Hintergrund

"Drehbuch" einer Bundesratswahl: Der "Klassiker" von 1983

Für den Band "Heil Dir Helvetia - Die Freude an der Macht" hat der Journalist Christian Fehr einst detailliert recherchiert, wie am 7. Dezember 1983 die Wahl der ersten Bundesrätin verhindert worden ist. Seine Darstellung ist zum "Drehbuch-Klassiker" für das beliebte Ränkespiel im Vorfeld von Bundesratswahlen geworden.

 

Am Mittwoch, 8. Dezember 1982, werden von der Vereinigten Bundesversammlung je im ersten Wahlgang FDP-Nationalrat Rudolf Friedrich und CVP-Ständerat Alphons Egli gewählt. Die Sozialdemokraten mochten sich weder für den einen noch den anderen Kandidaten richtig erwärmen: Sie haben Stimmfreigabe erklärt. Allerdings lässt SP-Parteipräsident Helmut Hubacher im Vorfeld der Friedrich-Wahl durchblicken, dass ihm der FDP-Rechtsaussen Friedrich genehmer wäre als jeder andere FDPler. Er gibt einem unverfälschten gegenüber einem verwaschenen FDP-Exponenten den Vorzug.

 

Dieses Engagement des SP-Chefs für den rechten Friedrich bleibt den meisten Sozialdemokraten schleierhaft, manche mucksen gegen solche Wahlempfehlung des SP-Vormannes auf. Bis zum Wahltermin rückt Nationalrat Hubacher sein Friedrich-Bild für den SP-Anhang wieder in ein richtiges Licht. Er nennt ihn einen «finsteren Gesellen». Was Helmut Hubacher zuvor mit seiner Friedrich-Salbung tatsächlich bezweckt hat, bleibt verschwommen. Manche SPler hegen den Verdacht, Hubacher träume insgeheim noch immer davon, selber den obersten Spross des politischen Machtzentrums erklimmen zu können – frei nach dem Motto: «Wenn der extreme Friedrich genehm sein kann, dürfte es auch für einen SP-Präsidenten möglich werden.»

 

Kurz nach der Friedrich- und Egli-Wahl erklärt Helmut Hubacher der «Basler Zeitung», was sie anderntags publiziert: «Jetzt wird’s allerhöchste Zeit für eine Frau.» Sobald der eine oder andere SP-Sitz im Bundesrat frei werde, wolle die sozialdemokratische Fraktion den Versuch zu einer historischen Tat wagen und die erste Bundesratskandidatin zur Wahl vorschlagen. Der Name der Hubacher-Favoritin ist für niemanden ein Geheimnis: SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen. Hubacher-Gegner unterstellen gleich, der SP-Chef habe seit Jahren das Terrain für seine Lieblingskandidatin geebnet, indem er der Reihe nach die ernsthaftesten Anwärterinnen - Hedi Lang und Emilie Lieberherr - ausgebootet hätte. Die gleichen Hubacher-Gegner unterstellen dem SP-Leader freilich auch, er sei eine «taktische Null».

 

Frühjahr 1983, Restaurant «Pinocchio», Bern, abends: Bei Speis’ und Trank plaudern drei Mitglieder der sogenannten «Viererbande», nämlich die Nationalräte Andreas Gerwig, Helmut Hubacher und Walter Renschler, zwanglos über mögliche Nachfolger von Bundesrat Willi Ritschard, dessen intern geäusserte Rücktrittsabsichten sich gehäuft hätten. Das Trio erstellt eine Liste «valabler Kandidaten». Man kommt auf ein gutes Dutzend Namen, worunter alle Angehörigen der «Viererbande». Doch bei näherem Betrachten zeigen sich Gerwig, Hubacher und Renschler realpolitisch: «Von uns hat keiner eine Chance.» Zuletzt bleibt der Name von Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, dem vierten Mitglied der «Viererbande».

 

Und noch etwas scheint dem Trio klar: Wenn Ritschard schon gehen wolle, dann müsse seine Nachfolgerin vor den eidgenössischen Wahlen von der Vereinigten Bundesversammlung gekürt werden können. Denn die Bürgerlichen würden es sich vor den Wahlen kaum leisten können, einer Frau vor dem Glück zu stehen. Indes, nach einer Ferienwoche, in deren Verlauf er vertieft über einen Rücktritt nachgedacht hatte, zeigt sich Willi Ritschard zunächst nicht mehr rücktrittswillig. Dann, vor den Sommerferien 1983, erklärt Bundesrat Ritschard, er werde nach den Ferien und nach Konsultation seines Leibarztes bekannt geben, ob er demissioniere oder nicht. Im August diskutieren die Zentralsekretäre der SP zusammen mit dem Parteipräsidenten die allfällige Ritschard-Nachfolge: Ein Zentralsekretär bringt den Namen von Nationalrat Hans Schmid ins Spiel, Helmut Hubacher spricht sich für Nationalrätin Lilian Uchtenhagen aus.

 

1. September 1983, im gewerkschaftseigenen Viersterne-Hotel «Bern», Bern: Das «Willi Ritschard»-Buch wird vorgestellt, das zu Ritschards 65. Geburtstag unter dem Patronat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund von der Büchergilde herausgegeben worden ist (Konzeption und Text: Christian Fehr, ergänzt durch ein Ritschard-Porträt der Schriftstellers und Ritschard-Freundes Peter Bichsel). An der Buch-Vernissage nehmen zahlreiche Prominente von SP und Gewerkschaften teil – und verschiedene Medienvertreter, die sich vom Anlass vorab Neuigkeiten über die Rücktrittsabsichten des Geehrten versprechen. Doch Willi Ritschard lässt offen, ob er seinen zehn Bundesratsjahren noch ein elftes anhängen wolle. Anwesend ist auch Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, die später auf dem Perron des Bahnhofs Bern gegenüber dem Parteipräsidenten bezweifelt, ob Ritschard tatsächlich bereits zurücktreten wolle.

 

3. Oktober 1983, Herbstsession: Bundesrat Willi Ritschard reicht sein Demissionsschreiben ein. Das Kandidatenkarussell, das sich schon seit einiger Zeit dreht, kommt richtig in Fahrt.

 

Am 16. Oktober stirbt der populäre SP-Bundesrat auf einer Jura-Wanderung. In der Solothurner St.-Ursen-Kathedrale spricht SP-Präsident Helmut Hubacher vom «Vermächtnis» Ritschards: Willi Ritschard habe sich zuletzt Frau Uchtenhagen als seine Nachfolgerin gewünscht. Dieser vom SP-Chef erwähnte «letzte Wille» des Verstorbenen verfehlt seine Wirkung nicht: Die Ritschard-Entourage wird in den folgenden Tagen von zweifelnden und überraschten SP-Parlamentariern selbst nächtlicherweile bemüht, darüber Auskunft zu geben, ob die Sache mit dem «Vermächtnis» tatsächlich zutreffe. Wird der «letzte Wille» nicht bestätigt - etwa von Anhängern des Möchtegern-Kandidaten Hans Schmid, die es in der Ritschard-Entourage auch gibt -, atmen manche Frager erleichtert auf. So etwa ein welscher Nationalrat, der sich nochmals vergewissert: «Alors, on est libre?»

 

Vor der Tür stehen die Gesamterneuerungswahlen für National- und Ständerat. Im Kanton Solothurn gilt als fast sicher, dass der Grenchner Stadtpräsident und SP-Nationalrat Eduard Rothen nicht mehr kandidieren wird. Eine Mehrheit in der solothurnischen SP-Geschäftsleitung würde es gern sehen, wenn auch der andere bisherige SP-Nationalrat, nämlich Coop Schweiz-Vizedirektor Otto Stich, seinen Platz ebenfalls jüngeren Kräften zur Verfügung stellen würde. Doch fürchten die Genossen, dass Stich in Kenntnis der definitiven Demission Rothens nicht rücktrittswillig sein könnte. Man argwöhnt, dass Stich argumentieren könnte, die solothurnische SP-Liste müsse wenigstens einen Namen enthalten, der mit dem Wörtchen «bisher» ergänzt werden kann. Rothen wird deshalb mit seiner Demissionsabsicht solange zurückgehalten, bis Otto Stich das Handtuch geworfen hat.

 

Manchen Genossen ist nach der Stich-Ausbootung nicht wohl ums Herz und der Ausgebootete erfährt nach Bekanntgabe des Ritschard-Rücktritts eine Art Wiedergutmachung: Hauchdünn, mit 7 gegen 6 Stimmen, wird Otto Stich von der solothurnischen SP-Geschäftsleitung als Bundesratskandidat vorgeschlagen. Zwar denkt keiner, dass auf den Solothurner Ritschard schon wieder ein Solothurner als Bundesrat folgen würde, aber dem Genossen Stich soll mit dieser Nominierung etwas Gerechtigkeit für seine Verdienste widerfahren. In den linken Solothurner Beizen heisst es nach dieser SP-Geschäftsleitungssitzung, dass verschiedene Mitglieder bloss für Stich gestimmt hätten, weil sie seit dessen Ausbootung ein schlechtes Gewissen mit sich herumtragen.

 

Anfang Oktober 1983, Professor Hans Schmid nimmt an der Handelshochschule St. Gallen mündlichen Prüfungen ab. Einer der letzten Studenten bemerkt: «Viel Glück, Herr Professor, es ist da ja etwas im Tun…» Er verweist auf einen Artikel in der «NZZ», worin SP-Nationalrat Hans Schmid von allen möglichen SP-Kandidaten am sympathischsten abschneidet. Zwar ist der Name des St. Galler Professors schon früher gefallen, doch jetzt, da ihn die «NZZ» so wohlwollend behandelt, rechnet Schmid ernsthaft mit einer Wahlchance. Gleichsam «familienintern» - von einem Jus-Professor, der Götti eines Schmid-Kindes ist - klärt Hans Schmid die leidige Bürgerrechtsfrage ab. Denn Schmid ist St. Galler und Aargauer, wählbar aber nur als Aargauer. Er will aber auf das St. Galler Bürgerrecht nicht im Voraus verzichten, sondern erst nach einer allfälligen Wahl in den Bundesrat. Der befreundete Jurist gibt ihm bei einem Glas Wein zu verstehen, dass ein solches Vorgehen mit guten Gründen möglich sein sollte. Freilich könne man einwenden, dass er vor der Wahl auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten müsse.

 

In der letzten Woche der September-Session des alten Parlamentes hat Hans Schmid gehört, dass er als Kandidat gehandelt wird. CVP-Nationalrat Hans Schärli hat ihm in der Wandelhalle erklärt: «Ich habe Egli zum Bundesrat gemacht und garantiere Dir bei einer Kandidatur 125 Stimmen.» Schmid, der Schärli scherzhaft als «Präsident der bürgerlichen Hinterbänkler-Vereinigung» einstuft, denkt sich: «Wenn der sogar Egli zum Bundesrat machen konnte, dann…» Er wirft den Zettel mit der Telefonnummer, den ihm Schärli gibt, damit er seine Entscheidung mitteilen kann, nach eigener Darstellung in den nächsten Papierkorb. Schmid wittert eine Falle. Später, nach der Nominierung durch die St. Galler SP, aber vor der Fraktionsausmarchung der SP, ruft er Hans Schärli trotzdem an: «Ich habe nichts dagegen, wenn ihr die Aktion macht, die ihr mir offeriert habt.»

 

In einem ersten Gutachten, das das Bundesamt für Justiz im Fall «Bürgerrecht Schmid» erstellt, wird dem St. Galler Professor die Möglichkeit eingeräumt, erst nach der Wahl zum Bundesrat auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten zu können. Schmid wird parteiintern vor allem von jungen SPlern, die verschiedentlich mit der Etikette «Jung-Manager» versehen werden, gestützt und animiert, aber auch von verschiedenen Gewerkschaftern. Hingegen wird ihm, der während den Sessionen im Hotel «Bern» übernachtet, dem einstigen «Volkshaus», in der letzten Sessionswoche seitens der sogenannten «Volkshüsler-Riege» der sozialdemokratischen Parlamentarier durch SP-Nationalrat Herbert Zehnder bedeutet, sie würden sich für Otto Stich einsetzen - einer der ihren, der als Nationalrat ebenfalls im Hotel «Bern» abstieg, abends gern einen Jass klopfte und im Gegensatz zu Schmid klar dem konservativen Parteiflügel zugerechnet werden kann.

 

Am letzten Sessionstag des alten Parlamentes werden die - wie Stich - nicht mehr kandidierenden Kollegen gebührend verabschiedet. Die CVP-Nationalräte Edgar Oehler und Hans-Rudolf Feigenwinter erklären dem scheidenden Otto Stich rührsehlig: «Otti, wir werden dich nicht vergessen.» Stich antwortet etwas verlegen: «Wir werden ja sehen.»

 

Von ihrem Kandidatenvorschlagsrecht machen verschiedene SP-Kantonalparteien Gebrauch, wenngleich vom Start weg über jedem männlichen Bewerber gleichsam Lilian Uchtenhagen als Damoklesschwert hängt. Vorgeschlagen werden: Ständerat Eduard Belser (BL), Regierungsrat und Nationalrat Kurt Meyer (BE), Nationalrat Hans Schmid (SG), Noch-Nationalrat Otto Stich (SO), Nationalrätin Lilian Uchtenhagen sowie Regierungsrat und Ex-Nationalrat Arthur Schmid (AG), ein früherer Präsident der SP Schweiz. In Zürich wird ursprünglich erwogen, allenfalls eine Zweier-Kandidatur - Lilian Uchtenhagen und Walter Renschler (mit Walliser Bürgerrecht) - vorzulegen. Diese Idee weist Frau Uchtenhagen entschieden zurück; sie will von ihren Leuten vorbehaltlos unterstützt werden.

 

Im Kanton Bern, wo in der internen SP-Ausmarchung der seit Jahren als möglicher Bundesratskandidat genannte Thuner Stadtpräsident und Nationalrat Ernst Eggenberg gegen Regierungsrat und Nationalrat Kurt Meyer mit einer Stimme Differenz unterliegt, zeichnet sich Peinliches ab. Für Meyer haben sich hier besonders Anhänger des St. Gallers Schmid in Szene gesetzt, die Eggenberg als überaus erfolgsträchtige Nummer weg vom Fenster haben wollen. Dies ahnt der nominierte Meyer freilich erst, als im schweizerischen Parteivorstand, dem neun Berner angehören, die Wahlergebnisse für die einzelnen sozialdemokratischen Bundesratskandidaten bekanntgegeben werden: Auf Meyer entfällt lediglich eine Stimme, was den bernischen SP-Kantonalpräsidenten, Richard Müller, veranlasst, in der «Berner Tagwacht», der er als Chefredaktor vorsteht, darauf hinzuweisen, dass jedenfalls der Kantonalpräsident für den bernischen Kronprinzen gestimmt habe…

 

Ende Oktober verlieren die Sozialdemokraten die eidgenössischen Wahlen. Die als Nationalrat oder Ständerat wieder kandidierenden SP-Bundesratsbewerber werden aber durchs Band brillant wieder gewählt, am besten SP-Bundesratskronprinzessin Lilian Uchtenhagen. Nationalrätin Uchtenhagen setzt sich am 12. November 1983 in allen SP-Wahlgremien durch, die final entscheidende SP-Fraktion ernennt sie zur offiziellen sozialdemokratischen Bundesratskandidatin: Sie macht hier 31, der härteste Konkurrent, Hans Schmid, 22 Stimmen. Auf Otto Stich entfallen 8 Stimmen.

