· 

Monika Bütler: "Teuer sind nicht die Armen. Teuer ist der Mittelstand, der sich selber finanzieren könnte und es nicht tut."

 

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Monika Bütler, Professorin für Volkswirtschaftslehre und Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen

 

faktuell.ch: Frau Prof. Bütler, Sie sprechen in einer Kolumne von einer „tickenden Anstandsbombe“, wenn von der Finanzierbarkeit des schweizerischen Sozialstaates die Rede ist. Was meinen Sie damit konkret?

 

Monika Bütler: Jedes unserer Sozialsysteme – vielleicht mit Ausnahme der Altersversicherung, in der das Alter zweifelsfrei messbar ist – ist auf einen gewissen Anstand angewiesen, sonst funktioniert es nicht. Mit der Urbanisierung und Globalisierung nehmen die Hemmungen aber ab, Leistungen zu beanspruchen. Bedenklich ist es dann, wenn Leute Leistungen beziehen, die sich selber finanzieren könnten.

 

faktuell.ch: Müsste man jene bestrafen, die Leistungen unkontrolliert abgeben?

 

Monika Bütler: Missbrauch lässt sich nie verhindern. Zudem ist ein Grossteil der Fälle in der Grauzone. Sie sehen einem Menschen nicht an, ob er wirklich nicht arbeiten kann. Empirisch belegt ist allerdings: Je höher die Leistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unberechtigte Leistungen beantragen  – und, gerade weil es oft nicht eindeutig ist. diese Leistungen auch erhalten. Das Problem nur mit Kontrollen zu lösen, ist illusorisch.

 

faktuell.ch: Verschiedene Untersuchungen kommen zum Schluss, dass in der Schweiz auf jeden Sozialhilfebeziehenden mindestens zwei Personen kommen, welche berechtigte Unterstützungsleistungen nicht beanspruchen…

 

Monika Bütler: …da muss man unterscheiden. Es gibt eine grosse Gruppe von Leuten, denen Leistungen auf dem Papier zustehen, die aber nicht wirklich bedürftig sind. Ein Student, der in St. Gallen wohnt, gilt mangels Einkommen auf dem Papier als bedürftig, ist es aber natürlich nicht. Eine zweite Gruppe von Menschen bezieht die Leistungen aus Stolz oder anderen Gründen nicht, obschon sie wenig Geld hat. Viele AHV-Bezüger haben auch das Gefühl, Ergänzungsleistungen seien nur für Leute, die wirklich gar nichts haben, und nicht für solche, die bereits eine AHV-Rente haben. Eine dritte Gruppe kennt die ihnen zustehenden Leistungen nicht.

 

faktuell.ch: Hätte man da nicht die Pflicht, diese Leute auf ihre Ansprüche aufmerksam zu machen?

 

Monika Bütler: Die letzte Gruppe ja. Aber man muss nicht gerade den Schuhlöffel hinhalten Ein gutes Beispiel für mich: Die Stadt Luzern hat Betreuungsgutscheine für Krippen eingeführt. Jetzt zeigt sich, dass plötzlich viele Leute subventionierter Betreuung nachfragen, weil sie endlich wissen, wie sie zu einem subventionierten Platz kommen. Vorher war es so, dass jene, die den subventionierten Platz am meisten brauchten, keinen hatten.

 

faktuell.ch:Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat bekräftigt, dass sie an Leistungen mit Anreizcharakter festhalten will. Warum braucht es Anreize, damit sich jemand Mühe gibt, seine Lage zu verbessern?

 

Monika Bütler: Ich finde das Anreizsystem in der Sozialhilfe eine totale Fehlkonstruktion. Der Unterschied zwischen der Sozialhilfe und einem Erwerbseinkommen müsste den Anreiz bieten zu arbeiten. Offenbar tut sie dies nicht, weil sie zu grosszügig ist – gerade für Junge. Für einen 55-jährigen Ausgesteuerten gilt dies natürlich nicht. Zusätzliche Leistungen zu einer Sozialhilfe, die ohnehin mit dem sozialen Existenzminimum viel mehr als das Existenzminimum abdeckt, halte ich für einen teuren Unsinn. Was schlussendlich als Anreiz verkauft wird, ist in den meisten Fällen ein negativer Anreiz – ein Anreiz, ein paar Stunden zu arbeiten und dann wieder aufzuhören. Solche Anreize hindern die Leute eher daran, aus der Sozialhilfe herauszukommen.

