?

 

Eduard Gnesa: Ich habe von guten Erfahrungen auf dem Bau, in der Pflege oder in der Gastronomie gehört. Zudem berichtete mir ein Unternehmer, er habe vor Jahren „boat people“ aus Vietnam angestellt. Deren Nachkommen arbeiteten jetzt auch bei ihm und seien sehr gute Mitarbeiter.

 

faktuell.ch: Und welches ist bisher ihr erfreulichster best practice-Erfolg?

 

Eduard Gnesa: Ich habe die Privaten zu einem Austausch unter sich ermuntert – ohne den Bund: Im November 2017 führten verschiedene Unternehmungen eine Tagung zu dieser Thematik durch, darunter Planzer, IKEA, SBB, Migros etc. Das war eine ausgezeichnete Veranstaltung. Die Arbeitgeber waren unter sich, konnten sich gegenseitig auch die Schwierigkeiten aufzeigen. Der Unternehmer muss es auch aushalten, wenn ihm Einheimische vorwerfen, dass er Flüchtlinge anstellt. Aber mit der Zeit spielt sich das ein und am Schluss sind die meisten zufrieden…

 

faktuell.ch: … und Sie auch?

 

Eduard Gnesa: Ich bin zufrieden, wenn es so läuft. In der Schweiz haben wir Föderalismus, Kleinräumigkeit, ein gutes Bildungssystem, einen offenen Arbeitsmarkt, 2,6 Prozent Arbeitslosigkeit, Wohlstand, keine Parallelgesellschaft, keine Ghettos, sprachliche und religiöse Vielfalt. Ja wann, um Himmels willen, sollte es uns denn gelingen, Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt zu bringen, wenn nicht jetzt! Das ist meine Message. Und dann muss man ehrlicherwiese auch sagen, wo die Haken sind: mangelnde Sprachkenntnisse, anderer Kulturbereich, schwierige Integration. Dies aAlles offen darlegen. Wenn man das so macht, auch mit den Unternehmern, dann, habe ich gemerkt, ist der Wille da. Ich hoffe, dass es so weitergeht.

 


Markus Kaufmann: «Wenn wir nur finanzielle Anreize bieten, sind gewisse Leute von vornherein ausgeschlossen.»

faktuell.ch im Gespräch mit Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)

Markus Kaufmann

faktuell.ch: Die Richtlinien der SKOS nehmen die Kantone als Empfehlung entgegen und wenden sie unterschiedlich an. Die grossen Kantone wie Bern und Zürich wollen die Sozialhilfe restriktiver handhaben. Andere folgen ihrem Beispiel: der Aargau etwa oder Baselland, das sogar einen Systemwechsel anstrebt und nur noch materiellen Grundbedarf ausrichten will. Wie geht die SKOS mit dieser Situation um?

 

Markus Kaufmann: Wir haben an der Konferenz der Kantonsregierungen vor zwei Jahren festgehalten, dass der heutige Grundbedarf angemessen ist. Wenn man ihn unterschreitet, wird das Prinzip des sozialen Existenzminimums in Frage gestellt. Busfahren, telefonieren und anderes könnten Sozialhilfebeziehende bei einer Kürzung von 30%, wie sie Baselland vorsieht, nicht mehr. Das bedeutet soziale Ausgrenzung. Der Kanton Zürich hat das neue Sozialhilfegesetz in Vernehmlassung gegeben und hält im Entwurf explizit an den SKOS-Richtlinien fest. Die Diskussion um die Höhe der Sozialhilfe läuft in einigen Kantonen. Schwyz hat 2017 den Entscheid gefällt, bei den SKOS-Richtlinien zu bleiben. In Bern hat der Grosse Rat eine Kürzung von 8% beschlossen, was aber noch nicht rechtsgültig ist, weil ein Referendum dagegen lanciert wurde. Die SKOS hat eine Studie in Auftrag gegeben, die die Berechnung des Grundbedarfs überprüft, als Grundlage für die anstehenden Debatten.

 

faktuell.ch: Sozialhilfe beziehen auch anerkannte Flüchtlinge und Vorläufig Aufgenommene. Die grossen Kontingente (2014, 2015, 2016) wechseln in den nächsten Jahren von der Bundesverantwortung auf die der Kantone und Gemeinden. Wegen der zusätzlichen Sozialhilfekosten dürfte die finanzielle Lage für viele Gemeinden äusserst prekär werden. Viele Entscheidungen bei Problemen sind gefragt, die die Praktiker der SKOS am besten einschätzen können. Wie sinnvoll ist es unter diesem Gesichtspunkt, dass sich die SKOS ihre Richtlinien von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK), also der Politik, zurechtstutzen lässt – einer Politik, die dann nicht unisono mitträgt, was sie abgesegnet hat?

 

Markus Kaufmann: Ich sehe das etwas fliessender als Sie es darstellen. Die Kantone haben schon immer selbst entscheiden können, wie sie unsere Richtlinien anwenden. In der SKOS sind die kantonalen Amtsleiter, also Verwaltungsangestellte vertreten und in der SODK die Regierungsräte. Diese Ebenen arbeiten sehr eng zusammen. Und stärker noch als vor 10, 20 Jahren findet in Parlamenten und Regierungen eine politische Debatte über die Sozialhilfe statt. Deshalb ist es auch sinnvoll, wenn die Direktorenkonferenz sich mit dem Thema auseinandersetzt und sagt, was sie will. Früher betrachtete man Sozialhilfe als ein Fachthema, und delegierte es stärker, wie viele andere Themen auch. Nehmen wir die SIA-Normen in der Schweiz. Die werden in der Regel direkt in die Gesetze aufgenommen. Es ist klar, dass da die Politiker nicht noch einzeln mitdiskutieren, wie dick ein Rohr sein muss. Bei der Sozialhilfe hingegen braucht es sowohl die Fachleute als auch die Politiker.

 

faktuell.ch: Die SKOS bezieht bei der Ausarbeitung ihrer Richtlinien nicht nur die Kantone, sondern auch die kommunale Ebene mit ein.

 

Markus Kaufmann: Ja, das ist ein grosser Vorteil. Rund 30% aller Sozialhilfebeziehenden wohnen in den grossen Städten. Zürich und Genf etwa sind sehr stark betroffen. Deshalb reden sie auch mit und bringen Lösungsvorschläge ein. Aber auch die grosse Mehrheit der kleinen und mittleren Gemeinden sind Mitglieder der SKOS und beteiligen sich an der Erarbeitung unserer Richtlinien.

 

faktuell.ch: Die SKOS-Richtlinien gelten für die ordentliche Sozialhilfe. Zunehmend gibt es aber auch Spezialfälle. Es wird prozessiert. Wie etwa im Fall abgewiesener Asylsuchender, deren Anwälte die Ausweisung verhindern. Wie sieht ihre Aufgabe hier aus?

 

Markus Kaufmann:. Die ordentliche Sozialhilfe ist für Personen da, die einen ordentlichen Aufenthalt haben in der Schweiz. Wie wir mit den andern umgehen, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Definitiv abgewiesene Asylbewerber haben kein Anrecht auf ordentliche Sozialhilfe. Sie erhalten in dieser Phase Nothilfe gemäss Artikel 12 der Bundesverfassung Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind»). Was sicher niemand will, sind Zeltlager in öffentlichen Parks, wie dies etwa in Paris der Fall ist.

 

faktuell.ch: In der Sozialhilfe gibt es auch einen Ermessenspielraum. Man könnte sagen, der Zeitgeist entscheidet, was gerade gilt. Die Bundesverfassung schreibt eine Überlebenshilfe vor, bis der Betroffene wieder in die Eigenständigkeit zurückfindet. Seit 2002 empfiehlt die SKOS das soziale Existenzminimum. Nicht nur die Grundbedürfnisse sollen gestillt werden, der Betroffene soll auch am Sozialleben teilnehmen können. Vieles deutet in der letzten Zeit auf eine Trendwende hin oder täuscht der Eindruck?