 

Im Vorfeld dieser Nominierung und auch nachher werden zwei Uchtenhagen-Kampagnen deutlich: Die Pro-Kampagne wird von den Blättern der Ringier-Presse («Blick», «Sonntagsblick», «Schweizer Illustrierte») geführt und hier vom prominenten Journalisten Frank A. Meyer wesentlich geprägt. Die Kontra-Kampagne lässt sich weniger genau orten, die Kandidatin selber wähnt sich aber besonders mit der Jean-Frey-Verlagsgruppe im Clinch («Weltwoche», «bilanz»). Der angesehene Publizist Oskar Reck bezeichnet die Anti-Uchtenhagen-Kampagne als «verdeckten Rufmord».

 

Lilian Uchtenhagen selber nimmt in der «Berner Zeitung» in einem Interview unter dem Titel «Bei Stress lebe ich erst auf!» zur Kritik an ihrer Person und zu Willi Ritschards Wunsch Stellung: «Bereits vor zwei Jahren rief der verstorbene Bundesrat Willi Ritschard mich zu sich, um mir zu sagen, er wolle gelegentlich zurücktreten und ich solle seine Nachfolge antreten. Nachdem Willi Ritschard mir mehrmals gesagt hatte, ich müsse unbedingt kommen, ich sei qualifiziert, habe ich mir nach seinem Rücktritt überlegt, ob ich mir eine Bedenkzeit ausbedingen soll. Aber bei den Wahlen habe ich gemerkt, dass sehr viele Leute, Frauen und Männer, jetzt unbedingt eine Frau im Bundesrat haben wollen. Da wurde mir in unzähligen Gesprächen auch klar, dass ich das jetzt einfach machen muss. Irgendeinmal kommt der Zeitpunkt, da wir Frauen das auf uns nehmen und in einen solchen Konkurrenzkampf steigen müssen. Meine Partei ist überzeugt, dass ich die Qualifikation habe. Abgesehen davon ist es wirklich Zeit, dass eine Frau in diese Regierung einzieht.

 

Das Schlimme an dieser Kampagne gegen mich ist ja, dass niemand nach meiner parlamentarischen Arbeit fragt. Dabei habe ich mich nicht nur in Wirtschafts- und Finanzfragen profiliert, sondern mich auch in Frauenfragen, Bildungs- und Forschungsfragen engagiert und für regionalen Ausgleich und Minderheiten gestritten. Aber ich werde immer entweder als eiserne Lady oder als emotioneller Haufen geschildert. Wie ich einerseits ehrgeizig, kalt, hart und rücksichtslos, anderseits eine Heulsuse sein soll, das geht ja auch nicht auf. Die Leute, die mit mir schon zusammengearbeitet haben, wissen sehr wohl, dass ich sehr belastbar bin.»

 

Die Uchtenhagen-Kritiker haben unter dem Stichwort «Belastbarkeit» der Kandidatin zum Beispiel gestreut, Frau Uchtenhagen werfe mit Aschenbechern um sich, wenn sie aufs äusserste gefordert werde. In der «Weltwoche» wird die angeblich mangelnde «psychische Belastbarkeit» der Kandidatin solcherart dargestellt: «Kritik reisst die Präsidentin von Coop Zürich vom Stuhl, lässt sie unkontrolliert herumzappeln – ihr gehen immer wieder die Nerven durch. Als sie einst während der China-Fahrt einer parlamentarischen Delegation mongolischen Kindern gedankenlos Dollarnoten verteilt hatte und deswegen von Parteifreund Walter Renschler scharf gerüffelt wurde, stand sie schliesslich, das personifizierte Elend, tränenüberströmt in der Steppe.»

 

Sehr früh zirkulierten in den Wandelhallen des Bundeshauses, aber auch in den Gazetten, zwei Namen, die in keiner Form als Kandidaten an der SP-internen Ausmarchung teilgenommen haben: Nationalrat Fritz Reimann, hauptberuflich Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), und Bundeskanzler Walter Buser. Am 19. November 1983 sorgt ein «Tages-Anzeiger»-Interview mit SP-Präsident Helmut Hubacher für Empörung in den bürgerlichen Reihen. Der SP-Chef gibt darin zu verstehen, dass die SP einen Bundesrat Buser nicht schlucken würde. Die Bürgerlichen wähnen sich durch diese Aussage erpresst.

 

Buser selber nimmt «erste Äusserungen im Sinne einer Ermunterung zur Annahme einer Wahl» in der September-Session 1983 wahr. Häufiger seien sie nach den Fraktionssitzungen vor der Winter-Session geworden, «als sich in allen bürgerlichen Fraktionen eine relativ starke Opposition gegen die Kandidatur Uchtenhagen herauskristallisierte»: «All diese Äusserungen - vielleicht ein gutes Dutzend - kamen aber von persönlichen Freunden und hatten nicht einmal offiziösen, geschweige denn offiziellen Charakter.» Als solche Freunde erwähnt Buser den Neuenburger Nationalrat François Jeanneret (lib.), den Buser-Schachpartner und Neuenburger Ständerat Jean-François Aubert (lib.), den Genfer Nationalrat Gilbert Couteau (lib.) und den Zürcher CVP-Nationalrat Paul Eisenring (der mit Buser zu einer Gruppe von befreundeten Parlamentariern gehört, die sich einmal pro Session zum Nachtessen treffen). Buser: «Daher kommt das Gerücht, die Bürgerlichen hätten mich gleich zu Beginn gewollt. Klar haben die – es sind ja Freunde – für mich die Werbetrommel gerührt.»

 

Im «Landwirtschaftlichen Klub der Bundesversammlung», dem weit über 100 Parlamentarier fast aller Parteien angehören, bearbeiten katholische Bauern protestantische Kollegen zugunsten des Katholiken und Coop Schweiz-Mannes Otto Stich, dem die Bauern grundsätzlich nicht wohl gesinnt sind. Ein katholischer Bauern-Nationalrat erhält von einem protestantischen Kollegen die schnippische Antwort: «Dann können wir ja gleich den Biel wählen!» Walter Biel ist Nationalrat des Landesrings der Unabhängigen und Migros-Direktor. Mit seinen kritischen Voten zur Landwirtschaftspolitik bringt er die Bauern regelmässig gegen sich auf.

 

Fritz Reimann wird zehn Tage vor der Bundesratswahl, an einem Samstag, zuhause von einem Thuner Freisinnigen - Reimann wohnt in Thun – aufgesucht, der ihm im Hinblick auf die bevorstehende Bundesratswahl eröffnet: «Wir haben mit dem Wahlvorschlag Mühe…» Reimann, der «da und dort» bereits seit Wochen gehört hat, «dass sie mich wollen», winkt ab, wenngleich ihm der freisinnige Kollege zu verstehen gibt, er könne sich mit einer Antwort ruhig Zeit lassen.

 

Doch der SGB-Präsident, der sich mit einer Wahl zum Bundesrat persönlich «nicht unglücklich» machen will, lehnt unzweideutig ab. Da entgegnet ihm der freisinnige Kundschafter: «Das wäre ja das erste Mal, dass einer die Wahl nicht annehmen würde!» Auch dies vermag den umgarnten Fritz Reimann nicht umzustimmen, trotzig meint er: «Dann bin ich halt der Erste!» Tatsächlich hatten in der Vergangenheit bei den Sozialdemokraten sowohl Hans-Peter Tschudi (gegen den Schaffhauser Nationalrat und Stadtpräsidenten Walther Bringolf) und Willi Ritschard (gegen den Aargauer Regierungsrat und Nationalrat Arthur Schmid) die mithin «wilde», von den Bürgerlichen in Abweichung zum offiziellen SP-Kandidaten vorgenommene Wahl angenommen.

 

Am Donnerstag, 1. Dezember 1983, bitten die Nationalräte Franz Eng (FDP) und Hans Schärli (CVP) den begehrten Gewerkschaftsboss Reimann zum vertraulichen Gespräch in eine Ecke des Nationalratssaals. Die beiden bürgerlichen Parlamentarier geben ihm aufgrund von Gesprächen in ihren Fraktionen zu verstehen: «Du wirst problemlos gewählt, aber wir müssen sicher sein, dass Du die Wahl annimmst.» Und wieder zeigt man sich bereit, dem SGB-Präsidenten Bedenkzeit einzuräumen: «Du musst jetzt nicht sofort ja sagen, überlegs’s Dir übers Wochenende.» Reimann hat nach diesem Gespräch kaum wieder seinen Platz eingenommen, da wird er von einem Nationalratsweibel aufgefordert, dringend den Bundeskanzler anzurufen. Buser später dazu: «Die Entwicklung - so wie ich sie verfolgen konnte - zeigte zu Beginn eine klare Konzentration der Gegner der Kandidatur Uchtenhagen auf Nationalrat Schmid, St. Gallen. Es bestand Neigung, die SP insofern zu schonen, als der Zweitklassierte bei der fraktionsinternen Ausscheidung ins Auge gefasst wurde. Erst als die Kandidatur aus rechtlichen Gründen zu wanken begann, suchten die Gegner der Kandidatur Uchtenhagen intensiver nach einer möglichen Alternative. In jenem Moment kam nun die Kandidatur Fritz Reimann ins Gespräch, der am Donnerstag der ersten Sessionswoche von einer interfraktionellen bürgerlichen Delegation aufgesucht wurde. Mir persönlich kam diese Alternative recht, da damit die Gefahr einer Konzentration auf meine Person abgewendet war.»

 

Reimann und Buser verabreden sich zum Mittagessen im Restaurant «Krone» im Berner Nobelvorort Muri. Noch bevor das bestellte Fisch-Gericht an einer weissen Sauce aufgetragen ist, platzt es aus Buser heraus: «Fritz, ich sichere Dir jegliche Unterstützung zu.» Welches Departement auch immer Fritz Reimann im Bundesrat übernehmen müsse, überall gebe es vorzügliche Beamte, die dem bescheidenen, auch an seiner Qualifikation für das hohe Amt zweifelnden Reimann beistehen könnten: «Du brauchst keinerlei Bedenken zu haben.»

 

Reimann winkt wieder ab, doch Buser will’s nicht wahrhaben. Am folgenden Freitag hat der Bundeskanzler in Basel an der Universität Examina abzunehmen und benützt die Gelegenheit, mit seinem alten Freund Hans-Peter Tschudi, dem früheren SP-Bundesrat, ein Gespräch zu führen. Tschudi, den Buser als seinen Berater empfindet, hat dem Bundeskanzler zuerst von einer Kandidatur abgeraten, später jedoch, an Tschudis Geburtstagsfeier, schlitzohrig empfohlen, seine, Tschudis 1959er Erfahrung, zu studieren: «Die könnte Dir jetzt dienlich sein.» Buser will darauf geantwortet haben: «Comparaison ce n’est pas raison.»

 

Nach dem Gespräch mit Freund Tschudi ruft Buser via Autofunk den Parteipräsidenten Hubacher an. Sie verabreden sich im «Maxim» in Basel, das Hubachers Gattin führt. Buser über den Gesprächszweck: «Es ging mir nicht darum, ihn um Rat zu fragen, wie später in den Medien gesagt worden ist, sondern darum, einen Appell an ihn zu richten, die Tatsache der ungünstigen Chancen der Kandidatur Uchtenhagen zu realisieren und, wenn es doch offenbar sein musste, von sich aus eine Alternative in die Diskussion zu bringen. Im gleichen Sinne hatte ich mich am Donnerstag der ersten Woche der Winter-Session bereits an den SP-Fraktionspräsidenten Dario Robbiani gewandt.»

 

Helmut Hubacher erinnert sich, dass ihn Buser für Reimann zu gewinnen suchte. Der Bundeskanzler habe sich als ursprünglicher Anhänger der Kandidatur Uchtenhagen dargestellt, der jetzt von der Chancenlosigkeit dieser Kandidatur überzeugt sei: «Helmut, so begreif doch endlich…» Wichtiger freilich scheint dem SP-Chef, dass Buser darauf hingewiesen habe, seine Wiederwahl als Bundeskanzler wäre gefährdet, wenn er jetzt mit einer öffentlichen Verzichtserklärung die Bürgerlichen vor den Kopf stossen würde. Hubacher hat darauf erwidert: «Es gibt traurigere Schicksale, als als Bundeskanzler nicht wiedergewählt zu werden.» Das vielleicht eine Stunde dauernde Gespräch verläuft frostig, keiner traut dem andern über den Weg. Willi Ritschard hat dem SP-Präsidenten vor den Sommerferien 1983 gesagt: «Die Bürgerlichen wollen Buser. Wenn das passiert, können wir aus dem Bundesrat austreten.» Und Helmut Hubacher glaubt auch zu wissen, dass Buser bei den Bürgerlichen bereits im Wort steht.

 

Am Montag, 5. Dezember 1983, teilt Nationalrat Reimann den Bürgerlichen offiziell und schriftlich mit: «Liebe Ratskollegen, anlässlich unseres Gesprächs vom vergangenen Donnerstag habe ich von Euch erfahren, dass scheinbar breite Kreise aus den Fraktionen der FDP, CVP und SVP meine Person im Zusammenhang mit der Bundesrats-Ersatzwahl ins Gespräch gebracht haben. Ich habe Euch erklärt, dass ich von Anfang an - und seither immer wieder - unmissverständlich eine Kandidatur als Bundesrat abgelehnt habe und dass ich an diesem Entscheid festhalte.» Und: «Auch nachdem ich über das Wochenende Gelegenheit hatte, erneut darüber nachzudenken, hat sich daran nichts geändert. (…) Ich bin mir durchaus bewusst, was für die schweizerische Politik auf dem Spiel steht, glaube jedoch nicht daran, dass mit meiner Wahl die Probleme gelöst würden. Im Gegenteil, ich bin überzeugt davon, dass die Zustimmung zum Vorschlag der SP-Fraktion unserem Parlament gut anstehen würde.»An diesem Montag wird auch ein bei der Universität Bern vom Büro des Nationalrates bestelltes zweites Gutachten zum «Bürgerrechtsfall Schmid» bekannt, das sinngemäss festhält: Wenn Hans Schmid nicht auf sein St. Galler Bürgerrecht vor der Wahl verzichtet, ist er nicht wählbar. Nicht nur Schmid-Anhänger haben den Eindruck, dass Nationalrat Schmid mit einem «Juristentrick» aus dem Verkehr gezogen worden ist. Gegen den St. Galler-Aargauer Schmid sollen in den Kulissen vorab mögliche künftige Bundesratskronprinzen bürgerlicher Parteien aus diesen beiden Kantonen aktiv geworden sein, damit ihnen eine Wahl in den Bundesrat nicht verbaut würde (damals war nur ein Bundesrat aus dem gleichen Kanton wählbar, der Verf.).