 

faktuell.ch:Die Volkswirtschaftslehre erklärt, dass Individuen mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize reagieren. Kurz: Man nimmt, was aus freien Stücken offeriert wird…

 

Monika Bütler: ...und versucht das Beste draus zu machen. Das gilt nicht nur für Sozialhilfeempfänger, sondern auch für Firmen und Steuerzahler. Es wäre im übrigen sinnvoller, Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten in der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen nicht separat abzurechnen. Die Sozialhilfebezüger sollten den gesamten Betrag erhalten, der ihnen zusteht. Dann können sie selber entscheiden, ob sie mehr für eine Wohnung bezahlen oder ihre Zähne flicken lassen wollen. Das Aufschlüsseln der Leistungen führt eher zu Überkonsum. Gerade der Mietzinswucher in Zürich ist ein gutes Beispiel. Wenn die Sozialhilfeempfänger die Wohnungsmiete von 1100 Franken aus ihren Bezügen selber bezahlen müssten, würden viele ein solches Loch für ihr Geld nicht akzeptieren. Zahlt hingegen der Staat, nimmt man es hin. Gibt man den Leuten das Geld in die Hand, kann jeder damit das Beste für sich machen. Nehmen wir zum Beispiel die Ergänzungsleistungen: Weshalb soll ein alter Mann, der bescheiden in einem ganz kleinen Zimmer wohnt, und dafür jeden Tag sein „Zweierli“ trinken geht, weniger erhalten, als jemand, der Wohn- und Gesundheitskosten ausreizt? Ich finde das nicht besonders liberal. Die Anreize gehen in die falsche Richtung.

 

faktuell.ch: Die Leistungsbezüger sollen selber mehr Verantwortung übernehmen können?

 

Monika Bütler: Genau. Natürlich gibt es Menschen, die das nicht können, ihnen soll man helfen. Die meisten würden aber lernen, einzuteilen.

 

faktuell.ch: Mancherorts verspricht man sich viel vom Einsatz von Sozialinspektoren als Kontrolleure der Anspruchsberechtigung. Was halten Sie davon?

 

Monika Bütler: Ohne Kontrolle geht es nicht. Man kann auf zwei Arten dafür sorgen, dass die Leute sich an die Regeln halten: Entweder man kontrolliert oder man kontrolliert etwas weniger und wer erwischt wird, wird bestraft. Diesen Zielkonflikt gibt es überall, nicht nur in der Sozialhilfe, sondern auch bei den Steuern. Der Anstand der Leistungsbezüger und die Moral der Steuerzahler bilden ein Gleichgewicht, das die Schweiz so lange ausgezeichnet hat. Sinkt der Anstand, leidet die Steuermoral und der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar.

 

faktuell.ch: Auch zehn Jahre nach Einführung der Leistungen mit Anreizcharakter in der Sozialhilfe vermag die SKOS gemäss einer von ihr veranlassten Untersuchung keine „nachhaltige Wirkung“ nachzuweisen.

 

Monika Bütler: Das überrascht niemanden. Bei diesen offensichtlich falschen Anreizen brauche ich keine Studie.

 

faktuell.ch: Zum ersten Mal hat sich die SKOS entschlossen, in ihren Richtlinien Leistungskürzungen zu empfehlen – bisher wurden die Leistungen stets ausgebaut, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration zu fördern. Ab 2016 erhalten Junge und Grossfamilien ab sechs Personen von der Sozialhilfe weniger.