 

Markus Kaufmann: Die Frage des Ermessenspielraums hat natürlich mit einem grundlegenden Prinzip unserer Gesellschaft zu tun. Überall, wo Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat zu tun haben, sei es vor Gericht oder in der Verwaltung, gibt es Regeln. Je klarer und einschränkender diese definiert sind, desto bürokratischer die Abwicklung: Wenn A, dann B. Es gehört aber auch zu unseren Regeln, dass wir den Einzelfall ansehen. Auch in der Sozialhilfe. Weshalb schafft es eine Person nicht, wirtschaftlich selbständig zu sein? Und wenn man das weiss, kann man die geeigneten Massnahmen treffen. Dafür haben wir die SKOS-Richtlinien, Gesetzesbestimmungen auf Kantonsebene und oft auch noch Ausführungsbestimmungen auf kommunaler Ebene. In der Gemeinde ist es sinnvoll, den Ermessenspielraum voll anzuwenden. Allerdings müssen sich Sozialarbeitende an ein riesiges Regelwerk halten. Sie sagen mir immer wieder, dass dadurch der Ermessenspielraum, ihren gesunden Menschenverstand und ihr Wissen anwenden zu können, sehr klein wird.

 

faktuell.ch: Was ist Ihre Einschätzung?

 

Markus Kaufmann: Es hat mit der gesellschaftlichen Grundmeinung zu tun, wie stark man beispielsweise gewisse Sanktionsmechanismen anwendet. Bis in die 1970er Jahren wurde Sozialhilfeabhängigen in einzelnen Kantonen das Stimmrecht entzogen. Unter den administrativ Versorgten hatte es auch Personen, die heute als faul und untätig betrachtet würden. Dort traf man – wohl auch aus dem Zeitgeist heraus – ganz krasse Massnahmen, die man heute zu Recht kritisiert. (Einweisung in Zwangsarbeits-, Straf-, Trinkerheilanstalten oder in die Psychiatrie ohne Gerichtsurteil im 20 Jhd.) Heutzutage geht es sicher darum, einerseits den rechtlichen Rahmen anzuwenden und anderseits den Ermessenspielraum so zu nützen, dass die Personen nachher möglichst selbständig werden können. Vielleicht sieht man es in 20 Jahren wieder etwas anders. Wenn die Sozialhilfe so aufgestellt ist, halte ich das für den richtigen Weg.

 

faktuell.ch: Auch das berufliche Selbstverständnis des Sozialarbeitenden ist dem Zeitgeist unterworfen. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat ein Wandel zum akademischen Case Manager stattgefunden – weg von der bodenständigen, robusten, zuweilen auch einfühlsamen Fürsorgerin früherer Tage…

 

Markus Kaufmann: …das ist etwas stereotypisch. Es ist sicher so, dass die heutigen Anforderungen hoch sind. Zum einen geht es darum, dass Sozialarbeitende den rechtlichen Rahmen sehr gut kennen müssen und die Verwaltungsabläufe, damit sie die Klienten auf ihre Rechte hinweisen können. Sie müssen psychologische und Beratungsfähigkeiten haben, um den Klienten wieder den Weg in die Erwerbstätigkeit zu zeigen. Zudem müssen sie ihre Rolle in der Verwaltung gegenüber übergeordneten Behörden finden und Dossiers verfassen, die einem regelmässigen Controlling unterstellt sind. Die Anforderungen an die Professionalität sind sehr stark gestiegen. Wer zu 100% arbeitet, ist für 100 Dossiers zuständig. Er oder sie betreut damit 130 bis 150 Personen.

faktuell.ch: Da bleibt wenig Zeit für Betreuung und Beratung im Einzelfall.

Markus Kaufmann: Winterthur hat das kürzlich untersucht. In der Stadt stieg die Belastung für die Sozialarbeitenden stark an. Mehr Stellen gab es nicht und schliesslich musste eine Person 130 Dossiers betreuen. Das hiess, dass sie für jeden Sozialhilfeempfänger nur 3 ½ Stunden an persönlicher Beratung bieten konnte – pro Jahr. Winterthur machte deshalb einen Versuch. Drei Sozialarbeitende wurden ausgewählt, die nur für 75 Dossiers verantwortlich waren und die andern weiterhin für 130. Dann wurde die Ablösungsquote verglichen, das zusätzliche Einkommen, das die Sozialhilfebeziehenden generieren. Resultat: Je weniger Dossiers Sozialarbeitende bearbeiten, desto höher die Ablösung. Und die Stadt spart sogar Geld. Es ist also sinnvoll, in Unterstützung zu investieren, damit Leute auf Sozialhilfe rasch wieder Arbeit finden.

faktuell.ch: Die Sozialhilfe, die öffentlich zu reden gibt, kennt zwei Seiten. Der Bezüger kann es darauf angelegt haben zu betrügen, der Sozialarbeiter kann ein Sadist sein. Sozialhilfemissbrauch versus Machtmissbrauch. Auf welcher Seite ist der «Missbrauch» einschneidender?

 

Markus Kaufmann: Da nennen Sie zwei Extreme, die nur einen ganz kleinen Teil der Realität in den Sozialdiensten abdecken. Klar ist, dass es den Sozialhilfemissbrauch gibt. Z.B. durch Schwarzarbeit oder fehlende Deklaration von Vermögen. Weil die Sozialdienste dies wissen, schauen sie auch genauer hin. Viele haben Abläufe für ein Controlling geschaffen. Missbrauch muss verhindert werden. Die Sozialdienste müssen mit andern Diensten auf einer Stadtverwaltung zusammenarbeiten. Die grossen Sozialdienste – Beispiel Stadt Zürich – können spezialisierte Abteilungen für ganz spezifische Probleme aufbauen. Kleinere Dienste setzen auf überregionale Organisationen wie der Verein Sozialinspektion im Kanton Bern.

faktuell.ch: Das Dorf muss sich weiterhin auf die Sozialkontrolle verlassen…

 

Markus Kaufmann: …genau. Allerdings gehen Erfahrungen mit Sozialhilfebeziehenden verloren, wenn diese wegziehen. In der neuen Wohngemeinde wird einfach ein neues Dossier eröffnet. Was wir immer kritisieren: Kleine Gemeinden haben einen grossen Anreiz, schwierige Leute loszuwerden. Eine allein erziehende Mutter mit vier Kindern ist eine grosse Belastung für die Gemeinde. Ich höre immer wieder, dass eine solche Familie ein Loch ins Budget reisst. Die sieht man natürlich gerne wegziehen. Wir sind der Meinung, nicht die Gemeinde sollte die vollen Kosten für Sozialhilfeempfänger tragen, sondern sie müssten durch den interkantonalen Lastenausgleich ausgeglichen werden. In vielen Kantonen ist das bereits so geregelt. Alles andere ist Sankt-Florians-Politik.

 

faktuell.ch: Wie die Sozialhilfegelder ausgegeben werden, überlässt die SKOS den Sozialhilfebeziehenden. Warum?