 

Aufgrund der Vorkommnisse in der ersten Woche der Dezember-Session beschliesst der Fraktionsvorstand der SP, die Gerüchte um den mutmasslichen Favoriten der Bürgerlichen, Bundeskanzler Walter Buser, abzuklären. Den bürgerlichen Fraktionen soll gleichzeitig klar gemacht werden, dass die SP Buser unter keinen Umständen akzeptieren könne; dabei gehe nicht darum, auf die Entscheidung der Bürgerlichen Druck auszuüben, vielmehr soll ihnen klar gemacht werden, dass die SP mit einer Wahl Busers in für alle Beteiligten unschöne Turbulenzen geraten würde.

 

Die bürgerlichen Gesprächspartner - FDP-Fraktionschef Jean-Jacques Cevey, SVP-Fraktionschef Hans-Rudolf Nebiker (zusammen mit SVP-Generalsekretär Max Friedli, SVP-Nationalrat Rudolf Reichling und SVP-Ständerat Peter Gerber) und CVP-Fraktionschef Arnold Koller - zeigen für diese Haltung der Sozialdemokraten Verständnis. Cevey wirft ein, dass die SP vor Jahresfrist die offiziellen Kandidaten von FDP und CVP ebenfalls nicht offiziell unterstützt habe. Und ein SVP-Vertreter gibt zu erkennen, dass die Qualifikation von Bundeskanzler Buser für den Bundesratsjob nicht über jeden Zweifel erhaben sei. SP-Fraktionsvize Walter Renschler über seinen Eindruck nach diesen Gesprächen: «Mindestens die Führung der anderen respektiert die SP-Kandidatin, wenngleich auch Bedenken gegen Lilian Uchtenhagen geäussert wurden. Aber man versprach uns, dass das Mögliche gemacht werde, um unseren Wahlvorschlag zu respektieren.»

 

Kaum wieder im Ratssaal, vernimmt Nationalrat und VPOD-Geschäftsführer Renschler, dass eine bürgerliche Delegation den Kollegen Fritz Reimann bearbeitet. Sofort geht er zum CVP-Fraktionschef Koller: «Was macht ihr da wieder für ein ‚Spieli’?» Koller versichert, dass Eng und Schärli nicht im Namen der Fraktion bei Reimann vorstellig geworden sind.

 

Gegen Ende der ersten Woche der Winter-Session verdichten sich neu Gerüchte, dass CVP-Bundesrat Kurt Furgler, Chef des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes, zugunsten von Walter Buser aktiv sei, um einen Vertrauten, nämlich Joseph Voyame, Direktor des Bundesamtes für Justiz, als Nachfolger Busers in den Bundeskanzlerjob hieven zu können. Da Furgler früher wiederholt bemerkt hatte, er sei für eine Kandidatur Uchtenhagen, will der SP-Präsident jetzt vom CVP-Bundesrat persönlich wissen: «Kurt, warst Du nur für Lilian, um Willi Ritschard weg zu empfehlen?» Als Hubacher aus Furglers Büro herauskommt, hat er trotz der Zusicherung Furglers - «Helmut, ich bin absolut dafür, dass ihr im Bundesrat bleibt» - kein klares Gefühl über Furglers tatsächliche Rolle.

 

Zu Beginn der zweiten Woche der Winter-Session, zwei Tage vor der Bundesratswahl, stellen die Sozialdemokraten fest, dass Walter Buser stärker denn je im Gespräch ist – besonders als auch noch Reinmanns definitiver Verzicht bekannt wird. Im SP-Fraktionsvorstand wird die bange Frage diskutiert: «Wie kann das Problem Buser umgangen werden?» Man beschliesst, Buser müsse Farbe bekennen. Denn Fraktionsvize Renschler ist inzwischen auch zu Ohren gekommen, dass der Bundeskanzler dem Treiben um seine Person keineswegs passiv gegenüberstehe, sondern vielmehr aktiv auf eine Wahl hinarbeite. Das Gerücht liegt in der Luft, dass Buser den Generalsekretär des Eidgenössischen Departementes des Innern, den SP-Mann Eduard Marthaler, als Bundeskanzler-Nachfolger montieren wolle, wenn er, Buser, in den Bundesrat gewählt würde. Renschler will’s genau wissen und ruft Marthaler an: «Hast Du etwas gehört von Deiner Kandidatur als Bundeskanzler?» Marthaler antwortet sinngemäss: «Ja, vor zwei Stunden hat Buser angerufen und gefragt, ob ich kandidieren würde. Doch ich habe dieses Ansinnen weit von mir gewiesen.»

 

Jetzt ist für die SP-Spitze endgültig klar: «Buser ist für sich selber aktiv!» Im Auftrag des Fraktionsvorstandes müssen Ständerat Carl Miville sowie die Nationalräte Renschler und Hubacher mit dem Bundeskanzler reden. Bei dieser Aussprache schweigt sich SP-Chef Hubacher aus und verlässt die Runde schon nach wenigen Minuten: «Ich habe nichts Neues gehört. Buser hat wiederholt, was er mir schon in Basel gesagt hat.» Trotz des Beschlusses, keinerlei Zwang auf Buser auszuüben, geht besonders der Basler Miville mit dem unsicheren Kantonisten Buser hart ins Gericht: «Walter, ich verstehe Dich nicht!» Und er erinnert Buser daran, welche Verantwortung er mit einer Wahlannahme auf sich nehmen würde: «Du wärst schuld, wenn wir den Bundeskanzlerposten verlieren würden, und Du trägst die Verantwortung, wenn sich die Partei spaltet!“» Walter Buser wirbt mit dem Hinweis auf schlaflose Nächte um Verständnis: «Es geht um meine Existenz.» Da fährt ihn Walter Renschler an: «Du musst nicht so tun, als ob…» Allein, Miville und Renschler kommen mit Buser auf keinen grünen Zweig. Zusammen gehen die beiden Parlamentarier mit dem Bundeskanzler anschliessend an die SP-Fraktionssitzung, die bereits angefangen hat. Dort fragt SP-Nationalrat Max Chopard quer über den langen Tisch an die Adresse Busers: «Jetzt wollen wir endlich wissen: Bist Du Kandidat oder bist Du nicht Kandidat?» Die Frage Chopards gilt keineswegs der Stärkung der Kandidatur Uchtenhagen; vielmehr sondiert Chopard, ein Anhänger von Stich, für seinen Otto. Chopard gehört zur sogenannten «Volkshüsler-Riege».

 

Bundeskanzler Buser stellt seine Position an dieser Fraktionssitzung so dar: «In all diesen Wochen - also schon vor der Winter-Session - habe ich alle, die mich ermunterten, immer wieder dringend ersucht, aus staatspolitischen Gründen die Kandidatur Uchtenhagen zu akzeptieren oder - soweit sich kategorisch Opposition geltend machte - darum gebeten, jedenfalls nicht meine Person ins Spiel zu bringen.»

 

Buser begründete seine Haltung nachträglich so: «Einerseits habe ich immer wieder betont, dass mir persönlich, da ich seit 20 Jahren aus gesundheitlichen Gründen und mit Rücksicht auf meine Neigung zu eher wissenschaftlicher Tätigkeit nicht mehr vorne an der politischen Front stehe, der Posten des Bundeskanzlers offen und ehrlich besser passe. Zweitens, habe ich aus der Erkenntnis der Situation bei der SP heraus immer wieder unterstrichen, dass eine Wahl meinerseits grösste Schwierigkeiten nach sich ziehen würde, da die SP nicht nur mit ihrer offiziellen Kandidatin unterläge, sondern gleichzeitig - und damit war bestimmt zu rechnen - auch der Posten des Bundeskanzlers verloren ginge. Diese Haltung kam auch in meinen Äusserungen inner- und ausserhalb der Fraktion zum Ausdruck, so namentlich in einer ersten Stellungnahme kurz nach der Herbst-Session, und zweitens im Fraktionscommuniquè am Dienstag der ersten Sessionswoche, worin erklärt wurde, die Fraktion habe von mir zur Kenntnis genommen, dass ich ausschliesslich für den Posten des Bundeskanzlers zur Verfügung stehe. Von einer formellen Erklärung des Inhalts, dass ich eine Wahl ablehnen würde, wurde mir von Freunden aus allen Lagern dringend abgeraten, da dies als Affront gegenüber der Bundesversammlung als höchster Wahlbehörde des Landes ausgelegt würde.»

 

Die Teilnehmer der SP-Fraktionssitzung beschliessen auf Vorschlag von Fraktionschef Robbiani, Buser soll mit Renschlers Hilfe eine Communiqué formulieren, aus dem hervorgehe, dass Buser für die Bundesratswahl passe. Walter Renschler besteht dabei auf der Formulierung «In völliger Übereinstimmung mit der Fraktion…», während Walter Buser seinerseits die Variante offeriert: «Aus persönlichen Gründen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt…» Da wird Renschler sauer: «Was heisst ‚zum gegenwärtigen Zeitpunkt’? Gilt das morgen Mittwoch auch noch?» Die beiden Sozialdemokraten können sich nicht einigen. Jetzt gibt die Fraktion auf Vorschlag von Helmut Hubacher dem gepeinigten Buser zwei Stunden Zeit, sich «etwas Gescheites» einfallen zu lassen. Die Zeit drängt, denn auf 17 Uhr ist eine Pressekonferenz zum Thema Buser angesagt. Die Fraktionssitzung wird fortgesetzt, während sich Buser an die Arbeit macht. Eine Viertelstunde später wird Walter Renschler hinausgerufen. Vor der Tür steht SVP-Generalsekretär Max Friedli und will wissen: «Stimmt es, dass Buser auf eine Annahme der Wahl verzichten muss?» Renschler reagiert gereizt: «Woher wisst ihr das jetzt schon wieder – Buser war ja noch bis kurz vorher hier drin?» Friedli erklärt ihm, dass Buser soeben ein Mitglied der SVP-Fraktion angerufen habe, um ihm den Verzicht mitzuteilen. Als Begründung habe er den Druck erwähnt, der auf ihn ausgeübt würde.

 

An der Pressekonferenz, etwas nach 17 Uhr, liegt der Buser-Text vor. Renschler verliesst den Text: «Ich möchte Ihnen hiermit zur Kenntnis bringen, dass ich unter den heute gegebenen Umständen eine allfällige Wahl in den Bundesrat nicht annehmen könnte». Prompt wird Renschler gefragt, ob der Verzicht morgen Mittwoch noch gelte. Wider seinen persönlichen Eindruck antwortet Renschler: «Das heisst heute und morgen.»

 

Kurz vor Beginn der Fraktionssitzung der FDP erkundigt sich ein FDPler bei Coop Schweiz-Vizedirektor Stich in Basel, ob er eine Wahl annehmen würde. Die Antwort fällt positiv aus. Die FDP-Fraktion, in der die Ablehnung der Kandidatur Uchtenhagen von Anfang an am massivsten ausgefallen ist, erörtert an diesem Dienstagnachmittag, dem 6. Dezember 1983, drei personelle Möglichkeiten: Buser, Stich oder ein Gewerkschafter. FDP-Nationalrat Felix Auer, der sich seinerzeit in seinen Reihen für die Wahl Busers zum Bundeskanzler stark gemacht hatte, warnt davor, die SP mit einer Wahl Busers zum Bundesrat und damit dem Verlust des Bundeskanzlerpostens vor den Kopf zu stossen. Er setzt sich für seinen Studienkollegen Otto Stich ein; sie beide kommen aus Arbeiterverhältnissen. Auer und die Kleinunternehmer-Tochter Lilian Uchtenhagen, ebenfalls eine Studienkollegin Auers und Stichs, sind sich nicht grün.

 

Als FDP-Fraktionschef Cevey gegen 17 Uhr die Sitzung aufheben will, kommt die Mitteilung herein, Walter Buser verzichte auf eine Wahl. Auer: «Die Fraktion war hell empört. Jedermann vermutete sofort, Hubacher habe Buser unter Druck gesetzt.» Gegen 18 Uhr wird die FDP-Fraktionssitzung unterbrochen – man will sich gegen 21 Uhr noch einmal treffen. In der Zwischenzeit soll bei den anderen bürgerlichen Parteien sondiert werden.

 

Gegen 19 Uhr verlässt Walter Renschler das Bundeshaus. Er ist mit Lilian Uchtenhagen in der «Münz» des Hotels «Bellevue» zum Nachtessen verabredet. Ebenfalls gegen 19 Uhr treffen sich im Büro von CVP-Fraktionschef Arnold Koller unter der Bundeskuppel Vertreter aller bürgerlichen Parteien. Die Teilnehmer einigen sich rasch. Der Bundesrat, der morgen Mittwoch gewählt wird, heisst Otto Stich. An der «Bellevue»-Bar prophezeit Ex-Bundesratskronprinz Hans Schmid dem Fernsehmann Marc-Roland Peter die Stich-Wahl mit 125 Stimmen.

 

Etwa zur gleichen Zeit tafelt das Gros der FDP-Fraktion im Hotel «Schweizerhof». Die angeregt die bevorstehende Stich-Wahl diskutierenden FDPler verstummen plötzlich: Unter der Tür ist SP-Ständerat René Meylan aufgetaucht. «Er versuchte», so später FDP-Pressechef Christian Beusch, «bei uns anzusaugen.» Bestimmt wird Meylan erklärt, dass er ein anderes Mal willkommener sei. Bei diesem FDP-Nachtessen kommt heraus: Offiziell wird niemand unterstützt, inoffiziell Stich. Belser, der Basellandschäftler SP-Ständerat, bei den Freisinnigen lange Zeit als Uchtenhagen-Alternative im Gespräch, findet keine grössere Resonanz mehr. Beusch: «Ausser Major ist er nichts.» Für Erheiterung sorgt an der freisinnigen Tafel die Mitteilung, dass CVP-Generalsekretär Hans-Peter Fagagnini, ein Uchtenhagen-Befürworter, in der Polizeikaserne am Berner Waisenhausplatz mit dem FC Nationalrat Fussball spielt – und so die Stich-Entwicklung wohl nicht mehr aufhalten könne. Tatsächlich haben verschiedene CVP-Parlamentarier und Uchtenhagen-Gegner wie CVP-Nationalrat Edgar Oehler dem viven Strategen und Parteifunktionär Fagagnini in der Zwischenzeit klar gemacht: «Das Wahlgremium hier sind wir!»