 

Monika Bütler: Die Sozialhilfe ist für mich für Junge immer noch zu hoch. Und sie ist in dieser Form weiterhin ein Hindernis für junge Leute, eine Lehre zu machen. Auch für Familien ist die Sozialhilfe zu hoch. Ich sehe selbst in meinem Bekanntenkreis, dass einige Familien nach den Steuern nicht mehr Geld zur Verfügung haben als eine Sozialhilfefamilie. Da stimmt etwas nicht.

 

faktuell.ch: Darf sich die Sozialhilfe in die Familienplanung einer Grossfamilie einmischen?

 

Monika Bütler: Furchtbar! Das wiederspricht völlig meiner liberalen Ansicht …

 

faktuell.ch: ... auch wenn sie es im Wissen tun, dass sie mit ihrem Verhalten der Allgemeinheit zur Last fallen?

 

Monika Bütler: Die Leute zu bevormunden – das funktioniert einfach nicht. Ich bin eher der Meinung, man sollte die Leistungen knapper ansetzen. Und man könnte auch den Müttern zutrauen zu arbeiten wenn es die Väter nicht tun.  

 

faktuell.ch: Thema Ausländerintegration: Bereits vor dem neuen, grossen Flüchtlingsstrom hat sich gezeigt, dass Arbeitsbeschaffung und Integration der Flüchtlinge ausserordentlich schwierig zu bewerkstelligen sind. Selbst 10 Jahre nach der Einwanderung sind um die 40 Prozent vollständig von der Sozialhilfe abhängig. Sind die Leistungen zu grosszügig?

 

Monika Bütler: Sie sind wirklich zu hoch – ausser für ältere Leute, die den Einstieg nicht mehr schaffen, da sind sie eher zu knapp. Das Problem mit den unqualifizierten Migranten ist, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nie so viel verdienen, um sich ein Leben wie in der Sozialhilfe leisten zu können. Bei Jungen und bei Familien kann man kürzen.

 

faktuell.ch: Die Krankenkasse ist in der Schweiz obligatorisch. 40 Prozent können sie nicht bezahlen und erhalten dafür Prämienverbilligungen. Weshalb können die Gesundheitskosten nicht einfach über die Steuern laufen?

 

Monika Bütler: Trotz aller Kosten ist die obligatorische Krankenkasse  mit Kopfprämie und Subventionen für Geringverdiener letztlich ein Erfolgsmodell. Werden die Gesundheitskosten über die Steuern bezahlt, dann sinkt auch der Druck zu Reformen, weil es für die einzelnen gar nicht mehr ehrsichtlich ist, wie teuer das Gesundheitssystem ist.

 

faktuell.ch: 2,2 Millionen von 8 Millionen Menschen in diesem Land leiden unter psychischen Krankheiten, heisst es im jüngst unbeachtet publizierten Nationalen Gesundheitsbericht. Woran liegt es, dass in einem reichen, vom Wohlstand begünstigten Land wie der Schweiz jeder vierte psychisch angeknackst ist?

 

Monika Bütler: Es gibt heute mehr Diagnosen. Das ist nicht nur schlecht, weil man so gewisse Krankheiten frühzeitig erfassen und behandeln kann. Schizophrenie ist ein sehr gutes Beispiel, weil die Betroffenen heute viel eher beruflich und sozial voll integriert sind. Wenn ein Kind ADHS hat, sind eine frühe Diagnose und damit eine rechtzeitige Therapie sinnvoll. Damit wird dem Kind ein möglichst normales Leben ermöglicht. Aber mehr Diagnosen heisst auch, dass Leute, die vorher ganz zufrieden waren, plötzlich eine Diagnose kriegen. Das ist heikler. Es ist ein Wohlstandsphänomen. Je mehr Wissen und Mittel vorhanden sind, desto mehr wird diagnostiziert. Das ist auch bei körperlichen Krankheiten so. Neurodermitis, Allergien…. alles hat zugenommen.