 

Markus Kaufmann: Wir haben seit 20 Jahren die Dispositionsfreiheit. Vorher musste man dem Sozialarbeiter die Quittung vorweisen, wenn man ein Paar Socken gekauft hatte. Dann wurde abgerechnet. Mit Selbständigkeit war diese Praxis nicht vereinbar. Mit dem heute ausgerichteten Grundbedarf können die Bezüger selber entscheiden, ob sie mal etwas Besseres zum Essen einkaufen oder mehr für den ÖV ausgeben wollen. Es geht nicht um grosse Beträge. Wenn man ein Halbtax-Abo kauft, das im Grundbedarf enthalten ist, dann kann man mit dem Rest nach meiner Berechnung zwei Mal pro Woche von Bümpliz nach Bern fahren. Nicht erlaubt ist die Verwendung für Luxusgüter ausserhalb des Grundbedarfs. Wir halten solche selbständigen Entscheidungen für wichtig, damit die Leute auch ihre wirtschaftliche Selbständigkeit wiederfinden können. Auflagen für ein genau bestimmtes Verhalten in der Sozialhilfe widerspricht grundsätzlichen Vorstellungen in unserer Gesellschaft. Es wäre ein zu grosser Eingriff in die Autonomie eines Menschen. Aber wir geben Anreize mit Deutschkursen, Ausbildungen, Beschäftigungsprogrammen. Wer teilnimmt, erhält eine Integrationszulage. Wer eine Auflage des Sozialdienstes nicht erfüllt, wird mit Geldabzügen sanktioniert.  

 

faktuell.ch: Soziales Existenzminimum heisst Gesellschaft suchen: Miteinander ein Bier trinken in der Beiz. Musliminnen raus aus dem Haus. Einkaufen, Tea-Room, Ausstellungen. Weshalb geben Sie nicht zumindest Empfehlungen in diese Richtung ab, damit sich Schweizer und Ausländer näherkommen?

 

Markus Kaufmann: Es gibt natürlich in der ganzen Schweiz Initiativen, auch in meiner Umgebung, damit sich z.B. Quartierbevölkerung und Flüchtlinge im Café treffen. Oder im Nähatelier, im Deutschunterricht, in einer Gartengruppe. Die SKOS unterstützt diese soziale Integration. Die Richtlinien sehen vor, konkretes Engagement z.B. in einem Quartiertreff mit einer Integrationszulage zu belohnen. Natürlich braucht es auch die andere Seite, die Quartierbevölkerung, die mitmacht, das kann die Sozialhilfe nicht anordnen.

 

faktuell.ch: Es heisst, in grossen Sozialdiensten gebe es gewissermassen eine Art Klassengesellschaft, was die Betreuung anbelangt. Klingt unschön. Was ist da dran?

 

Markus Kaufmann: Viele Städte und Gemeinden haben so genannte Fallsteuerungsmodelle. Wenn eine Person Sozialhilfe beantragt, wird abgeklärt, welche Ressourcen sie hat und in welcher Lebenssituation sie ist. Darauf abgestimmt werden Massnahmen definiert. Bei einer Gruppe scheint eine Ausbildung sinnvoll, eine andere besteht aus Leuten, die ihre Fähigkeiten zu wenig nutzen, also eher sanktioniert werden müssen. Es gibt auch eine Gruppe, bei der man stark auf soziale Integration setzen muss. Ein Viertel bis ein Drittel der Leute auf Sozialhilfe wird extrem grosse Schwierigkeiten haben, auf dem heutigen Arbeitsmarkt einen Platz zu finden. Auch das ist die Realität. Nicht vergessen darf man dabei, dass es Personen gibt, die erst bei dritten oder vierten Anlauf die Kurve kriegen. Abschreiben darf man niemanden.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfe muss zunehmend Ausgesteuerte bis zum Übergang ins AHV-Alter unterstützen. Die SKOS hat deshalb die Initiative lanciert, dass Arbeitslose über 55 in der Arbeitslosenkasse bleiben, statt Sozialhilfe zu beziehen. Das bedeutet eine Verlagerung von einer Kasse zur andern, mehr nicht.

 

Markus Kaufmann: Unser Modell 55+ ist für Leute, die lange im Arbeitsprozess waren. Die sollen im System bleiben. Wer mit über 55 nicht mehr zum RAV gehen kann, hat man keine realistische Chance mehr, eine Arbeit zu finden. Oder nur in Einzelfällen. Nach dem Verlust der Arbeitsstelle gibt es eine schwierige Phase. Zuerst wird das Vermögen aufgebraucht und der psychische Zustand verschlechtert sich rapide. Man kann als gut situiertes Mitglied der Mittelschicht in die völlige Armut absinken, muss Haus und Auto verkaufen und das Vermögen bis auf 4000 Franken aufbrauchen. Dann kommt man in die Sozialhilfe. Jetzt muss auch das Altersguthaben, aufgelöst werden. Gegen 60 hat man nichts mehr. Bis zur AHV mit Ergänzungsleistungen (EL) lebt man von der Sozialhilfe. So sieht es heute aus. Was wir anstreben, ist eine Zwischenstufe auf dem Niveau der EL. Nicht so viel, dass der Arbeitgeber in der Meinung künden kann, der Mitarbeiter sei bestens abgesichert. Der Arbeitslose muss so seinen Lebensstandard zwar massiv reduzieren, aber er wird nicht mehr in die Sozialhilfe abrutschen. Er kann ein gewisses Niveau halten und hat damit auch grössere Chancen, wieder Arbeit zu finden.

 

faktuell.ch: Verlagert sich damit nicht einfach die Finanzierung des Problems?

 

Markus Kaufmann Die Arbeitslosenzahlen der 55+ sollen aufgrund des demografischen Wandels abnehmen. Das macht das Ganze finanzierbar. Und nicht zu vergessen: Wenn ein über 55Jähriger einen starken sozialen Abstieg durchmacht, vom System runtergedrückt wird, dann ist dies auch mit psychischen Problemen verbunden. Wer psychisch so stark leidet, dass ein Klinikaufenthalt nötig wird, kostet den Steuerzahler rasch das -zigfache dessen, was wir vorschlagen.

 

faktuell.ch: Es geht Ihnen also in erster Linie darum, dass älteren Arbeitslosen ihr Selbstwertgefühl erhalten bleibt…

 

Markus Kaufmann: … es geht um Menschenwürde und auch um das Finanzielle. Leute aussortieren kann nur ein Drittweltstaat. Da lässt man die Leute in den Slums, wo sie zugrunde gehen. In der Schweiz werden Ausgesteuerte schnell teurer, wenn sie gesundheitliche und psychische Probleme haben.

 

faktuell.ch: Psychische Diagnosen haben auch zahlreiche IV-Rentner. Bei den unter 30-jährigen sind es ganze zwei Drittel. Die Sozialkommission des Nationalrats will die Schraube anziehen und den unter 30-jährigen keine IV mehr ausrichten. Was halten Sie davon?

 

Markus Kaufmann: Ich habe oft erlebt, dass junge Leute bis 30 im Haus der Eltern wohnen und nichts tun, um sich zu integrieren, wenn der nötige Druck und die Unterstützung seitens der IV fehlt. Da ist es sinnvoll, auf Integration zu setzen und nicht auf definitive Rente. Das Potenzial junger Menschen muss genutzt werden. Das ist auch im Sinn der Sozialhilfe. Die IV darf aber nicht das System der Arbeitslosenversicherung übernehmen und Menschen, bei denen die Integration nicht funktioniert, nach ein paar Jahren aussteuern. Diese Menschen frühzeitig in die Sozialhilfe abzuschieben, ist weder für die Betroffenen noch für die Gesellschaft sinnvoll.

 

faktuell.ch: Sie, die SKOS, behaupten, dass mit der Verschärfung der Invalidenversicherung mehr frühere IV-Bezüger zur Sozialhilfewechseln. Was das Bundesamt für Sozialversicherung aber bestreitet. Können sie sich einigen?