 

Als sich die Freisinnigen gegen 21 Uhr wieder treffen, geht’s ruckzuck: Nach einer Viertelstunde ist die Sitzung beendet und alle angehalten, in den Berner Etablissements Kollegen und Kolleginnen zu ermuntern, am Mittwoch den Namen von Otto Stich auf den Wahlzettel zu schreiben. Nach dieser Sitzung ruft Felix Auer seinen Studienkollegen Stich an: «Otti, Du wirst sicher gewählt!» Er gibt Stich den Rat, sofort das Telefon auszuziehen, damit sich nicht noch eine SP-Delegation anmelden könne…

 

In der «Münz» haben Lilian Uchtenhagen und Walter Renschler inzwischen etwas Leichtes, vermutlich Kalbsschnitzel, verdrückt. Während an der Theke der «Bellevue»-Bar im gleichen Hotel der Name Stich zirkuliert, fragt in der «Münz» Frau Uchtenhagen: «Was meinst Du, Walter, wie sind meine Wahlchancen?» Renschler, der von der Stich-Entwicklung nichts ahnt, antwortet im Brustton der Überzeugung: «Die Sache ist geritzt. Die können jetzt nicht mehr umorganisieren – der Hauptkandidat ist aus dem Rennen.»

 

FDP-Parlamentarier und –Funktionäre treffen sich nach der abendlichen Fraktionssitzung im Restaurant «Della Casa». Es wird emsig gerechnet. Bald ist den FDPlern hier klar: «Es reicht, aber ganz knapp.» Als unsichere Kantonisten werden einige welsche Parteifreunde eingestuft. Tatsächlich sollte Lilian Uchtenhagen 12 Stimmen mehr erhalten, als die FDPler voraussehen.

 

An der «Arcady»-Bar des Hotels «Schweizerhof» bechern etwa ab 22 Uhr Parlamentarier aller bürgerlichen Fraktionen, mehrheitlich aber CVPler. CVP-Nationalrat Edgar Oehler, Chefredaktor der «Ostschweiz», beschreibt unter dem Pseudonym «Hansjakob Wahlfieber» am 8. Dezember 1983 in seiner Zeitung, wie sich die Dinge entwickelt haben: «Überparteilich kamen honorige Kreise im Bundeshaus in einem bestimmten Raum zusammen und vereinbarten ein überparteiliches Zusammensitzen auf 23 Uhr. Es war immer noch Dienstagabend. Wie ein Lauffeuer gingen die parteipolitischen Telegrafen und Meldeläufer durch Berns Gassen, suchten die einschlägigen Restaurants auf und meldeten die neueste Entwicklung. Die Quittung war überall die gleiche, welche die Meldeläufer in die Zentrale zurückbrachten: ‚Jetzt reicht es uns endgültig’, habe man vom Heiri beim Nachtessen, vom Hans beim Dessert, vom Ueli beim Zeitungslesen und vom Paul auf dem Spaziergang vernommen. An der inoffiziellen Zusammenkunft der Vertreter aller Parteien fühlte man nicht nur, wie die besonnenen Typen der SP über den Ausgang des neuesten Schlagabtauschs fieberten, sondern auch den allgemeinen Drang, dem bösen Spiel endgültig eine Ende zu bereiten.

 

Das Buschtelefon klingelte unentwegt weiter. Bald einmal hatte man die grosse Mehrheit des Parlamentes erreicht und informiert. Druck wurde auf niemanden ausgeübt, das war angesichts der vergangenen Tage und der Entwicklung verpönt. Mittlerweile war Mitternacht vorbei. Das Sandmännchen hielt Einzug. So konnte man sich geruhsam zu Bette legen, um beim Frühstück nochmals über die Bücher zu gehen. (…) Die Meldungen, die beim Frühstück hereinkamen, stimmten optimistisch; Querkontrollen ergaben, dass das Informationsnetz durch das abendliche und nächtliche Bern funktioniert hatte. Das alles verdaut, das Dreiminuten-Ei, Gipfeli und ein Stück Zopf verspiesen, konnte man sich gemeinsam auf den Weg ins Bundeshaus machen. Man wollte zur Zeit eintreffen, denn die Lage war ernst, weshalb es eine bestimmte Angewöhnungsphase brauchte.» Soweit Hansjakob Wahlfieber alias Edgar Oehler.

 

Auf dem Herren-WC des Bundeshauses werden noch zwei Parlamentarier erwischt, die dem Treiben des Vorabends doch tatsächlich entgangen sind. Einer will leer einlegen, einer Uchtenhagen wählen. Im Gespräch während des Wasserlösens können die beiden Parlamentarier von ihrer Absicht abgehalten werden – sie versprechen, Otto Stich zu wählen. Damit keine bösen Überraschungen vorkommen, zeigen sich die Uchtenhagen-Gegner vom «Arcady»-Coup gegenseitig ihre Wahlzettel.

 

Otto Stich wird im ersten Wahlgang mit 124 Stimmen zum Bundesrat gekürt, Lilian Uchtenhagen bringt es auf 96 Stimmen. Kurz vor 11 Uhr bricht an der Thiersteineralle in Basel bei Coop Schweiz Jubel aus: «Unser Chef ist Bundesrat!» («Coop-Zeitung». Mit Blaulicht wird Stich zur Vereidigung ins Berner Bundeshaus gefahren, «eskortiert» von Coop Schweiz-Prominenz: Direktor Hans Thuli ist dabei, ebenfalls Edith Rüefli, die Otto Stich bei Coop Schweiz Tage vorher als Direktorin vorgezogen worden ist, dann auch der stellvertretende Direktor Peter Fitz. In Bern stossen sie zusätzlich auf Robert Kohler, Direktionspräsident von Coop Schweiz.

 

Im Nationalratssaal erklärt Otto Stich: «Ich bin der Meinung, die Zeit sei reif für eine Frau im Bundesrat. Aber da Sie mich gewählt haben, nehme ich die Wahl an.» FDP-Präsident Yann Richter sagt in einem ersten Wahlkommentar: «Man wird jetzt wissen, wer in der Schweiz befiehlt.» Erzürnt droht SP-Chef Helmut Hubacher mit dem Gang in die Opposition. Doch daraus wird nichts. Ein ausserordentlicher Parteitag verwirft das Ansinnen. Die SP bleibt Regierungspartei und der zunächst verschmähte Otto Stich löst als Finanzminister in den eigenen Reihen rasch deutlich mehr Begeisterung aus, als bei jenen, die ihn in den Bundesrat gewählt haben…

 

(Quelle: «Heil Dir Helvetia. Die Freude an der Macht», Herausgegeben von Christian Fehr, Edition Gutenberg, 1984)

 

Ludwig Hasler: "Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Dr. Ludwig Hasler

Ludwig Hasler

faktuell.ch: Erdogan, Orban, Putin, wohl auch Trump: Autokraten sind, wie es scheint, nicht zu stoppen. Gleichzeitig haben Bewegungen, die die traditionellen Parteien in Frage stellen, grossen Zulauf. Was wiegt schwerer: die Migrationsprobleme oder das Problem mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten?

 

Ludwig Hasler: Ich glaube das Hauptproblem ist, dass der Fortschritt stockt. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass es immer weiter und aufwärts geht, eine positive Dynamik herrscht. Das ist ein Projekt der Moderne. Es gibt immer mehr Freiheit, Bequemlichkeit, Glück, Besitz usw. Der Glaube ist vielleicht nicht verschwunden, aber eher vakant momentan. Wir sind heute überfordert von den grossen Aufklärungsidealen der Moderne: Freiheit, Vernunft, Toleranz, Weltoffenheit. Das hat prächtig funktioniert, solange man davon profitierte, aufstieg, mehr Freiheitsspielraum hatte. Und jetzt ist man skeptisch, glaubt nicht mehr so recht dran und sieht nicht mehr, was man davon hat. Dabei spielt vieles eine Rolle, auch die Migration. Jetzt kommen plötzlich Fremde, die einfach Teil haben, sich bedienen wollen. Für eine bestimmte Schicht ist dies kein grosses Problem…

 

faktuell.ch: … aber für den Teil der Bevölkerung schon, der nicht im Überfluss lebt…

 

Ludwig Hasler: …und der entwickelt das Gefühl, er sei betrogen um das, was man ihm versprochen hatte. Deshalb bildet sich eine Disharmonie zwischen so genannter Elite und dem Fussvolk. Die Elite spricht nach wie vor die Aufklärungssprache. Gegen Toleranz und Vernunft an sich hat niemand etwas. Aber wenn man befürchtet, von diesen Idealen nicht mehr profitieren zu können, sondern eher eins aufs Dach bekommt, eingeschränkt, eingeengt wird, dann verlieren die Ideale ihre Strahlkraft. Dann wird auf jene geprügelt, die diese Ideale jeden Morgen verkünden. Politik und Wirtschaft sind nicht die ursprünglichen Treiber dieser Entwicklung, sondern sie sind darin verhängt.

 

faktuell.ch: Sie waren lange Jahre Journalist in einer Zeit, da das Wort von Journalisten, kurz: ihre veröffentliche Meinung, etwas zählte. Hat die «Vierte Gewalt» ausgedient bzw. braucht es gar keine «Vierte Gewalt» mehr in einer Welt der «Bewegungen», die der politischen «Ochsentour» keinen Respekt mehr zollt?

 

Ludwig Hasler: Ich glaube nicht, dass sich die Funktion der Medien verändert hat. Aber wir haben auch historisch ein schiefes Bild, wenn wir meinen, in früheren Zeiten hätten hundert Prozent der Bevölkerung es nicht erwarten können, am Morgen die Zeitung zu lesen. Die Artikel waren damals kompliziert verfasst, vollkommen humorlos, eine Art Predigt-Fortsetzung oder -Ersatz. Seither haben sich die Medien nur vervielfältigt durch technologische und ökonomische Entwicklungen. Dass dies gleichzeitig der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht, ist ja klar. Es gibt nicht mehr «das Volk», sondern ein segmentiertes Volk mit ganz unterschiedlichen Interessen. Politik – das sehen wir sogar in der Schweiz und jetzt vor allem in Frankreich – erneuert sich ausserhalb der traditionellen Parteien. Ich halte dies weitgehend für einen normalen Vorgang. Es gibt keine Organisation, die sich über lange Fristen dauernd aus sich heraus erneuert

 

faktuell.ch: Früher oder später gehen aus Bewegungen auch immer wieder politische Organisationen hervor, die nach dem Muster traditioneller Parteien strukturiert sind.

 

Ludwig Hasler:  Politik hat sich insgesamt enorm ausgedehnt. Sie sorgt flächendeckend für die Menschen oder gibt dies zumindest vor und verspricht es. Politik im neuzeitlichen Verständnis ist Sicherheitspolitik. Der traditionelle Staat ist ein Sicherheitsstaat, er schützt die Bürger voreinander und vor Eindringlingen. Heute geht der Staat weiter und schützt mich vor mir selber, vor meinen internen Gefährdungen, vor meinen Süchten und vielleicht sogar vor meinen Sehnsüchten, jedenfalls vor sonntäglichen Konsumorgien an Tankstellen. Das ist jetzt staatliche Fürsorge. Und wenn die Fürsorge geritzt wird – zum Beispiel durch etwas gar viele Eritreer im Land – dann kommt ein Zweifel an den politisch Verantwortlichen auf bis hin zu einer Gegnerschaft, weil die Politik vermeintlich nur so tut, als würde sie für uns sorgen und uns schützen, in Wirklichkeit aber die Grenzen aufmacht und Fremde unter dem Stichwort «Asylrecht» an unsere Töpfe lässt. Ich glaube, dass dies ein Kernpunkt ist im momentanen Unbehagen.

 

faktuell.ch: Wie gross ist der Toleranz-Spielraum der Gastgeber-Länder, bevor sie Gefahr laufen, nicht nur ihre bisherigen Privilegien, sondern auch ihr Selbstbestimmungsrecht bis zur Unkenntlichkeit dem Anspruch des sogenannten «Gutmenschentums» zu opfern?

 

Ludwig Hasler: Ich hätte erwartet, dass man stringenter über Asyl, Asylrecht und Asylsuchende diskutiert. Eritrea ist nur ein Beispiel, aber ein aufschlussreiches. Man kann natürlich sagen, viele Leute in Eritrea seien «nicht sicher» oder hätten dort «keine Perspektive». Und jetzt? Eine Perspektive hat man nicht einfach so, für eine Perspektive muss man etwas tun. Es entsteht der Eindruck: Manche Eritreer laufen einfach davon. Okay. Wer kann weglaufen? Sicher nicht die Schwächsten. Sicher nicht die Ärmsten. Was bedeutet: Die Perspektivlosigkeit im Land Eritrea wird grenzenlos. Mit unserer Hilfe. Auf unsere Kosten? Die Skepsis ist völlig rational. Auch der emotionale Reflex ist verständlich: Dass wir in der Schweiz Perspektiven haben, ist nicht Schicksal, unsere Vorfahren haben es geschafft, von der Armut wegzukommen, gegen allerlei Widerwärtigkeiten. Ist eine Erfolgsstory, mit verdammt viel Schweiss und Erfindungsgeist. Es ist unser Erfolg. Und selbst wenn wir ihn mit den jungen Eritreern teilen möchten: Die meisten von ihnen kriegen doch auch hier nicht wirklich eine Perspektive.

 

faktuell.ch: Also macht man ihnen falsche Hoffnungen?

 

Ludwig Hasler: Ja, schon. Und das ist ihnen gegenüber auch nicht fair. Hinzu kommt der Sicherheitsaspekt. Wenn man das Asylrecht derart ausdehnt und aufnehmen will  wer «nicht sicher» ist, dann hätte momentan ein Drittel der Türken Recht auf Asyl bei uns und überlegen sie, wie viele das aus China und Russland sind. Ich halte dieses Kriterium für untauglich. Denn «nicht sicher» heisst noch lange nicht «verfolgt». Selbst bei «Verfolgten» müssten wir als kleines Ländli realistischer werden. Eritreer sind daheim nicht sicher? Was heisst «sicher»? Wir sind jetzt halt mal auf diesem Planeten. Das heisst, wir leben unter irdischen Bedingungen. Und irdische Bedingungen sind immer durchzogen. Die sind im Prinzip nie «sicher». Ich fürchte, mit diesem «Sicherheitsargument» wird unser Asylrecht ausgehöhlt. Momentan profitieren Eritreer davon. Andere werden die Leidtragenden sein. Nicht wirklich fair.

 

faktuell.ch: Helfen Sie Flüchtlingsministerin Sommaruga. Was tun?

 

Ludwig Hasler: Ich habe den Eindruck, dass in der Schweiz eine Mehrheit grundsätzlich dafür ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist aber eine Frage des Vorgehens. Der vormalige australische Premierminister Tony Abbott sagte, als die ersten Flüchtlingsschiffe seine Küste ansteuerten: «Stoppt mir diese verdammten Schiffe.» Man kann das für brutal halten, für mich ist es ein plausibler Reflex. Die Schiffe stoppen genügt natürlich nicht, sondern es müssen Flüchtlingslager organisiert werden. Die Australier – und auch die Kanadier – sagten dann okay, wir nehmen 10’000 auf. Aber die holen wir im Lager ab und bringen sie mit dem Flugzeug zu uns. Das ist eine Lösung. Denn was im Mittelmeer passiert, ist einfach schrecklich. Ich kenne die Situation natürlich nicht im Detail. Man schützt sich ja auch gerne vor solcher Detailwahrnehmung. Aber es ist zumindest umstritten, dass die Rettung wirklich zugunsten der Flüchtenden ist. 2016 gab es 6000 Tote im Mittelmeer. Wer kann denn so etwas verantworten?