 

faktuell.ch: 1,4 Mio. Menschen in der Schweiz sind über 65-jährig. Die 800‘000 Babyboomer kommen seit 10 Jahren ins Pensionsalter. Diese sogenannte. Generation Gold, die sich fitter als frühere Generationen fühlt und oft Jugend- und Gesundheitswahn vereint, wird absehbar auch einmal pflegebedürftig. Damit steigen die Gesundheitskosten – eine Studie der Uni St. Gallen rechnet mit 4 Milliarden Franken Zusatzbelastung für die Krankenkassen bis 2030. Was sind die Konsequenzen?

 

Monika Bütler: Das wird uns ziemlich viel kosten. Die Ergänzungsleistungen (EL) sind heute die implizite Pflegeversicherung. Das ist bei niedrigen Einkommen sinnvoll. Die hohen Einkommen zahlen ohnehin selber. Für den ganzen Mittelstand – sicher die Hälfte der Bevölkerung – generiert die Finanzierung über EL falsche Anreize. Erstens kauft niemand eine Pflegeversicherung. Das würde ich wohl auch nicht tun: Jeder Franken aus der Versicherung reduziert die Leistungen aus der EL um einen Franken. Die Versicherung lohnt sich einfach nicht. Und zweitens besteht ein Anreiz, möglichst wenig Vermögen zu haben und möglichst alles Geld auszugeben, damit man möglichst wenig zahlen muss, wenn die finanzielle Notlage eintritt. Teuer sind nicht die Armen. Sie müssen wir immer unterstützen. Teuer ist der Mittelstand, der sich eigentlich selber finanzieren könnte und es nicht tut.

 

faktuell.ch: Also weg mit dem ganzen Anreizsystem?

 

Monika Bütler: Ganz weg davon kommt man nicht. Eine Idee wäre, dass vom Kapital in der zweiten Säule ein Anteil zur Seite gelegt wird für die Pflege. Das bedeutet zwar weniger Rente oder Kapital. Aber es ist ein relativ einfacher Weg, eine Pflegeversicherung einzuführen. Wer 600‘000 Franken Kapital hat bei der Pensionierung, muss beispielsweise 200‘000 davon für eine Pflegeversicherung zur Seite gelegt haben.

 

faktuell.ch: Wie grosszügig ist unser Sozialstaat im internationalen Vergleich?

 

Monika Bütler: Extrem grosszügig! Er ist nur finanzierbar, weil wir erstens einen sehr guten Arbeitsmarkt haben, der so flexibel ist, dass fast alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten können. Der zweite Grund ist, dass die Menschen in der Schweiz immer noch ein Arbeitsethos haben. Allerdings: Wenn die Sozialleistungen zu grosszügig sind, darf man sich nicht wundern, wenn die Arbeitstätigen mehr und mehr frustriert sind, weil ihnen immer weniger bleibt.

 

faktuell.ch: Letzte Frage. Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie an die Zukunft der sozialen Sicherheit in der Schweiz denken?

 

 

Monika Bütler: Wir müssen die Absicherung des Sozialstaates vom traditionellen Familienmodell lösen und an die Vielfalt der Familienmuster anpassen. Persönlich finde ich wichtig, dass wir die Jungen nicht vergessen. Das heisst in erster Linie: Nicht die „Kreditkarte“ der Jungen belasten, sie nicht bezahlen lassen für allzu grosszügige Leistungen. Was man oft vergisst: Die Alten sind nicht so homogen wie es den Anschein macht. Die über 80-jährigen haben selber noch nicht viel gehabt und meist neben den eigenen Kindern noch die Eltern unterstützt. Aber die Babyboom-Neurentner mit zusätzlichen 70 Franken AHV zu alimentieren, ist absurd. Hier geht es um eine Generation, die alles hatte. Die meisten hätten genug sparen können,um sich selber zu finanzieren. Und jetzt hat man plötzlich das Gefühl, man müsse ihnen – zu denen ich selber gehöre – den Übergang in den dritten Lebensabschnitt noch versüssen…

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Dieses Gespräch fand im Oktober 2015 statt)