 

Markus Kaufmann: Es gibt Zahlen, die zeigen, wie viel Personen in einem Jahr auf IV sind und im Jahr darauf in der Sozialhilfe. Wir haben gegenwärtig etwa 14'000 Abgänge aus der IV pro Jahr. Rund 2500 kann man nicht klar definieren, etwa 500 von ihnen in der Sozialhilfe.. Das ist nicht allzu viel, aber wir stellen fest, dass wir in den letzten sechs Jahren weniger IV-Renten und deutlich mehr Sozialhilfefälle haben. Gerade bei den über 55- jährigen. Die härtere Praxis der IV wird sicher dazu führen, dass weniger Gesuche eingereicht und gewisse Gesuche deutlicher abgelehnt werden. Die IV ist zum grössten Teil versicherungsfinanziert und zum Teil auch durch Bundesmittel. Die Sozialhilfe ist Sache der Gemeinden und Kantone. Da findet natürlich ein Kampf zwischen den verschiedenen Staatsebenen statt. Wichtiger als diese Finanzfrage ist aber, dass die Systeme gut aufeinander abgestimmt sind und die Integration optimal funktioniert. Psychisch belastete Junge sind bei den IV-Beratern besser aufgehoben als wenn sie in der Sozialhilfe landen.

 

faktuell.ch: Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist nicht nur wegen psychischer Belastungen, sondern auch wegen der Digitalisierung schwierig, die Arbeitsplätze vernichtet. Wie sehen Sie die Zukunft?

 

Markus Kaufmann: Ich bin nicht grundsätzlich pessimistisch. Wir haben in der Geschichte ähnliche Situationen gehabt. Im 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz Aufstände gegen die automatischen Webstühle. Aber die Anzahl der Arbeitsstellen ist trotzdem gewachsen. Gleichzeitig steigt das Ausbildungsniveau massiv in der Schweiz, weil wir intensiv in die Ausbildung investieren. Auch bei Migranten. Viele Leute aus der Zweitgeneration besetzen in der Schweiz wichtige Positionen. Diese Leute haben wir integriert.

 

faktuell.ch: Verlierer wird es doch trotzdem geben?

 

Markus Kaufmann: Richtig. Es braucht deshalb ausgleichende Mechanismen. Es wird Leute geben, denen die Voraussetzungen fehlen, in dieser Gesellschaft zu bestehen, die immer höhere Anforderungen stellt. Für diese Leute muss der Staat Unterstützung bieten. Ausschliessen kann er sie nicht. Ich bin keineswegs Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ich bin der Meinung, dass man den Leuten die Möglichkeit geben muss, sich sinnvoll in die Gesellschaft einzubringen – durch Arbeit, wenn sie dazu in der Lage sind.

 

faktuell.ch: Etwa mit der Arbeit in Sozialfirmen, die den vorhandenen Kenntnissen und physischen Möglichkeiten angepasst ist?

 

Markus Kaufmann: Ja, aber besser als Beschäftigung ist Ausbildung. Das ist Ziel unserer Weiterbildungsoffensive: Es braucht Bildungsangebote für Sozialhilfebeziehende und Abschlüsse unter dem Berufsattest. Das geht im Pflege -, Gastro- und Reinigungsbereich sehr gut. Da kann man erste Schritte machen. Gerade jungen Menschen bringt Durchlässigkeit eine zweite und auch eine dritte Chance. Es gibt viele, die es dann auch schaffen. Es braucht verschiedene Unterstützungssysteme. Wenn wir Arbeitsintegration nur durch finanzielle Anreizsysteme erreichen wollen, sind gewisse Leute von vorherein ausgeschlossen. Die leben dann irgendwo. In Banlieues wie in Frankreich. Ich betrachte es als grosse Errungenschaft, dass es so etwas in die Schweiz noch nicht gibt. Ausserdem sind Banlieues nicht billig. Die Jungen werden kriminell und das kostet sehr viel. Deshalb sollten wir in der Schweiz die Integration als Ziel beibehalten.

 

faktuell.ch: Sie sind jetzt seit eineinhalb Jahren Geschäftsführer der SKOS. Was liegt Ihnen besonders am Herzen?

 

Markus Kaufmann: Die Bildungsoffensive und 55+, beides Vorhaben, die wir in diesem Jahr diskutiert haben. Weiterhin ein Dauerthema sind die Familien. Vor allem die Alleinerziehenden. Das ist das einzige Grossrisiko, das nicht abgesichert ist. 25% der Alleinerziehenden sind in der Sozialhilfe. Besonders stark betroffen sind die Frauen. Einer meiner Vorgänger hat 1943 einen Artikel verfasst mit dem Titel «Die Ursachen der Armut». Darin sind bereits die meisten Ursachen enthalten, die wir auch heute kennen. Sie heissen höchstens etwas anders. Damals wurde von «Idiotie» oder «Schwachsinn» gesprochen. Psychische und physische Invalidität wird heute über die IV abgesichert. Beim «Tod des Ernährers» gibt es heute die AHV. «Arbeitsscheu» und «Müssiggang» sind auch heute noch Themen in der Sozialhilfe. Im Fall «uneheliche Geburt» gibt es heute die Alimentenbevorschussung. Trotzdem leben 25% der allein Erziehenden in Armut und werden von der Sozialhilfe unterstützt. Gewisse Kantone bieten Familienergänzungsleistungen, was ich für sehr sinnvoll halte. Kinder sollten nicht in einem Umfeld aufwachsen, das sie denken lässt, sie hätten ohnehin keine Chance. Die Teilhabe an der Gesellschaft muss gewährleistet sein. Deshalb kritisiere ich die Entscheide von Baselland und Aargau, bei denen diese Problematik völlig ausgeblendet wird. Wenn die Entscheide umgesetzt werden, dann werden die Leistungen um ein Drittel gestrichen. Kinder können aber nichts dafür, dass die Eltern getrennt sind oder dass sie nur einen Elternteil haben. Bei Trennung gibt es keine finanzielle Absicherung wie beim Todesfall des Mannes. Es gilt, eine Lösung zu finden, die verhindert, dass die Armut praktisch vererbt wird.

 

faktuell.ch: Im Klartext: Baselland will kurzfristig sparen und befasst sich nicht mit den langfristigen Konsequenzen?

 

Markus Kaufmann: Ich komme auf erwähnten Artikel von 1943 zurück. Für die Motionäre in Baselland scheint das Problem einzig in «arbeitsscheu» und «Müssiggang» zu bestehen. Daher komme die Armut. Das greift definitiv zu kurz und verkennt die vielen Gründe, die zu Armut führen, so wie sie schon vor 70 Jahren beschrieben wurden. Ein wichtiges Argument der Sozialhilfekürzer: Jeder könne gegen Sanktionen Einsprache machen. Das sei zu aufwändig für die Gemeinde. Wenn man dieses Argument durchzieht, stellt man den Rechtsstaat in Frage. Auch der Rentner, der sich dagegen wehrt, dass die Gemeinde eine Strassenlampe vor sein Haus pflanzt und damit vor Bundesgericht geht, kann für die Gemeinde ganz schwierig sein. Aber so funktioniert ein Rechtsstaat. Dass Baselland jetzt allen die Sozialhilfe kürzt…

faktuell.ch: …weil sie faul sind…

 

Markus Kaufmann: …schwierige und demotiverte Leute hat es immer gegeben, das kann man nicht abstreiten.

 

faktuell.ch: Also Leute, die finden, dass man von der Sozialhilfe allein leben kann?

 

Markus Kaufmann: Wenn die Gesellschaft aus «faulen» Leuten direkt Kriminelle macht – und solche Phasen haben wir in der jüngeren Geschichte unseres Landes gehabt –, dann sind wir wieder bei den administrativ Versorgten. Denn das waren die Faulen, zum Teil schon 16- bis 17-Jährige. Ein Mädchen in diesem Alter landete zu dieser Zeit z.B. wegen «unsittlichem Lebenswandel» für Jahre im Gefängnis Hindelbank . Was wir daraus lernen sollten: Es braucht Verhältnismässigkeit. Es gibt sicher ganz schwierige Leute, die Sozialhilfe beanspruchen. Die kann man faul nennen. Hier reagieren wir mit dem Ansatz «Fordern und Fördern». Genau für diese Leute haben wir ein klares System mit Auflagen und Sanktionen in den SKOS-Richtlinien geschaffen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 


Markus Kaufmann ist ausgebildeter Sozialarbeiter und verfügt über langjährige Erfahrung im Sozial- und Gesundheitswesen. Er war als Projektleiter Gesundheitsförderung und Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) sowie Geschäftsführer der Vereinigung der kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF) tätig. Zuvor war er in den Städten Biel und Bern in der Jugendarbeit angestellt.