 

faktuell.ch: An der Migration beteiligen sich «nur» drei Prozent der Weltbevölkerung. Doch in konkreten Zahlen bedeutet dies, dass rund 220 Millionen Menschen ausserhalb ihres Geburtslandes leben. Und nochmals 700 Millionen würden gemäss einer Gallup-Untersuchung emigrieren, wenn sie könnten. 700 Millionen sind das «Migrationspotenzial». Wird uns die Frage – wer ist Flüchtling, wer ist Migrant – nicht mehr loslassen?

 

Ludwig Hasler: Kaum. Umso wichtiger sind prinzipielle Überlegungen. Bei derart massenhaften Bewegungen müssen wir unsere Asyl-Philosophie überdenken. Traditionell nahmen wir entweder ideologisch verfolgte Einzelne auf. Oder verfolgte Gruppen wie die Hugenotten, die aber kulturell mit uns verbunden waren. Oder politische Flüchtlinge aus aktuellem Anlass, siehe Ungarnaufstand, siehe Balkankrieg. Nun haben wir eine völlig neue Situation: globale Migration. Quantitativ sind wir eh überfordert. Also brauchen wir neue Kriterien. Als Motto stelle ich mir vor: Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische. Ohne ausgeglichenes Geben und Nehmen scheitert mit der Zeit jede noch so gut gemeinte Affäre. Und zwar für beide: Bleibt der Fremde Fremdling in der Gesellschaft, ist seine Migration gescheitert. Fühlt sich der Gastgeber auf Dauer nur ausgenutzt, wird er sich gegen Migration auch dann sperren, wenn sie plausibel ist. Also müssen wir radikal unterscheiden zwischen Migrant und Flüchtling.

Für Migranten ist Integration das A und O. Flüchtlinge aus Syrien nehmen wir ohne diese Bedingung auf, klar. Aber zeitlich begrenzt. Aus einem syrischen Flüchtling kann ein bestens integrierter Migrant werden. Das ist in unserem Sinn. Wir brauchen Leute. Kluge Leute. Leute mit Biss. Leute mit Hunger. Wir regenerieren uns zu schwach…

 

faktuell.ch: …auf der Strasse gewinnt man seit ein paar Jahren nicht diesen Eindruck…

 

Ludwig Hasler: … ich spreche von den eigenen Genen. Wenn wir uns nur aus diesen reproduzieren würden, müssten wir uns etwas mehr Mühe geben. Eine Frau müsste 2,2 Kinder gebären. Davon sind wir weit entfernt. Also Integration – fragt sich nur: wo hinein? Wie steht es mit unserer Identität? Wir sind zwar ziemlich scharf auf Schwingfeste und auf 1.August- Feiern. Wir führen uns gern als Superpatrioten auf, gehen dann allerdings nach Konstanz einkaufen und decken uns beim chinesischen Online-Händler ein. Es ist ziemlich schizophren, was wir tun. In der Selbstdarstellung geben wir uns als Bergler und trommeln zum nationalen Lagerfeuer, weil es draussen angeblich kalt und zügig ist. Wir sind aber permanent unterwegs in alle Winkel dieser Erde. Das finde ich ziemlich schief.

 

faktuell.ch: Haben wir noch eine eigene Kultur?

 

 Ludwig Hasler: Das ist für mich eine wichtige Frage, weil eine Gesellschaft wie unsere vom Glauben an den Fortschritt lebt. Immer mehr und besser muss es werden. Generell braucht der Mensch entweder ein Gott oder eine Zukunft. Der Mensch – anders als alle anderen Lebewesen, die kompakt, dicht, problemlos sind und sich nicht jeden Morgen neu orientieren müssen – ist ein zwiespältiges Wesen. Das ist seine Grösse und auch seine Hinfälligkeit. In diesem Hin und Her zwischen Geist und Animalischem muss er sich dauernd justieren, sich zurechtfinden. Geist und Trieb in uns sind ewig im Widerstreit. Deshalb haben wir ja dauernd Probleme mit uns selbst. Diese Probleme lösen, heisst irgendwo einen Halt haben. Das war lange das Göttliche, das Auge Gottes, das alles sieht. Heute ist es das Google-Auge, das sieht auch alles. Das Schöne beim Auge Gottes war, dass es für sich behielt, was es sah. Bei Google ist dies nicht mehr der Fall. Ein Mensch kann nicht in der Gegenwart verharren, er muss etwas vorhaben, er braucht eine Zukunft. Dasselbe gilt für die ganze Gesellschaft. Wir haben heute Mühe, den Rank zu finden, weil die Zukunft in der Rückschau immer leuchtend war, voller Versprechungen, Abhebungen, eine wahre Hymne an die Veränderungen.

 

faktuell.ch: Und jetzt: Um Gottes Willen, bloss keine Veränderungen?

 

 Ludwig Hasler: Wenn man dort angelangt ist, wo wir als Schweiz sind, wenn es einem so gut geht, ja dann will man alles, bloss keine Veränderung. Genauer gesagt, man will eigentlich gar keine Zukunft. Man will eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Genauer noch: eine Fristerstreckung für eine problembereinigte Gegenwart. Ein paar Probleme werden noch ausgebügelt, wie 70 Franken mehr für die AHV-Neurentner, ein paar zusätzliche Velostreifen. Das riecht nun wirklich nicht nach Zukunft. Das ist eine ausgebügelte Gegenwart. Wenn man so in der Gegenwart sitzenbleibt und die Probleme trotz der Heidenmühe, die wir uns geben, nicht aufhören, dann werden wir miesepetrig. Jetzt kommen auch noch diese Migranten, trampen uns auf die Füsse und hocken auf der Sozialkasse. Man erträgt dann einfach nichts mehr. Wir haben gedacht, wir seien auf dem Berg angekommen. Es ist nicht schlau, so etwas anzunehmen. Menschen kommen nie auf dem Berg an, sie sind immer «am» Berg. Wie Sisyphus. Das ist das menschliche Pensum. Kraxeln, Varianten suchen, runterfallen, ausruhen, dann wieder hoch am Berg. Was uns heute fehlt, ist eine Art Vista. Wir müssen etwas im Blick haben, das zu erreichen sich lohnt. Vielleicht ein Silicon Valley Europas. Das wäre gar nicht so dumm.

 

 faktuell.ch: Die Frage ist, ob es bei uns funktioniert?

 

 Ludwig Hasler: Unsere Kultur war durch und durch christlich. Das zeigt sich noch im Jahresrhythmus mit Auffahrt, Pfingsten, Ostern. Das strukturiert heute noch, das Jahr strukturiert das Leben, es gibt ihm Feierlichkeit, ohne diese Festtage hätten wir flache Autobahn durchs Jahr. Auch Musik und Dichtung sind christlich geprägt, bis hin zu politischen Idealen wie Gerechtigkeit und Menschenrecht. Aber was tun wir nun schon seit geraumer Zeit? Wir entrümpeln. Das Christentum kommt im öffentlichen Gespräch nur noch vor, wenn wieder mal ein pädophiler Pfarrer am Werk ist. Sonst kann man es offenbar «kübeln». Ich glaube nicht, dass wir da was Gescheites machen. Soweit ich sehe, ist kein Ersatz vorhanden.

 

faktuell.ch: Dem Islam das Feld überlassen?

 

Ludwig Hasler:  Jaaa … Das will doch eher keiner, oder? Das Christentum hat immerhin die Aufklärung mitgemacht, die Religionskritik integriert. Der Islam – schon nur mit seinem Frauenbild – wäre ein Rückschritt. Der Mensch braucht – wie gesagt – entweder Gott oder Zukunft. Gott hält man in unserer Gesellschaft weitgehend für überflüssig. Wir sollen laut Umfragen zwar mehrheitlich religiös sein. Aber natürlich nur gefühlsmässig. Barfuss über eine nasse Wiese laufen oder so etwas. Hauptsache Empfindung. Das ersetzt aber nicht die Religion als höheres Koordinatensystem, das sie immer war. Diese Vakanz hat Folgen bis in die Sozialpolitik. Die so genannte Resilienz, die seelische Widerstandkraft, sinkt dramatisch ab. Die brauchen wir immer, wen etwas schiefläuft, bei Enttäuschungen, Versagen, Entsagen, Scheitern, Frustrationen.

 

faktuell.ch: Wir Schweizer gehören weltweit zu den glücklichsten Menschen. Auf 1000 Bewohner haben wir allerdings auch die grösste Psychiater-Dichte. Hohes Glücksgefühl und tiefe Resilienz: Woher kommt der Widerspruch?

 

Ludwig Hasler: In den letzten Jahrhunderten war für die Resilienz immer auch Religion zuständig. Wir waren in eine höhere Geschichte eingebettet. Welttheater. In diesem Theater spielten alle eine Rolle, eine kleine, grosse, völlig egal, Hauptsache eine Rolle. Das gibt einen Sinn. Der Sinn kommt nicht aus mir, der Sinn kommt aus der Teilnahme an etwas, das grösser ist als ich. Diese Teilnahme hat auch das Negative aufgehoben, das es in jeder menschlichen Existenz gibt. Hiob hatte eine Adresse für seine Debakel. Er konnte klagen. Ja, bei wem will ich heute klagen? Ich habe keine Adresse mehr und bin mit Entsagen und Versagen allein und zerbreche daran. Das stellt die Psychiatrie immer deutlicher fest. Heute sind wir körperlich gesünder denn je, clean sind wir, haben weniger Süchte, weniger Drogen, weniger Rauchen, weniger Saufen, nur mit Kiffen bleibt’s beim Alten. Je braver wir uns verhalten, desto mehr steigt die Gefahr der Depressionen.

 

faktuell.ch: Warum?

 

Ludwig Hasler: Wenn ich allein mit mir bin, nicht eingebettet in eine grosse Geschichte, in ein kosmologisches Drama, bin ich sozusagen verwaist. Alleinsein mag gehen, solange alles toll läuft. Sobald mich aber etwas piesackt, sinkt die Resilienz dramatisch. Resilienz hat unmittelbar etwas mit Kultur zu tun. Die Kultur, die einen höheren Sinn hat, ist nicht mehr da. Wenn wir schon keine eigene Kultur mehr haben, keine Christen mehr sind und keine mehr sein wollen, dann machen wir eine Vermischung, kulturelle Biodiversität. Seitdem die Aussicht auf ewige Himmelsfreude nicht mehr so klar ist, wollen wir ja sozusagen alles in der irdischen Lebensfrist ausschöpfen. Wenn es schon kein Leben danach gibt, dann zumindest zu Lebzeiten gleich zwei bis drei führen. Ich glaube, mit der Multikultur verhält es sich ähnlich. Auf die Idee kommt man erst, wenn man der eigenen Kultur misstraut, wenn sie ihre Stärke verliert.

 

faktuell.ch: Nicht nur der kulturelle, sondern auch der technische Wandel mischt unsere Gesellschaft auf. Wie beeinflusst die Digitalisierung unseren Sozialstaat?

 

 Ludwig Hasler: Wir sind von der Moderne überfordert. Es kommt zu Irritationen. Die Ideale überfordern uns. Der Fortschrittsglaube serbelt. Und jetzt heisst es: Alles wird ganz anders – und das ohne den Menschen. Na bravo. Digitalisierung heisst, dass die Maschine erwachsen und selbständig wird. Da denken Normalmenschen, o Gott, o Gott, wo bleiben wir? Gemäss Oxford-Studie übernehmen Maschinen 47 % aller herkömmlichen Tätigkeiten…

 

faktuell.ch: und Facebook will das menschliche Gehirn direkt mit dem Computer vernetzen…

 

Ludwig Hasler: …und das macht jetzt nicht alle froh, weckt in vielen Ängste, übrigens zum Teil die völlig falschen. Es ist nämlich nicht so, dass vor allem die minder Gebildeten überflüssig werden. Es wird auch in 50 Jahren noch eine Coiffeuse brauchen…

 

faktuell.ch:  … aber den Steuerverwalter nicht mehr…

 

Ludwig Hasler: … ja und ganz angesehene Berufe werden verschwinden. Wenn ein Arzt nichts anderes macht als Allgemeinstudienwissen auf unseren Fall runterzubrechen, ist er heute schon überflüssig. IBM’s Star-Doctor Watson ist besser im Diagnostizieren und Operieren. Das heisst auf der anderen Seite – und das wäre jetzt wirklich eine Zukunft – der Mensch muss sich neu erfinden. Der Mensch hat sich über Jahrhunderte hinweg profiliert durch rationale Intelligenz: Wissenserwerb, Rechnen, Berechnen, Kontrollieren. Das was man heute als Fachkompetenz bezeichnet. Heute bauen wir Maschinen, die uns genau bei dieser Kompetenz überlegen sind. Jetzt wird es interessant. Aber noch fehlt es uns an Fantasie, die Chance zu nutzen. Nehmen wir die Pflegerin. Ja was ist denn gegen einen Pflege-Roboter einzuwenden? Der soll doch die Zimmer reinigen, die Intimhygiene übernehmen. Gemäss Umfragen würden weit über die Hälfte der zu Pflegenden den Roboter vorziehen – aus Schamgefühl. Mit dem Roboter würde der Pflegerin ganz viel erspart bleiben. Jetzt hat sie endlich Zeit, wofür sie bisher keine Zeit hatte. Nämlich für das Wichtigste. Zuneigung, Interesse, Ermutigung, Beziehung. Das menschliche Hirn ist eine schlechte Rechnungsmaschine, es ist ein Sozialorgan.

 

faktuell.ch: Soziale Fähigkeiten sind in der Medizin, der Pflege wichtig. Wie sieht es in Berufen aus, bei denen mathematische Fähigkeiten im Zentrum stehen?

 

 Ludwig Hasler: Ich hatte kürzlich mit Architekten zu tun. Die haben heute schon eine Entwurfs-Software, die der Qualität eines durchschnittlichen Schweizer Architekten ziemlich gut entspricht. Aber die Software schafft das in zehn Minuten! Da fragen die Architekten, was um Gottes Willen sie denn jetzt tun sollen. Meine Antwort: «Denken! Jetzt kommen Sie mal zum Denken. Wenn ich so durch die Gegend gehe, sieht für mich nämlich nicht jeder Bau durchdacht aus. Denken Sie also über den Menschen nach. Was braucht der Mensch um zufrieden zuhause zu sein?» Es fragt sich generell, was ein Mensch braucht, um seine soziale Natur in Hochform zu bringen. Nehmen wir den Banker. Fintech (digitale Finanzdienstleistungen) macht heute zwei Drittel aller Finanzgeschäfte. Braucht’s da überhaupt noch einen Menschen in der Bank? Ja – wegen des Vertrauens! Aber dieser Mensch muss wirklich menschlich sein, das Gegenteil einer Maschine. Heute sind wir in der Ausbildung immer noch auf dem Trip, den Menschen möglichst zu einer perfekten Maschine zu machen. Nein, sage ich. Wir müssen Anti-Maschine werden. Das wäre für mich wirklich eine Zukunft.