 


Martin Klöti: "Es ist nicht meine Haltung, dass man Sozialhilfeempfänger wie Kriminelle kontrollieren muss."

faktuell.ch im Gespräch mit dem St. Galler FDP-Regierungsrat Martin Klöti, Präsident der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK)

Martin Klöti

faktuell.ch: Die SODK hat 2016 die neuen Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) abgesegnet und damit politisch legitimiert. Seither ist es um die SKOS spürbar stiller geworden, die für viele Bürgerliche zuvor ein „rotes Tuch“ darstellte. Was hat sich mit dieser politischen Legitimation geändert, Herr Klöti?

 

 

Martin Klöti: Damit manifestiert sich, dass die SODK auf der politischen Ebene stützt, was der Verein SKOS sich fachlich vorstellt. Das ist manchmal politisch harte Kost, weil mit hohen Kosten verbunden. Wir könnten der SKOS sagen, ihre Anliegen seien zu teuer und sie wie vorher allein machen lassen. Wir haben uns aber anders entschieden: Für ein Bekenntnis, dass die SODK nach einer Dialogperiode, einem Abwägen voll hinter den SKOS-Richtlinien steht. Das war ein grosser Schritt und verleiht den SKOS-Richtlinien mehr Bedeutung. Aber sie bleiben Richtlinien. Die Kantone können damit umgehen wie sie wollen. Sie können sie als verbindlich erklären oder sie können sagen, es handle sich um eine Empfehlung. Im Kanton St. Gallen sind die SKOS- Richtlinien seit jeher eine Empfehlung. Die kantonalen Richtlinien liegen sogar unter den SKOS-Ansätzen. Unsere Sozialämter haben sie bereits seit längerer Zeit definiert. Die Gemeinden, die für die Sozialhilfe aufkommen, müssen dahinterstehen können. Die Gemeindeautonomie hat bei uns einen hohen Stellenwert.

 

 

faktuell.ch: Bleiben wir noch ein wenig beim Verhältnis SKOS-SODK. Die neuen Richtlinien der SKOS wurden unter ihrem Vorgänger, dem Solothurner Sozialdemokraten Peter Gomm, angepasst. Ist es für die Akzeptanz der Richtlinien von Vorteil, das mit Ihnen ein Vertreter der Wirtschaftspartei FDP das SODK-Präsidium übernommen hat?

 

Martin Klöti: Ja. Es hat natürlich auch unter den Sozialdirektoren Bürgerliche, sie bilden sogar die Mehrheit. Wenn wir eine Politik machen wollen, die für alle Kantone gilt, müssen wir Argumente von allen Seiten ausdiskutieren und ausbalancieren. Ich war beim Ausarbeiten der neuen SKOS-Richtlinien als Vizepräsident der SODK dabei. Die Arbeit mit dem neuen Ko-Präsidium der SKOS mit Felix Wolffers und Therese Frösch war sehr gut, weil die Beiden praxisorientiert sind.

 

faktuell.ch: Was heisst das?

 

 

Martin Klöti: Jede Organisation oder jeder Staat zeichnet sich dadurch aus, wie er mit den schwächsten Mitgliedern umgeht. Mir ist es wichtig, dass wir zeigen, wie gut unser Staat ist. Prozentual haben wir gar nicht so viele Sozialhilfebezüger. Sie stehen nur immer im Schaufenster. In unserer Gesellschaft zählt, wer arbeiten und sich absichern kann. Das ist unser Selbstverständnis. Und so manifestiert sich leider gelegentlich die Haltung, dass alle Sozialhilfeempfänger Profiteure seien. Selbst wenn es sich dabei um Menschen handelt, die sich in einer Notlage befinden – wie zum Beispiel eine Frau, die in Trennung lebt und Kinder hat. Es ist nicht meine Haltung, dass man Sozialhilfeempfänger wie Kriminelle kontrollieren muss. Die Kontrolle erfolgt über unsere Sozialämter auf Gemeindeebene und sie tun dies gut, indem sie in engem Dialog mit diesen Menschen stehen. Darauf verlasse ich mich.

 

 

faktuell.ch: Warum braucht ein Sozialhilfeempfänger Anreize, damit er eine Arbeit sucht?

 

 

Martin Klöti: Wenn jemand arbeiten will, braucht es den Anreiz kaum. Aber wenn Leute nicht arbeiten wollen, dann ist der Anreiz auch der, dass man etwas kürzt, keine Zusatzmöglichkeiten mehr gibt, kein Billett, damit er irgendwo hinfahren oder eine Veranstaltung besuchen kann. Das sind dann Anreize, bei denen er merkt: hoppla!

 

 

faktuell.ch: In der Sozialhilfe, so sagt die SKOS, sollte überall der gleiche Massstab angelegt werden, sonst entsteht Sozialtourismus. Das ist der Sinn der SKOS-Richtlinien. Inzwischen scheren mit Getöse die Kantone Zürich und Bern aus, also der grösste NFA-Geber-Kanton und der grösste NFA-Nehmer-Kanton. Weisen die grossen Kantone hier den Weg, wie es mit den SKOS-Richtlinien weitergehen soll?

 

 

Martin Klöti: Nein, ganz klar nein. Wir haben das in der SODK untersucht und diskutiert. Es gibt keinen Domino-Effekt. In Bern hat man zuerst von einer Kürzung von 10 Prozent gesprochen, jetzt noch von 8 Prozent. Aber dafür will der Kanton Bern den Anreiz bei den Integrationsmassnahmen geben: Lieber etwas mehr Geld für die Integration in den Arbeitsprozess, als nur bei der Grundpauschale die Kasse klingeln zu lassen. Wenn man an der Grundpauschale schraubt, dann muss man etwas anderes bieten. Das muss aber nicht für alle Kantone gelten. Schweizweit gilt der Ansatz, den die SODK zusammen mit der SKOS definiert hat. Aber eben nur als Richtlinie.

 

 

 

faktuell.ch: Die Kantone haben sich mehrheitlich immer gegen ein schweizerisches Rahmengesetz für Sozialhilfe gewehrt, wie es die SKOS seit vielen Jahren fordert. Nicht zuletzt wegen der ausscherenden Kantone Zürich und Bern scheint wieder Bewegung in die Frage gekommen zu sein: Ein Vorstoss der grünliberalen Fraktion im Dezember 2017 fordert ein Konkordat oder ein nationales Rahmengesetz. Ist die Zeit doch langsam reif für ein Rahmengesetz?

 

 

 

Martin Klöti: Nein. Wir haben das im Vorstand der SODK angesprochen. In unserem nationalen Dialog Sozialpolitik hat Bundesrat Alain Berset mit der Möglichkeit eines Rahmengesetzes gespielt. Aber die Kantone haben ein solches abgelehnt. Wir halten an der Aufgabenteilung im Föderalismus fest. Da geht es ganz tief runter auf die Stufe der Gemeinden. Der Bund kann da nicht mitreden. Vor allem, weil er nicht zahlt.

 

 

 

faktuell.ch: 2016 und 2017 hat die SKOS auf die explodierenden Sozialhilfekosten hingewiesen, die auf die Gemeinden und Kantone zukommen, wenn ihnen der Bund für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene, die auf Sozialhilfe angewiesen bleiben, nach fünf bzw. sieben Jahren die volle finanzielle Verantwortung überträgt. Was ist aus dem „runden Tisch“ geworden, den die SKOS zwecks Entschärfung des Problems vorgeschlagen hat?

 

 

 

Martin Klöti: Den braucht es gar nicht mehr, weil wir mit dem Ko-Präsidium der SKOS einen nahen und durchlässigen Kontakt haben. Wir sehen uns regelmässig an Vorstandssitzungen und führen einen laufenden Dialog. 2018 gehen die offiziellen Prognosen von 16'000 bis 20'000 Asylsuchen aus. Das ist verkraftbar und nicht mit 2015 und 2016 zu vergleichen…

 

 

 

faktuell.ch: … ändert aber nichts daran, dass die Welle 2015/2016 auf die Gemeinden und Kantone zurollt.

 

 

 

Martin Klöti: Ja, die ist da. Genau dafür brauchen wir die Erhöhung der Integrationspauschale. Unser kantonales Integrationsprogramm für die Jahre 2018 bis 2021 sieht deshalb Ausgaben von fast 30 Millionen Franken vor – schätzungsweise rund 16 Millionen an Integrationspauschalen durch den Bund für anerkannte Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommene (VA), knapp 7 Millionen spezifische Integrationsförderung vom Bund und knapp 7 Millionen spezifische Integrationsförderung vom Kanton. Anders ausgedrückt: 80 Prozent des Budgets für diese vier Jahre ist für den Förderbereich «Bildung und Arbeit» bestimmt, 11 Prozent für «Information und Beratung» und 9 Prozent für «Verständigung und Zusammenleben.»

 

 

 

faktuell.ch: Und mit diesen Mitteln…

 

 

 

Martin Klöti: …glaube ich, dass wir auch die angesprochene Welle einigermassen dämmen können. Natürlich gibt es einen Schub. Aber wenn die Flüchtlinge einmal in den Gemeinden sind und die Einwohner sie wirklich kennenlernen, dann wollen sie sie gar nicht mehr hergeben. Ich nehme das Beispiel eines Asylbewerbers, der im lokalen Fussballklub spielt. Er hat seinen Ausreisebescheid erhalten. Jetzt kämpft die ganze Gemeinde dafür, dass er bleiben kann.

 

 

 

faktuell.ch: Die grösste Flüchtlingszahl kommt seit Jahren aus Eritrea, immer mehr auch unbegleitete Minderjährige. In Leserbriefen und auf Social Media reisst die Kritik insbesondere an ihnen nicht ab. Da ist von angeblichen Schafhirten die Rede, die im Restaurant mit Kennermiene an einem Gläschen Wein schlürfen…

 

 

 

Martin Klöti: ... zum Glück haben die noch Freude am Leben! Es macht mir immer Sorgen, wenn man Leute abstempelt. Nicht alle sind gleich. Wir haben Eritreer in Familien, die sich sehr gut entwickeln und bei uns in St. Gallen und in Graubünden über ein Teillohnmodell Fuss fassen. Wir hatten damals ja auch das Thema mit den Tamilen. Plötzlich waren so viele da. Die gingen aber in den Restaurant-Küchen abwaschen und störten deshalb niemanden. Auch bei den Eritreern kann sich etwas entwickeln, das für sie und uns passt. Dann kann eine ganze Generation beginnen, sich zu organisieren und zu arbeiten. Für junge Menschen ist es keine Freude, in einem Land nicht zu arbeiten, in dem alle immer am Arbeiten sind. Das kann nicht über Jahre hinweg so gehen. Glauben sie mir, die fühlen sich dabei nicht gut.

 

 

 

faktuell.ch: Sie wenden im Kanton St- Gallen, wie sie sagten, 9 Prozent des Integrationsbudgets für Verständigung und Zusammenleben auf. Damit sie wissen, wie’s bei uns läuft. Und wie steht es mit Information für Schweizerinnen und Schweizer über die Menschen, die aus fremden Kulturen zu uns kommen?

 

 

 

Martin Klöti: Integration ist ein Aufeinanderzugehen. Ich gehe durch den ganzen Kanton und predige, dass wir von den Zuwanderern etwas lernen können. «Diversity», Vielfalt, heisst nichts anderes, als von andern Kulturen, vom andern Geschlecht Fähigkeiten abzuholen. Wenn wir glauben, wir seien die einzigen, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, und wissen wie es geht, dann liegen wir gründlich falsch. Wenn wir lernen würden, mit wie wenig Menschen glücklich sein können, und wie gross ihre Kommunikationsmöglichkeiten sind, indem sie sich den ganzen Tag Geschichten erzählen. Das können wir uns ja kaum vorstellen.

 

 

 

faktuell.ch: Das kann, wie immer gesagt wird, eine Bereicherung sein. Das Problem: Kulturen, die von der Gleichberechtigung der Frau gar nichts halten. Gleichberechtigung ist eine Errungenschaft der letzten 40 Jahre, die durch Zuwanderung gefährdet ist. Es kommen nicht in erste Linie aufgeklärte und liberale Muslime nach Europa...

 

 

 

Martin Klöti: … natürlich nicht. Aber wir müssen denen auch einen Weg auftun. Deshalb rede ich mit Imamen. Wir führen mit ihnen Seminare durch. Wir zeigen ihnen, wie eine gesellschaftliche Integration in unserem Land funktionieren kann. Wir haben sehr interessante Modelle, zum Beispiel in Wil mit einer neuen Moschee, die ein kulturelles Begegnungszentrum ist. Die Türen sind offen. Ich kann mit Imamen und der islamischen Gemeinschaft Kaffee trinken. Die freuen sich. Aber man muss den ersten Schritt eben selbst machen. Zu Habib Bourguibas Zeiten, in den 1950er Jahren, hatten in Tunesien die Frauen das Stimmrecht – weit vor den Schweizerinnen. Alle mussten eine Ausbildung machen. Frauen und Männer. Gleichwertig. Deshalb kann man nicht einfach alle in eine Ecke stellen. Das ist gefährlich.

 

 

 

faktuell.ch: Trotzdem: Viele Flüchtlinge halten gar nichts von der Gleichberechtigung der Frau. Im Ergebnis haben wir es mit einem Rückschritt zulasten der Frauen zu tun, einer rückläufigen Bewegung…

 

 

 

Martin Klöti: …ja aber nicht alles ist rückläufig. Muslime, die zu uns kommen und bleiben, sind nicht fundamentalistisch. Ohnehin praktizieren nur etwa 30 Prozent ihren Glauben. Schlechte Beispiele müssen wir nehmen, um die Mitglieder dieser Gemeinschaft zu informieren und zu sagen: «Schaut, wenn ihr so weitermacht, dann funktioniert es bei uns nicht.» Deshalb ist auch der Nationale Aktionsplan gegen Radikalisierung so wichtig: aufmerksam sein, die Leute ansprechen und ihnen sagen, dass gewisse Haltungen bei uns nicht erlaubt sind. Wer sich radikalisiert, für den hat es keinen Platz in unserer Gesellschaft.

 

 

faktuell.ch: In ihrem Papier „Arbeit statt Sozialhilfe“ fordert die SKOS Qualifizierungsprogramme für Flüchtlinge innert drei Monaten nach dem Entscheid über das Bleiberecht. Sie sollen obligatorische Berufseinstiegskurse besuchen, in den Sektoren Gastgewerbe, Bau, Reinigung, Hauswirtschaft, Landwirtschaft sollen Ausbildungsplätze geschaffen werden. Zusätzliche Kosten pro Jahr: 125 Millionen Franken.

 

 

Martin Klöti: Hat meine volle Unterstützung, finde ich ganz gut!

 

faktuell.ch: Sicher gut im Ansatz. Aber die Beschäftigungschancen von gering Qualifizierten in der Schweiz sinken dramatisch. So gesehen wirkt das Projekt „Arbeit statt Sozialhilfe“ wie eine teure Beschäftigungstherapie, die nie einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben wird.