 

 faktuell.ch: Noch läuft es anders: Kundenkontakte finden zunehmend über Internet statt, Kundenanfragen werden von der elektronischen Assistentin bearbeitet. Es besteht die Gefahr, dass vor allem ältere Menschen vom sozialen Leben ausgegrenzt werden.

 

 Ludwig Hasler: Ich glaube, dass schon wieder eine Umkehr stattfindet. Der Kanadier David Sax hat ein tolles Buch geschrieben: «Die Rache des Analogen – warum wir uns nach realen Dingen sehnen». Er listet auf, was wieder im Kommen ist. Beispielsweise Vinyl-Schallplatten. Der Renner im letzten Weihnachtsgeschäft waren Werkzeugkisten. Wieder etwas von Hand machen. Interessant finde ich auch, dass die grossen Autobauer mit durchautomatisierter Fertigung wieder Leute anstellen. Begründung: Die Automatisation sei unfähig, sich zu entwickeln. Ein Roboter kann aus Erfahrung zwar lernen, aber er ist nie unzufrieden. Weshalb soll eine Blechkiste unzufrieden sein?

Der Roboter hat keinen Körper. Er weiss nichts von seiner Endlichkeit. Er weiss nicht, dass er übermorgen entsorgt wird. Er war noch nie verliebt, er war noch nie betrunken, er weiss nichts. Er ist ein perfekter Idiot. Dass dieser Roboter uns überflügeln sollte, ist absoluter Schwachsinn. Natürlich ist seine Rechenleistung grösser. Logisch. Obschon das menschliche Hirn ein absolutes Unikum ist im ganzen Kosmos, soweit wir ihn kennen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Wir haben 86 Milliarden Hirnzellen. Was wäre, wenn Vollbeschäftigung herrschen würde? Das wäre unglaublich. Die grösste künstliche Intelligenz hat eine Milliarde Neuronen, braucht aber ein halbes Atomkraftwerk Energie, um sich in Gang zu halten. Wissen Sie, was Ihr Hirn braucht? 20 Watt. Das ist das Geheimnis. Und das ist nur wegen des Körpers. Das heisst wir müssen «verkörperlichen», versinnlichen, wenn wir eine Zukunft wollen. Nur als Körper Mensch ist der Mensch besser; als Rechenmaschine – vergessen Sie es!

 

 Zur Person: Dr. Ludwig Hasler,

Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim „St. Galler Tagblatt“, dann bei der „Weltwoche“. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schweizweit bekannt für seine Vorträge.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses faktuell-ch-Gespräch hat im Mai 2017 stattgefunden.)

 


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Stefan C. Wolter: "Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45"

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Bildungsökonom

 

faktuell.ch: Wir haben ein vorbildliches duales Bildungssystem in der Schweiz. Aber jährlich bleiben 10'000 Lehrstellen unbesetzt. Es entsteht der Eindruck, dass es Schülerinnen und Schüler reihum an die Universität zieht. Wie ist es tatsächlich, Herr Wolter?

 

Stefan Wolter: Die aktuelle Lehrstellenlücke ist vor allem eine demographische Konsequenz. Was den Sog an die Universitäten anbelangt, so ist festzuhalten, dass die Maturaquote in den letzten 20 Jahren praktisch unverändert geblieben ist. Von anfangs 1980er bis Mitte 1990er-Jahre stieg sie stark an und verdoppelte sich von 10% auf 20%, weil die Mädchen auf- und dann sogar überholten. Seit diesem Anstieg schwankt die Maturaquote immer um die 20%. Eintrittsticket an Uni ist die Maturität und die wird gesamtschweizerisch immer noch restriktiv vergeben.

 

faktuell.ch: Sie haben 2015 eine gross angelegte Bevölkerungsumfrage zu Bildungswünschen und -aspirationen durchgeführt...

 

Stefan Wolter: … wir haben 6000 Leute befragt. Wir wollten wissen, was sie für die ideale Ausbildung ihres Kindes halten.

 

faktuell.ch: Mit welchem Ergebnis?

 

Stefan Wolter: Zu meiner Überraschung schlägt die Lehre die Universität! Der Berufsbildungsweg ist immer noch «Number One» in der Schweiz.

 

faktuell.ch: Sinkt der Leistungsanspruch bei der Maturität, damit möglichst viele Jugendliche die Zulassung erhalten, wie böse Zungen behaupten?

 

Stefan Wolter: Die Quoten sind ja wie erwähnt stabil geblieben, damit kann nicht von einem sinkenden Leistungsanspruch ausgegangen werden. Zudem verfügen wir auch nicht über Leistungsmessungen über die Zeit, d.h. niemand kann es wissen. Was wir aber in unseren Bildungsberichten immer wieder thematisieren – ist der Umstand, dass zu einem zu grossen Teil die Falschen ans Gymnasium gelangen. Für Eltern mit guter Ausbildung, für Akademiker gibt es für den Nachwuchs tatsächlich nichts anderes als die Universität. Auch wenn das Kind die Leistungen nicht bringt, muss es trotzdem auf Biegen und Brechen an die Universität.

 

faktuell.ch: In welcher Grössenordnung setzen ehrgeizige Eltern privates Geld ein, um ihren Nachwuchs für die Uni fit zu machen?

 

Stefan Wolter: Mit Geld beziffern lässt sich das nicht. Wir wissen aber seit kurzem, wie viel Kinder Nachhilfeunterricht nehmen. Im 8./9. Schuljahr ist es ein Drittel. Das ist viel! Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler braucht sogar Langzeit-Nachhilfe. Da ist eine sozioökonomische Abhängigkeit klar vorhanden. Die Intensität des Nachhilfeunterrichts ist in jenen Kantonen besonders hoch, in denen der Zugang zum Gymnasium noch über Prüfungen und Vorschlagsnoten reglementiert wird. In den Kantonen, in denen der Zutritt am grünen Tisch entschieden wird, sagt man einfach „Ich will ins Gymnasium“, dann kommt man ins Gymnasium und braucht auch keine Nachhilfestunden. Im ersten Jahr fällt man dann allerdings schon durch oder muss repetieren. Ähnlich wie beim Medizinstudium. Da kennen die Deutschschweizer Kantone den Numerus Clausus mit Eignungstest und an den Westschweizer Universitäten kann jedermann studieren, wird aber spätestens nach dem zweiten Jahr rausgeschmissen, wenn er oder sie es nicht bringt.

 

faktuell.ch: Volkswirtschaftlich nicht gerade sinnvoll?

 

Stefan Wolter: Jaaa… darüber gibt es viele Diskussionen. Die Universitäten Genf und Lausanne begründen dieses Vorgehen damit, dass es gerechter sei, wenn ein Student ein Jahr lang seine Eignung unter Beweis stellen kann als nur beim eintägigen Test. Für mich sind allerdings die Kosten für ein Jahr verlorene Zeit zu hoch!

 

faktuell.ch: Wie sieht es in der Bildung mit der Chancengleichheit aus.
Reicht die Förderung der Lehrerschaft, Kinder aus einem nichtakademischen, gar bildungsfernen Elternhaus eine tertiäre Ausbildung zu vermitteln?

 

Stefan Wolter: Chancengerechtigkeit ist, wie bereits beim Zugang zum Gymnasium erwähnt, leider noch nicht überall gegeben. Allerdings sind unterschiedliche Bildungswege nicht nur auf Probleme bei der Chancengerechtigkeit zurückzuführen, es gibt auch Unterschiede bei den Bildungsaspirationen und –wünschen. So sind beispielsweise Erstgenerations-Ausländer mit unserem Bildungssystem noch wenig vertraut und orientieren sich nach dem Herkunftsland. Selbst Eltern, die auch aus Ländern mit einer Berufsbildungstradition kommen, müssen deswegen auch eine Präferenz für die Schweizer Lehre haben. Unsere Daten zeigen beispielsweise, dass gerade deutsche Einwanderer ihre Kinder gar nicht in die Lehre schicken wollen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Abiturquote in Deutschland sich der 50% Marke nähert, d.h. dort ist die Lehre schon ein Auslaufmodell. Wenn der Weg zum staatlichen Gymnasium verbaut ist, dann haben die Eltern das Geld, um eine private Alternative zu zahlen. Und das tun sie auch!

 

faktuell.ch: Welche Ausbildung rentiert volkswirtschaftlich am meisten?

 

Stefan Wolter: Das hängt von der Sichtweise ab. Aus fiskalischer Sicht lautet die Frage: Wer zahlt am meisten zurück von dem was in seine Ausbildung investiert wurde. Aus persönlicher Sicht: Rentiert sich die Ausbildung für mich? Die private Rendite bezogen auf die Bildungsjahre ist momentan bei Fachhochschulen und bei höherer Berufsbildung am höchsten. Denn die Ausbildungsgänge sind in einer relativ kurzen Zeit absolviert und es lässt sich damit ein gutes Einkommen generieren. Die Uni schneidet schlechter ab, nicht weil die Löhne absolut gesehen tiefer liegen, sondern weil man viel mehr Bildungsjahre gebraucht hat, um den erwarteten Lohn zu erzielen. Kurz: Mit einem Bachelor an einer Fachhochschule kann man praktisch dasselbe Einkommen erzielen wie mit dem Master an einer Universität.

 

faktuell.ch: Was raten Sie einem jungen Menschen, der möglichst schnell möglichst viel verdienen will?

 

Stefan Wolter: Bezüglich des Studienfachs kann ich keine grossen Ratschläge machen, da kennen wir die Löhne nur bis fünf Jahre nach dem Abschluss. Aber das ist gerade in einer akademischen Laufbahn noch nicht das Ende der Geschichte. Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45. Zwischen 25 und 45 liegt man mit dem Lohn unter oder auf gleicher Höhe wie mit anderen tertiären Abschlüssen. Dann werden die Einkommen höher bis zur Pensionierung. Aber mit diesen Kenntnissen können wir keine Ratschläge für eine Lebensperspektive geben.   

 

faktuell.ch: Warum werden nicht nur Studiengänge finanziert, von denen Wirtschaft und Staat profitieren können?

 

Stefan Wolter: Man weiss jeweils nur aus Vergangenheitsbetrachtung, was rentiert hat. Zu meiner Zeit wäre Linienpilot bei der Swissair wohl das non plus ultra gewesen. Piloten hatten eine Villa und gingen früh in Pension. Auch Journalist war ein gut bezahlter und angesehener Beruf. Aber an den Beruf des Informatikers dachte man damals nicht im Ansatz. Es entstehen also immer neue Berufe, die beim Studieneintritt noch gar nicht auf dem Radar waren oder von denen man noch nicht wusste, wie vielversprechend sie sein würden. Und Berufe, die super aussahen, versinken in die Bedeutungslosigkeit. Nichts gegen Piloten, aber heute sagt man „fliegende Tramchauffeure“...

 

faktuell.ch: … und der Nimbus schwindet…

 

Stefan Wolter: … auch noch. Man muss aber in der Beurteilung auch berücksichtigen, dass viele Studiengänge gar nicht eindeutig mit einem Beruf verbunden sind. Jemand kann Philosophie mit Schwerpunkt Logik studieren – ein schwieriges Gebiet. Was damit nach dem Studium anfangen? Finanzanalyse wäre eine Möglichkeit. Damit verdient sich ein Haufen Geld und die Tätigkeit ist der Gesellschaft und Wirtschaft auch dienlich. Das Studienfach allein entscheidet also nicht über den beruflichen Erfolg. Was konkret aus unseren Daten hervorgeht: Geistes- und Sozialwissenschaftler haben eine heterogenere Verteilung des Erfolgs nach dem Studium. Jobs für diese Leute sind begrenzt. Nur wer ausgezeichnet abgeschnitten hat, erhält geeignete Arbeit. Dann allerdings verdient er gleich viel wie jemand, der Naturwissenschaften oder exakte Wissenschaften studiert hat. In diesen Fächern haben auch Studienabsolventen recht gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt wenn sie im Studium schlecht abgeschnitten haben. Geistes- und Sozialwissenschaften führen somit nicht per se zu schlechten Arbeitsmarktergebnissen, sondern sind nur mit einem höheren Risiko behaftet nicht dort und zu den Bedingungen arbeiten zu können, wie man sich dies bei der Studienwahl vorgestellt hatte…

 

faktuell.ch: ... beispielsweise in der Bundesverwaltung zu arbeiten?

 

Stefan Wolter: Tatsächlich ein wichtiger und interessanter Punkt! Der grösste einzelne Arbeitgeber für Akademiker ist der Staat. Der Staat beschäftigt Akademiker praktisch aller Studienfächer. Er zeichnet sich gegenüber der Privatwirtschaft aber dadurch aus, dass man bei ihm i.d.R. kleinere Bildungsrenditen erzielt. Das hat damit zu tun, dass der Staat eine viel kleinere Lohnspreizung hat als die Privatwirtschaft. Mit andern Worten: Wenn der Staat in die Studienwahl eingreifen würde, in dem er beispielsweise die gesamten Studienkosten auf die Studierenden überwälzen würde, müsste er auf der Lohnseite aktiv werden. Sonst würden ihm aufs Mal die Leute fehlen, die er selbst anstellen will. Der ehemalige Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, Hansueli Stöckling pflegte dazu jeweils sinngemäss zu sagen: „Wenn der Staat die Studienkosten dem Studenten anhängen würde, dann könnte er keinen Veterinär mehr einstellen.“ Und das stimmt heute noch.

 

faktuell.ch: Die CS hat eine Studie in Auftrag gegeben, die Aufschluss über die Lebensweise junger Menschen gibt. Wichtig sind für sie Geld, Status und Konsum. Die Jugendlichen wollen später im Beruf zwar viel Geld, aber auch viel Freizeit. Wenn der Chirurg nur 50% arbeitet, um viel Quality Time mit seinen Kindern zu verbringen, dann wird sich die staatliche Investition in seine Ausbildung nie lohnen. Wie lässt sich das Problem lösen?

 

Stefan Wolter: In der Schweiz ist die fiskalische Rendite für praktisch alle Ausbildungstypen positiv. Wenn der Staat einem jungen Menschen die tertiäre Ausbildung bezahlt und der nach dem Ausbildungs-Abschluss Vollzeit arbeitet, dann muss sich die Gesellschaft keine Sorgen machen. Sie kann auch einem Studenten aus gutem Haus die Ausbildung finanzieren, weil sie über Steuern, insbesondere die Steuerprogression, alle ihre Investitionen mit Zins und Zinszinsen zurückerhält. Wenn ein Studien-Absolvent aber nicht Vollzeit arbeitet, dann ist es für den Staat und somit auch die Gesellschaft schnell ein Verlustgeschäft.

 

faktuell.ch: Ausbildung ist doch ein Menschenrecht…

 

Stefan Wolter: … aber nicht alle haben den gleichen Zugang zu diesem Recht und wenn sich jemand seine Bildung von der Gesellschaft bezahlen lässt, und dann freiwillig darauf verzichtet, Vollzeit oder überhaupt zu arbeiten, dann überbürdet er die Bildungskosten der Gesellschaft ohne ihr etwas zurück zu geben. Damit käme es zu einer nicht vertretbaren Finanzierung von unten nach oben, die sicherlich nicht gerecht wäre.  

 

faktuell.ch: Weshalb nicht eine Bedingung an die Ausbildung knüpfen - wie bei den Militärpiloten. Die Ausbildung kostet eine Million und als Gegenleistung haben sie mindestens 5 Jahre bei der Luftwaffe zu dienen.

 

Stefan Wolter: Das wäre eine Möglichkeit. In andern Ländern wird sie schon praktiziert. In Australien häuft der Student ein virtuelles Schuldenkonto an und muss den vollen Betrag zurückbezahlen. Mit ungefähr 40 ist er dann schuldenfrei. Im kanadisch-amerikanischen Modell macht man es umgekehrt. Der Student trägt die Kosten von vorneweg und wenn er es sich nicht leisten kann, nimmt er einen Kredit auf. Ich bin gegen dieses Modell, weil es wieder zu einer Chancen-Ungleichheit führt. Abgeschreckt von den Schulden, verzichten viele auf ein Studium.

 

faktuell.ch: Wie sieht das übertragen auf die Schweiz aus?

 

Stefan Wolter: Noch bezahlt die Mehrheit in der Schweiz durch Arbeitstätigkeit ihr Studium zurück, also besteht meiner Meinung nach für die Mehrheit der Studierenden auch kein Handlungsbedarf. Aber man könnte eine Notfalllösung einführen und sagen, wer freiwillig nicht arbeitet, muss die Studienkosten akonto zurückzahlen. Das würde auch als Anreiz dienen zu arbeiten.

 

faktuell.ch: Paradox ist, dass wir in der Schweiz zu wenig Fachleute haben.

 

Stefan Wolter: Ja. Wir haben auf der einen Seite Leute, die ausgebildet sind, aber nicht arbeiten wollen, und auf andern Seite haben wir Fachkräftemangel. Bisher war das kein Problem, wir haben die Fachleute aus dem Ausland geholt. Wenn wir jetzt keine Ausländer mehr wollen, müssen wir das Problem anders lösen.

 

faktuell.ch: Ohne Diplome scheint heute nichts mehr zu gehen. Nehmen wir den Sozialbereich. Der Sozialarbeiter mit fürsorgerischer Frontarbeit ist – plakativ gesagt – ersetzt worden durch den Case-Manager auf dem Bürostuhl. Was bringt das den Klienten, der Gesellschaft?

 

Stefan Wolter: Man kann nicht am Berufsbedürfnis vorbei reglementieren. Die Berufe werden anspruchsvoller und durch die Ansiedlung auf tertiärem Niveau kann man auch deren Spektrum erweitern. Es reicht nicht mehr, dass man einen Sozialarbeiter ausbildet, damit er einen Jugendtreff leiten kann. Er muss eine Job-Perspektive haben, damit er – wenn er mit 40 genug vom Jugendtreff hat – auch in eine Kaderposition in einer Sozialbehörde aufsteigen kann. Dazu braucht er aber auch Kenntnisse von unserem Rechtssystem oder vom Personalwesen.

 

faktuell.ch: Das verhindert doch die Anstellung von Leuten, die eine Aufgabe mit natürlicher Affinität und gesundem Menschenverstand angehen. Warum kann der Sozialarbeiter den Jugendtreff nicht leiten so lange es ihm gefällt und dann einen Eignungstest für Weiterbildung machen?

 

Stefan Wolter: Unser Bildungswesen hat heute schon über die höhere Berufsbildung viele Möglichkeiten sich in einem Beruf ständig weiter zu qualifizieren. Daneben ist aber zu beachten, dass wir den Jugendlichen von heute mit der Berufsmaturität auch die Möglichkeit geben ohne sehr grosse Umwege zu einer tertiären Ausbildung zu gelangen, d.h. man muss auch Job-Profile schaffen, die auf diese jungen Leute zugeschnitten sind.

 

faktuell.ch: Aber ist es nicht so, dass die Berufe ohne Grund „verakademisiert“ werden?

 

Stefan Wolter: Ich denke nicht. Lassen Sie mich das am Beispiel der viel kritisierten Tertiarisierung des Lehrberufs machen: Auch wenn ein Primarlehrer oder eine Primarlehrerin einem Erstklässler „nur“ erste Schritte in Mathematik beibringen will, muss sie mehr mitbringen als „Ich habe es selber gelernt“. Schülerinnen und Schüler sind ganz unterschiedlich strukturiert. Nicht nur von ihren Fähigkeiten, sondern auch von ihrem Zugang zur Materie her. Die Lehrerin muss auf Meta-Ebene wissen, wie sie den unterschiedlichen Lern-Typen den Lerninhalt vermitteln muss. Wenn sie das nicht kann, lässt sie vielleicht mehr als die Hälfte der Schüler zurück. Und bevor sie denselben Lerninhalt unterschiedlich vermittelt, muss sie oder er noch Diagnostik beherrschen. Man muss herausfinden, welches Bedürfnis welcher Schüler hat: Hat ein Kind einen Lernrückstand? Braucht es besondere Zuwendung? Ist es hochbegabt und braucht einen zusätzlichen Lerninhalt? Dazu braucht man eine tertiäre Ausbildung.  Man kann die Lehrpersonen nicht mehr jahrzehntelang dem „learning by doing“ überlassen. Dann hätten sie bereits zu viele Jahrgänge potentiell mit „trial and error“ verloren.

 

faktuell.ch: Hat man sich vor 20, 30 Jahren mit einer nicht adäquaten Ausbildung zufrieden gegeben oder ist die Gesellschaft und damit die Bildung heute schlicht komplexer?

 

Stefan Wolter: Natürlich sind die Anforderungen komplexer geworden. Ich glaube aber eher, dass wir uns früher einfach mit weniger und schlechteren Ergebnissen zufriedengegeben haben. Dass Migranten im Unterricht nicht mitkamen, war eben weil sie Migranten waren und nicht, weil man die falsche Pädagogik und Didaktik anwendete oder falsch diagnostiziert hatte.

 

faktuell.ch: Im Gymnasium und an der Universität sind eigenständiges Lernen und damit Eigenverantwortung angesagt. Das heisst heute vorwiegend Informationsbeschaffung im Internet und via Social Media. Wie soll dies im so genannten postfaktischen Zeitalter noch möglich sein, in dem fake-news und Filterblasen – Facebook und Google zeigen dem Leser nur was seinem Weltbild entspricht – seriöse Information ersetzen?  

 

Stefan Wolter: Selbststudium gehört zur intellektuellen Entfaltung. Eigenständiges Lernen heisst aber nicht, dass die Studenten allein gelassen werden. Als Dozent muss ich ihre Defizite erkennen, sie anleiten, zur Eigenständigkeit erziehen. Der Zugang zum Wissen war noch in den 1980er-Jahren schwierig und teuer. Wissen war einer Elite vorbehalten und diese Elite hat uns mit dem ausgebildet was sie wusste und für richtig befand. Als Studenten waren wir unseren Professoren ausgeliefert. Und mehr oder weniger dazu verdammt zu glauben, was sie einem sagten. Das war ein Nachteil. Dem Nachteil der leicht zugänglichen Gratisinformation im Internet, dass sie falsch sein kann, steht der Vorteil gegenüber, dass leicht und schnell überprüfbar ist, ob auch stimmt, was ein Lehrer oder Dozent erzählt. Wenn ich bei einer Vorlesung einen Begriff verwende und ein Student mir sagt, Google meine dazu etwas Anderes, dann ist das nicht schlecht. Der Student setzt sich kritisch mit dem Thema auseinander und glaubt nicht einfach, was ich da vorne erzähle.

 

faktuell.ch: Welches ist denn heute die Hauptaufgabe der Lehrpersonen und der Dozierenden, wo sich die Schüler und Studenten die Informationen selbst besorgen können?

 

Stefan Wolter: Wir müssen ihnen beibringen, woran man richtige und falsche Information erkennt. Das ist mehr als nur „Medienerziehung“. Dazu würde ein Geschichtsstudent „Quellenstudium“ sagen. Also das Original finden und sich nicht auf ein Werk verlassen, das der Autor anhand unzähliger Quellen verfasst hat. Was früher nur Geschichtsstudenten leisten mussten, sollte heute jeder Student und jeder Bürger tun. Internet ist ein Riesenvorteil und diesen Vorteil erkauft man sich mit „noise“ – Informationen, die im Hintergrund herumschwirren und in denen viele Fehler stecken. Ich habe heute also hohe Kosten, weil ich herausfinden muss, was stimmt, dafür finde ich die Informationen deutlich schneller.

 

faktuell.ch: Welches ist denn die wichtigste Kompetenz, die Studierende brauchen, um sich im Bildungswesen durchsetzen zu können?

 

Stefan Wolter: Die heutige Forschung sagt, dass es die gleichen Fähigkeiten sind, die man auch sonst im Leben und bei der Arbeit braucht:  eine hohe Aufmerksamkeitsspanne und Hartnäckigkeit. Das sind Fähigkeit, die man üben muss und kann, sie sind nicht einfach angeboren.

 

faktuell.ch: Junge Menschen wollen Geld, Konsum und Status. Karriere macht sich vorzugsweise global, am besten im Silicon Valley. Die Schweiz finanziert das Studium, hat aber nichts davon. Wie sehen Sie das?

 

Stefan Wolter: Momentan sind wir eher die Netto-Gewinner beim globalen Braindrain, d.h. wir haben ein „Braingain“. Mehr Ärzte, die in einem anderen Land für Millionen ausgebildet worden sind, kommen in die Schweiz, um zu arbeiten, als beispielsweise Schweizer Ärzte auswandern.

 

faktuell.ch: Aber wie steht es mit dem Ehrgeiz der Schweizer Uni-Absolventen, im Silicon Valley rasch Millionär zu werden?

 

Stefan Wolter: Ehrzeiz ist nicht schlecht und Informatikausbildung auch nicht, aber das Silicon Valley ist wie das Hollywood der Wirtschaft. Für die meisten nur ein Traum. Nur wenige schaffen es. Im Silicon Valley gibt es ein grosses Proletariat, über welches die Medien wenig berichten. Jugendliche und auch ihre Eltern sehen häufig nicht, dass man eher im Lotto gewinnt als dort Millionär wird.

 

faktuell.ch: Und was ist mit den Jugendlichen, die es auch ohne Ausbildung zu Ruhm und Reichtum bringen wollen?

 

Stefan Wolter: Wir haben TV-Sendungen wie «Die Schweiz sucht den Superstar». Das sind bildungsmässig desaströse Programme. Denn es wird den Leuten vorgegaukelt, dass man es auch ohne Ausbildung – sei es in dem gewünschten Fach oder allgemein – an die Spitze schaffen kann. Lehrerinnen und Lehrer versuchen täglich zu vermitteln, dass im Leben nichts aus einem wird, wenn man nicht lernt. Diese Botschaft wird ständig konterkariert mit medial vermittelten Beispielen von Leuten, die es ohne Bildung zu etwas bringen. Sicher, man kann sozial und finanziell auch ohne Bildung Erfolg haben, nur ist die Wahrscheinlichkeit winzig klein.  

 

faktuell.ch: Eine neue Herausforderung ist die Migration. Welche Art von Bildungsoffensive ist angesagt, um Analphabeten und Verweigerer, aktuell zum Beispiel muslimische Frauen, marktfähig zu machen?

 

Stefan Wolter: Bei der legalen Arbeitsmigration sehen wir eine Polarisierung. Wir sehen eine Einwanderung von mehr als doppelt so vielen unqualifizierten Leuten als wir sie schon im Land haben. Gleichzeitig haben wir auch eine viel grössere Anzahl sehr gut ausgebildeter Migranten, aber die Mitte fehlt. Das ist verständlich. Unten holen wir Leute rein für Arbeiten, die wir selber nicht machen wollen. Oben holen wir Spezialisten rein für Funktionen, die uns fehlen. Statt zehn Jahre zu warten, bis wir die Spezialisten selber ausgebildet haben, nehmen wir sie aus dem Ausland. Hingegen das mittlere Spektrum der Qualifikationen können wir gut im Inland abdecken und haben wenig Bedarf nach Ausländern.

 

faktuell.ch: Und was bedeutet dies für die Ausbildung?

 

Stefan Wolter: Da gibt es eine Polarisierung. Die „unten“ haben das Gefühl, dass ihnen die Ausländer die Arbeitsplätze wegnehmen, und „oben“, an der Zürcher Goldküste, stöhnen Schweizer Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr ins Gymnasium können wegen der Migranten.

 

faktuell.ch: Dann haben wir die Flüchtlinge, die Asylbewerber…

 

Stefan Wolter: … die aktuelle Flüchtlingskrise ist glücklicherweise noch nicht ein sehr grosses Problem für die Schweiz. Was daraus noch wird, ist aber schwierig abzuschätzen. Jede Flüchtlingsgeneration nach dem 2. Weltkrieg hat sich komplett unterschieden. Tibeter, Ungarn, Tschechen, Tamilen in den 80er-Jahren, die Vertriebenen nach dem Kosovo- und Exjugoslawien-Krieg, heute arabische Flüchtlinge aus dem Raum Syrien, afrikanische Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea. Der Ausbildungsbedarf war bei jeder Flüchtlingswelle anders, ebenso die Motivation der Leute. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gab es früher nicht. Ich sehe das Problem, dass wir wenig von der Erfahrung, die wir mit früheren, grösseren Flüchtlingsströmen machten, auf die heutige Situation übertragen können – eben weil sich die Art der Flüchtlinge unterscheidet. Eine kulturelle Integration ist sicher das A und O. Aber nicht alle haben die Absicht, länger als nötig hier zu bleiben.

 

faktuell.ch: Integration erfolgt in erster Linie über die Sprache. Die Ressourcen sind allerdings beschränkt. Im Kanton Zürich hat die Bildungsdirektion beschlossen, die Mittel für Deutsch- und Analphabeten-Kurse per 2017 für drei Jahre zu streichen. Sparmassnahmen! Was halten sie davon?

 

Stefan Wolter: Das kann ich nicht verstehen. Die Sprache ist nicht nur wichtig für die Integration, sondern auch zur Verhinderung einer Ghettoisierung. Die Integration gelingt am besten dort, wo die Leute möglichst fern von Landesgenossen angesiedelt werden, weil sie die Landessprache und Landesbräuche schneller lernen. So viel weiss man aus der Literatur über Migrantenströme. Wenn die Sprachbindung wegfällt, provoziert man einen Druck, die neue Sprache zu lernen. Es gibt auch keinen Beruf mehr, den man ohne Sprache ausüben kann. Auch so genannt unqualifizierte Berufe sind sprachlastig.

 

faktuell.ch: Was zeigt die Erfahrung?