 

 

Martin Klöti: Was könnten sie denn arbeiten? Sie haben zum Teil weder Schulabschlüsse noch Berufslehre. Es hat Leute mit akademischem Hintergrund, besonders unter den Syrern. Aber der Haupanteil der Flüchtlinge aus Kriegsgebieten hängt schon seit Jahren in der Sozialhilfe. Es ist für sie schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden, weil es in den Segmenten, in denen man sie platzieren könnte, noch ganz andere Interessenten hat. Das ist die Schattenseite unserer Entwicklung. Wenn wir in der Technologie derartige Fortschritte machen, dass wir einfache Arbeiten überall vor lauter Effizienz rausspülen, dann gibt es einen Anteil von Menschen, die nicht mehr beschäftigt werden können.

 

 

 

faktuell.ch: Etwa ein Viertel der Sozialhilfeempfänger werden in der Sozialhilfe praktisch „berentet“, weil sie offenbar nicht mehr vermittelbar sind. Viele meinen, es gebe genügend Arbeiten, die die meisten von ihnen als Gegenleistung für die Sozialhilfe erledigen könnten – oft erwähnt wird das Beispiel für Sauberkeit sorgen, Abfall einsammeln – wie es in den USA auch arbeitslosen Professoren zugemutet wird.

 

Martin Klöti: Sozialhilfe darf man nicht mit Strafaufgaben verbinden. Abfall einsammeln ist nun wirklich nicht die schlauste Beschäftigung. Aber genau für dieses Segment der nur noch schwer vermittelbaren Sozialhilfeempfänger suchen wir Beschäftigung. Jede KMU im ganzen Land, die von einem Patron geführt wird, beschäftigt Menschen, die sozial nicht mithalten kann. Sie können im Lager etwas sortieren und aufräumen. Aber wenn zunehmend nur noch Effizienz gefragt ist, dann fliegt genau diese Gruppe als erste raus. Mit unserem Wahn, dass alles immer lukrativer werden soll, sind wir einfach falsch unterwegs.

 

faktuell.ch: Auf eine Veränderung zu hoffen ist aber illusorisch…

 

 

 

Martin Klöti: …ja da brauchen wir ein Gesetz, das diese Leute schützt und ihnen die Existenz ermöglicht.

 

faktuell.ch: Zürichs Sozialvorsteher Raphael Golta (SP) will gering qualifizierte Sozialhilfebezüger, die nicht arbeiten wollen oder können, nicht in „eine Beschäftigung prügeln“, wie er sagt, sondern sie quasi blanko unterstützen. Ist diese Haltung, die Sie ja auch vertreten, mehrheitsfähig?

 

 

Martin Klöti: Jemanden mit Sozialhilfe ausstatten oder ihn in die Arbeit zu prügeln – da liegt ein weiter Weg dazwischen. Die Lösung muss in der Mitte liegen. Es braucht eine sehr enge Betreuung. Dafür haben wir gut ausgebildete, jüngere Leute, studierte Sozialpädagogen. Sie müssen herausfinden, was für einen Betroffenen in diesem Lebensabschnitt das Richtige ist. Die Situation kann sich verändern, dann kann man zurückfahren oder noch weiterentwickeln. Das ist individuell verschieden.

 

faktuell.ch: Also nicht schwarz/weiss respektive bonus/malus?

 

 

 

Martin Klöti: Nein, so einfach geht es nicht.

 

 

 

faktuell.ch: Das neue Rezept, Flüchtlinge möglichst rasch in Arbeit zu bringen, heisst „Coaching“. Selbst die privaten Betreuungsfirmen von Asylzentrum wechseln das Personal aus – vom Wärter zum Coach, um am Geschäft teilzuhaben. Ohne Garantie, dass die Leute auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind und ohne Rücksicht auf die Steuerzahler. Wer sagt mal stopp und legt fest, was volkswirtschaftlich etwas bringt?

 

Martin Klöti: Wenn ich das Beispiel Kanton St.Gallen nehmen darf: Sprachförderung. Die Sprachförderung ist ein grosser Markt. Der Kanton fokussiert sich auf die Förderung professioneller Deutschkurse und arbeitet mit akkreditierten Deutschschulen zusammen. Die Gemeinden stellen mit den Quartierschulen ein niederschwelliges Deutschlernangebot vor Ort bereit. Deutsch zu beherrschen stellt einen Schlüssel für die soziale Integration aber auch die Integration in den Arbeitsmarkt dar. Deshalb ist es notwendig, dass auch professionelle Kurse mit einem verlässlichen Nachweis der Sprachkompetenzen besucht werden können. In den Quartierschulen wird den Flüchtlingen hingegen nicht nur Sprachkompetenz vermittelt, sondern sie lernen das Leben in der Schweiz kennen. Und die Leute. Die Sprache ist dort kein Unterrichtsfach, sondern sie wird angewendet. In den Quartierschulen gibt es nicht nur Sprachlehrer, sondern auch Pensionierte. Sie kommen mit einem so genannten Sprachkoffer in den Unterricht. Dieser enthält viel Unterrichtsmaterial für den Alltag, die Praxis. Sie verbringen mit den Flüchtlingen in spielerischer Form einfach die Zeit. Nicht eine Lektion, sondern einen halben Tag. Sie arbeiten und essen zusammen und das ist unterhaltsam. Die Flüchtlinge lernen dabei vielleicht jemanden aus einem Unternehmen kennen oder sie werden Mitglied in einem Verein, wo sie wieder Leute kennenlernen. Wir versuchen, sie so ins gesellschaftliche Netzwerk einer Gemeinde zu integrieren.

 

 

faktuell.ch: Und der Kostenpunkt?

 

 

Martin Klöti: Da laufen wir nicht Gefahr, zu viel auszugeben. Fremdsprachige Personen mit niedrigem Einkommen haben die Möglichkeit, bis zu einem gewissen Mass vergünstigte Deutschkurse zu besuchen. In den Quartierschulen arbeiten die Leute zum Teil auf freiwilliger Basis. Mit geringen Mitteln. Kursleitende, welche in vom Kanton akkreditierten Deutschschulen unterrichten, erhalten einen anständigen Lohn, damit auch wirklich gute Leute eingestellt werden können. Eskalierende Stundenansätze lassen wir nicht zu. Natürlich gibt es immer Leute, die das System ausnutzen wollen.

 

 

faktuell.ch: Und da schaut man wirklich genau hin?

 

 

Martin Klöti: Sehr genau! Die Integrationspauschale an die Gemeinden muss über den Kanton ausgerichtet werden. Die Gemeinden müssen belegen, was sie damit tun. Es würde mich sehr überraschen, wenn es im Bereich der Integrationsmodelle Profiteure gäbe.

 

faktuell.ch: An den Flüchtlingskosten scheiden sich die Geister – auch hier zeigen Leserbriefe und Social Media-Kommentare, was provoziert. Warum stemmen sich eigentlich jene, die es wissen müssten, so gegen diese Transparenz?

 

 

Martin Klöti:  Die SKOS hat die Kosten für Sozialhilfe berechnet. Das ist Teil der Integrationsagenda. Diese ist noch nicht publiziert. Klar ist, dass die Sozialhilfe pro Person Fr.15‘000.- bis Fr. 18‘000 pro Jahr kostet. Mindestens. Um jemanden in den Arbeitsprozess zu bringen, braucht es mehr. Davon hat man aber einen Nutzen. Das Geld kommt zurück. Sonst müsste man ad infinitum weiterzahlen. Vor dieser Vollkostenrechnung müsste man dann wirklich Angst bekommen.

 

 

faktuell.ch: Wo immer Steuergeld im sozialen Bereich dabei ist, bei den bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie bei den Flüchtlingskosten, wird ständig an der Methodologie der statistischen Erhebungen geschraubt. Das nährt natürlich den Verdacht, dass man sich vor Vollkostenrechnungen fürchtet.

 

 

 

Martin Klöti: Was uns betrifft: Wir wollen es wirklich wissen. Für unsere ganze politische Argumentation ist das die Basis.

 

 

 

faktuell.ch: Weshalb haben Sie die Berechnung noch nicht?

 

 

 

Martin Klöti: Solche Arbeiten sind natürlich auch teuer. Bis die Kosten in jedem Kanton erhoben sind und vergleichbare Zahlen aufweisen, braucht es offensichtlich noch mehr Zeit. Die SKOS ist daran, die Rechnung aufzustellen, aber die kochen auch nur mit Wasser.

 

 

 

faktuell.ch: Sie haben das SODK-Präsidium im August 2017 übernommen und damit den Auftrag, Kinder früh zu fördern zwecks Chancengleichheit und Armutsbekämpfung. Die SODK hat die frühe Förderung zusammen mit der Erziehungs- und Gesundheitsdirektorenkonferenz für die Jahre 2018/19 zum Schwerpunktthema erhoben. Wie steht es mit den konkreten Massnahmen für diese präventive Sozialpolitik?

 

 

Martin Klöti: Frühe Förderung muss überall dort erfolgen, wo die Kinder sind – in der Familie oder in der KITA oder in spezifischen Angeboten. Deshalb ist es auch ein politisches Querschnittthema. Im Kanton St.Gallen gibt es seit 2015 eine Strategie "Frühe Förderung". Aktivitäten und der Aufbau von Angebote wie Familienzentren oder Spiel- und Elterngruppen werden gefördert und koordiniert. Wir wollen damit auch für Chancengleichheit beim Einstieg in die Schule sorgen. Ich habe selber zehn Jahre lang unterrichtet, als man noch nicht einen so hohen Anteil von Kindern in der Schule hatte, die kein Deutsch konnten. Es ist eine extreme Hypothek. Wir wollen vor der Schule etwas aufbauen, das nicht reiner Unterricht ist, sondern einfach eine gesunde Entwicklung und ein gutes Zusammenleben ermöglichen. Die Kinder werden deutlich vor dem Kindergarten gefördert.

 

 

faktuell.ch: Zeigt sich bereits, ob‘s bringt, was man sich davon verspricht?

 

 

Martin Klöti: In den Familienzentren, in denen wir frühe Förderung anbieten, sind in der Regel die Eltern dabei. Sie liefern die Kinder nicht ab wie in einer KITA, sondern sie nehmen teil. Dabei kommen sie auch untereinander in Kontakt. Da passiert ein horizontaler Austausch von Erfahrungen. In diesen Zentren kommen wir auch an Eltern heran, die man sonst gar nicht antrifft. Frauen dürfen nicht zum Haus hinaus, aber mit den Kindern geht das. So können wir sie motivieren, auch die Sprache zu lernen. Spielerisch. Über das Instrument frühe Förderung können wir viele – nicht nur intellektuelle, sondern auch soziale – Fähigkeiten fördern. Wir können Gesundheitsfragen angehen, wir können unsere Kultur erklären und sie uns ihre. Damit haben wir Kinder, die in der Schule nicht von Anfang an benachteiligt sind. Sie müssen wissen, dass man am Morgen rechtzeitig aufsteht und richtig angezogen ist, vielleicht ein Znüni mitbringt, ganz elementare Sachen. Wir wollen vermitteln, was es bei uns heisst, am Morgen pünktlich zum Haus hinaus zu gehen und dann einen Tag in der Schule zu verbringen.

 

 

faktuell.ch: Wie sehen die ersten Erfolge aus?

 

 

Martin Klöti: Ganz einfach. Kinder, die Punkt 8 in die Schule kommen sind klar besser unterwegs -  sprachlich und kulturell. Frühe Förderung ist eine etablierte Strategie mit vielen Beteiligten und sie wird sich auf andere Kantone ausbreiten. Wir im Kanton St. Gallen setzen dafür ein paar 100‘000 Franken ein. Die Wirkung ist längerfristig. Die kantonalen Massnahmen sind für die Jahre 2015 bis 2020 geplant. Dann kann auch festgestellt werden, was gut läuft.

 

 

faktuell.ch: Nach welchen Kriterien werden die Kinder ausgelesen für die frühe Förderung?

 

 

Martin Klöti:  Das läuft sehr niederschwellig. Es ist ja ein ganzes Bündel von Massnahmen. Da muss man sich bei jeder Massnahme überlegen, wie die Eltern und Kinder angesprochen werden können. So läuft das. Darin, glaube ich, besteht der grosse Erfolg. 

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

 

 

 

 


Susanne Hochuli: "Vielen Leuten, die die Prämien nicht bezahlen, geht es oft nicht schlecht, sie leisten sich einfach etwas anderes."

faktuell.ch im Gespräch mit Susanne Hochuli, Präsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz

 

Susanne Hochuli

faktuell.ch: Frau Hochuli, die Gesundheit kostet in der Schweiz jährlich 70 bis 80 Milliarden Franken. Wie eine im Februar 2018 veröffentlichte Studie des Instituts Vimentis zeigt, beschäftigt am meisten Schweizerinnen und Schweizer (18%) die Gesundheitspolitik – noch vor der Immigrations- und Asylpolitik (15%, resp. 12%). Im Gesundheitswesen soll gespart werden. Wo ist mit Sparen prioritär anzusetzen?

 

Susanne Hochuli: Wichtig ist, dafür zu sorgen, dass Kosten gar nicht entstehen. Was macht Gesundheit aus? Die medizinischen Leistungen und das Versorgungssystem sind mit etwa 10 % daran beteiligt, die Genetik mit 20%, der Lebensstil mit 40% und die Lebensumstände mit  30%. Da muss man ansetzen.

 

faktuell.ch: Der Lebensstil macht einen sehr grossen Prozentsatz aus…

 

Susanne Hochuli: … und beeinflusst damit die Gesundheit stärker als alle anderen Faktoren. Also sollten die Menschen möglichst so leben, dass sie nicht krank werden. Natürlich, chronische und nicht übertragbare Krankheiten können einen treffen, aber wir können viel dazu beitragen, dass es nicht passiert. Da würde ich ansetzen und mehr Geld in die Bereiche ausserhalb oder am Rand des gängigen Gesundheitssystems investieren. So würden die Kosten im System nicht mehr gleich stark ansteigen.

 

faktuell.ch: Patientenschutz heisst aber auch, der Anspruchshaltung der Patienten gerecht zu werden. Klingt nach mehr Kosten.

 

Susanne Hochuli: Ich finde durchaus, dass Patientinnen und Patienten einen hohen Anspruch haben dürfen. Aber es stimmt nicht, dass das Beste auch das Teuerste ist. Und wer sagt den Betroffenen, was das Beste ist?

 

 

faktuell.ch: Der Arzt mag das Beste für den Patienten wollen, aber er denkt natürlich auch ans eigene Portemonnaie und seine Praxisinvestitionen.

 

Susanne Hochuli: Im Spital sieht es gleich aus. Bestes Beispiel ist das MRI. In keinem anderen Land stehen so viele dieser Apparate herum wie bei uns. Die müssen amortisiert werden. Der Arzt zeigt mir sicher die medizinisch und je nachdem betriebswirtschaftlich beste Möglichkeit auf, aber wenn ich mir vorher keine Gedanken darüber gemacht habe, was für mich Lebensqualität bedeutet, wie soll ich dann wissen, ob die Behandlung damit korreliert? Wer krank ist, will zu Recht die beste Behandlung. Aber die kann auch nur in einer Kleinigkeit oder gar im Verzicht darauf bestehen.