 

Stefan Wolter: Ich habe schon vor 20 Jahren, als ich noch Chefökonom im BIGA war, Probleme mit Jugendlichen gehabt, die einen schlechten Sprachhintergrund hatten. Ein paar Jahre nach dem Jugoslawienkrieg waren sie in der Schweiz, fanden keine Lehrstelle und wir meinten, sie könnten doch etwas Unqualifiziertes machen, zum Beispiel Gleisarbeiter bei der SBB. Da sagte uns der SBB-Vertreter: “Und was ist, wenn ich denen sage, wenn ein Zug kommt, winke ich dann mit einem roten Fähnli und die verstehen mich nicht?“ Wir haben uns auch gesagt, Industriearbeiter könnten Leute ohne Kenntnisse der Landessprachen werden, weil die ja nur bestimmte Handgriffe zu machen haben. Schon wieder lagen wir falsch. „Nein“, lautete der Bescheid, „wir haben Schichtwechsel oder Produktionswechsel, dann steht das im Aushang. Als Firmenchef kann ich die Leute nicht in 40 Sprachen bedienen.“

 

faktuell.ch: Welchen volkswirtschaftlichen Beitrag leisten eigentlich die verschiedenen Generationen im Vergleich – Vorkriegsgeneration, 68iger, Babyboomer, Millennials?

 

Stefan Wolter: Es fragt sich, ob diese Generationen nur eine Erfindung der Journalisten sind. Wissenschaftlich gesehen gibt es die nicht. Kulturelle Verschiebungen in den Jahrgängen sind unbestritten. Aber ich glaube nicht, dass man Leute aufgrund ihres Geburtsjahres homogen beurteilen kann. Klar ist, dass der Mensch durch das geformt wird, was er erlebt. Wenn jemand seine Bildungsentscheidung in einer Zeit der Rezession treffen muss, tut er dies anders als derjenige, der sich in einer Zeit entscheidet, in der wirtschaftlich Milch und Honig fliesst, und er damit rechnen kann, dass jeder Entscheid zum Erfolg führt. Das kann schon ganze Generationen prägen und auch längerfristige Auswirkungen haben.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Stefan C. Wolter

Ist seit 1999 Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und somit auch für die Bildungsberichterstattung der Schweiz zuständig. Er leitet auch die Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern und unterrichtet als ständiger Gastdozent auch an der Universität Basel. Wolter vertritt die Schweiz seit 1995 in verschiedenen Gremien der OECD und ist seit 2011 Präsident von deren Expertengruppe für Berufsbildung.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Dieses Gespräch fand im November 2016 statt)


Martina Bircher: "Wer in Eritrea ohne Ausbildung an Motoren rumgeschraubt hat, findet hier in einer Garage keine Arbeit."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Martina Bircher, als Gemeinderätin der 7500-Personen-Gemeine Aarburg im Kanton Aargau zuständig für Soziales, Gesundheit und Jugend.

faktuell.ch: Frau Bircher, 200 der 400 Sozialhilfebezüger Ihrer Gemeinde sind Flüchtlinge – 170 aus Eritrea. Auf dem Papier sieht es so aus, als ob die Asylverordnung des Bundes bis hin zum Fingerabdruck jede Ausgabe mit Bundesgeld abdeckt. An sich sollten Sie zumindest finanziell sorgenfrei sein, solange der Bund zahlt. Sind Sie aber nicht – warum?

 

Martina Bircher:  Der Bund kommt für die ersten 5 respektive 7 Jahre ab Einreise in die Schweiz für diese Personen auf – aber nicht für alles. So ist es nicht. Die grosse Herausforderung sind die Kinder. Sobald die Eltern in Aarburg Wohnsitz haben, sind wir auch für die Kinder zuständig. Wir haben beispielsweise eine Familie mit zwei fremdplatzierten Kindern. Kosten pro Kind und Monat: 7000 Franken. Da sind uns die Hände gebunden. Wir haben einfach die 14‘000 Franken zu bezahlen.

 

faktuell.ch: … „fremdplatziert“ verursacht offenbar Kosten wie in einem Pflegeheim…

 

Martina Bircher: … genau.

 

faktuell.ch: Warum wurden die Kinder fremdplatziert?

 

Martina Bircher: Das wissen wir nicht. In der vorherigen Wohngemeinde muss die Kesb so entschieden haben.

 

faktuell.ch: Wie wurde Ihre Gemeinde als neue Wohngemeinde ausgewählt?

 

Martina Bircher: Es handelt sich um anerkannte, resp. vorläufig aufgenommene Flüchtlinge und die haben freie Wohnungswahl. Wenn sie einen Mietvertrag in Aarburg haben, sind sie hier registriert. In diesem spezifischen Fall sind die fünf Jahre noch nicht abgelaufen, bis dahin können wir die Kosten weiter an den Kanton verrechnen.

 

faktuell.ch: Sehen wir uns den Kreislauf an: Menschen kommen in die Schweiz, stellen einen Asylantrag, erhalten Status N und werden auf die Kantone verteilt. Der Kanton verteilt sie weiter an die Gemeinden, wo sie in einem Asylzentrum leben. In Aarburg ist dies eine Kantonsunterkunft. Sie haben also weder Kosten noch Aufwand…

 

Martina Bircher: … doch, wir haben als Gemeinde das Problem, dass die Kinder sofort die Schule besuchen müssen und kein Wort Deutsch sprechen. Wir haben auch zu wenig Schulraum. Unser Asylzentrum ist eine Familienunterkunft und hat 90 Plätze. Da kann es sein, dass aufs Mal zehn Kinder im gleichen Jahrgang sind, was dann eine zusätzliche Klasse erfordert, für die wir Raum, Schulbücher, Pulte, Stühle und Lehrer bezahlen müssen. In dieser Hinsicht werden wir als Gemeinde vom Kanton allein gelassen.

 

faktuell.ch: Die Kantone erhalten vom Bund im Schnitt je Flüchtling und Monat pauschal rund 1500 Franken, als ca. 50 Franken pro Tag. Davon erhalten die Gemeinden etwas mehr als 30 Franken – für Unterbringung, Sozialhilfe und Betreuung. Reicht das bei Ihnen nicht?

 

Martina Bircher: Nein. Der Bund zahlt immer Pauschalbeträge, die er regional nach den unterschiedlichen Wohnkosten berechnet und die reichen selten aus.

 

faktuell.ch: Was kommt hinzu?

 

Martina Bircher: Deutschkurse – viele müssen zuerst das Alphabet lernen –, Kinder, Fremdplatzierungen, Familienbegleitung etc. Die Differenz bezahlt bei uns die ersten 5/7 Jahren der Kanton und dann die Wohngemeinde. Neu müssen wir als Gemeinde ab dem nächsten Jahr die Sozialhilfe zunächst voll selber bezahlen. Die Ausgaben fliessen dann in die Berechnung ein, wieviel uns aus dem kantonalen Finanzausgleich zusteht. Gegenwärtig ist es so, dass wir als Gemeinde mit vergleichsweise extrem hohen Sozialhilfe-Lasten fast 50 Prozent der Kosten vom Kanton zurückerhalten. Gemeinden, die weniger Sozialhilfebezüger haben, erhalten keine Rückvergütungen.

 

faktuell.ch: Klingt alles heillos kompliziert. Wann kommen die Ansätze gemäss den sogenannten Skos-Richtlinien hinzu?

 

Martina Bircher: Wer anerkannter oder vorläufig aufgenommener Flüchtling ist, hat innerhalb des Kantons freie Wohnungswahl. Er meldet sich an, bezieht eine Wohnung und ab diesem Zeitpunkt ist er jedem Schweizer in Sachen Sozialansprüche gleichgestellt. Er erhält nicht mehr wie in der Asylunterkunft 7 bis 9 Franken pro Tag, sondern 1000 Franken pro Monat nach Skos-Richtlinien. Und jetzt finanziert ihm der Bund via Kanton eine einmalige Integrationspauschale von 6500 Franken.

 

faktuell.ch: Damit die Integration Fortschritte machen kann, fordert die Skos eine Verdreifachung der Integrationspauschale. Darüber können Sie sich freuen.

 

Martina Bircher: Alle wissen, dass die meisten Flüchtlinge mit grösster Wahrscheinlichkeit in der Schweiz bleiben werden. Deshalb sollen die Integrationsbemühungen verstärkt werden. Daran ist soweit nichts auszusetzen. Das Problem sehe ich in der hohen Anerkennungsquote. Das Staatsekretariat für Migration anerkennt rund 60 Prozent der Asylbewerber als vorläufig aufgenommene Flüchtlinge oder als Flüchtlinge. Und weitere 20 Prozent erhalten den Status als vorläufig aufgenommene Ausländer. Aber auch die werden nicht in ihre Heimat zurückgehen.

 

faktuell.ch: Was hält „den Flüchtling“ davon ab?

 

Martina Bircher: Der anerkannte Flüchtling bleibt, weil er relativ schnell eine Niederlassungsbewilligung erhält, der vorläufig aufgenommene Flüchtling kann nach fünf Jahren in der Schweiz das Gesuch stellen, als Flüchtling anerkannt zu werden, und bleibt also auch. Der vorläufig aufgenommene Ausländer kann nach 5 Jahren ein Härtefallgesuch stellen und dann wird auch er als Flüchtling anerkannt.

faktuell.ch: Sind die unterschiedlichen Ausweise folglich gar sinnlos?

 

Martina Bircher: Sehr speziell finde ich, dass die Eritreer als Flüchtlinge anerkannt werden und den B-Ausweis erhalten. Die Begründung lautet, dass jeder von ihnen persönlich an Leib und Leben bedroht ist. Syrer sind vorläufig aufgenommene Flüchtlinge mit F-Ausweis. Diesen Status sieht der Bund für Leute aus Kriegsgebieten vor, die bis Kriegsende hier in Sicherheit leben und sich dann in der Heimat am Wiederaufbau beteiligen können. Iraker und Afghanen sind vorläufig aufgenommene Ausländer, ebenfalls mit F-Ausweis, die man nicht zurückschicken kann, weil sie das Land nicht mehr aufnimmt...

 

faktuell.ch: … und wie wirkt sich das auf Ihre Gemeinde aus?

 

Martina Bircher: Beim anerkannten Flüchtling, Status B, ist die Sozialhilfequote am höchsten, weil er auf Familiennachzug Anrecht hat, auch wenn er von der Sozialhilfe lebt. Der vorläufig aufgenommene Flüchtling, Status F, kann nur Familiennachzug (Eltern, Ehepartner, Kinder) geltend machen, wenn er nicht mehr von der Sozialhilfe lebt. Für ihn ist der Anreiz zu arbeiten folglich grösser. Das spüren wir bei uns.

 

faktuell.ch: Wie lang kann Aarburg die Flüchtlingsausgaben noch stemmen?

 

Martina Bircher: Ohne Finanzausgleich wäre Aarburg bereits heute zahlungsunfähig. Wir geben für Sozialhilfe im Jahr durchschnittlich fünf Millionen Franken aus.

 

faktuell.ch: Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

 

Martina Bircher: Die Sozialhilfeausgaben werden steigen. Eritreer stellen am meisten Gesuche und haben die höchste Anerkennungsquote. 2007 wohnte kein einziger eritreischer Flüchtling in Aarburg, heute sind es mit Zuzug und Geburten 170.

 

faktuell.ch: Wie viele von ihnen arbeiten?

 

Martina Bircher: Zehn Prozent. Vorwiegend alleinstehende Männer. 90 Prozent leben von der Sozialhilfe. Angeblich waren sie in Eritrea alle Schafhirten. Es fehlt generell an brauchbaren Qualifikationen. Wer in Eritrea ohne Ausbildung an Motoren rumgeschraubt hat, findet hier in einer Garage keine Arbeit. Unsere Automechaniker sind halbe Informatiker.

 

faktuell.ch: In jüngster Zeit sind die Hilfswerke in die Kritik geraten, die bis zum Wechsel aus der Bundesobhut mit der Betreuung der Asylanten mandatiert werden.

 

Martina Bircher: Hilfswerke sind keine Institutionen, die den Leuten auf die Füsse treten, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Dass die Hilfswerk-Mitarbeitenden immer helfen wollen, ist ja schön und gut, aber gerade bei den Eritreern funktioniert meist nur autoritäres Auftreten, „Könntest du“ und „Würdest du“ funktioniert nicht, weil sie das in Eritrea wohl auch nicht kennen.

 

faktuell.ch: Wenn die Leute von den Hilfswerken übergeben werden, wäre es zielführend, sie wären RAV-fähig.

 

Martina Bircher: Sind sie aber nicht! Beim RAV wird ein gewisses Deutsch-Niveau erwartet. Erst wenn es – zertifiziert – vorhanden ist, kann man jemanden überhaupt erst anmelden. Und solange man jemanden dort nicht anmelden kann, findet er auch keinen Job. Von 172 Eritreern ist bei uns gerade mal einer beim RAV angemeldet. Deshalb macht unser Sozialamt jetzt mit jedem Flüchtling eine Zielvereinbarung. Ein erstes Ziel kann sein, dass der Flüchtling jeden Tag den Deutschkurs besucht. Oder dass er pünktlich ist. Dann hat man ein erstes Feedback und weiss, in welcher Klasse er ist und wann wir ihn beim RAV anmelden können.

 

faktuell.ch: Stichwort „Mentalitätsunterschiede“. Wie sieht es damit zum Beispiel vor dem Hintergrund der Integration in den Arbeitsprozess bei Eritreern und Syrern aus?

 

Martina Bircher: Als wir in Aarburg vor einiger Zeit auf öffentlichem Boden Abfall einsammelten, führte ich eine Gruppe von Eritreern und Syrern aus dem Asylzentrum. Die Syrer arbeiteten und die Eritreer fanden das Ganze eher lustig und hatten einfach den Plausch. Bei den Syrern gibt es dafür andere Probleme: Das Frauenbild. Bei dieser Abfall-Aktion kamen auch Frauen mit. Aber nur die Männer hoben den Abfall mit der Zange auf, die Frauen gingen neben ihnen her.

 

faktuell.ch: Flüchtlinge befinden sich in einer Notsituation. Kann man sie nicht dazu anhalten, den Kinderwunsch etwas zurückzustellen?

 

Martina Bircher: Dreinreden dürfen wir nicht. Immerhin erhalten die Frauen im Kanton Aargau die Pille gratis. Nach der Geburt eines Kindes schicken wir die Eltern in eine Väter- und Mütterberatung, wo Verhütung auch immer ein Thema ist. Es werden auch Schwangerschaftsvorbereitungs-Kurse angeboten – in allen Sprachen. Aber eben, wir haben es mit einer andern Mentalität zu tun. In Afrika sind Kinder statt einer AHV die Altersvorsorge. Hinzu kommt, dass hier in der Schweiz mehr Kinder die Position innerhalb der Sozialhilfe verbessern. Es gibt mehr Geld und man ist vor Sanktionen geschützt. Wenn wir einem Paar mit vier, fünf Kindern die Beiträge kürzen wollen, weil sie sich nicht an die Regeln halten, dann gilt das nicht für die Kinder. Kürzen dürfen wir nur den Erwachsenen.

 

faktuell.ch: Nach den neuen SKOS-Richtlinien wird ab sechs Personen pro Familie nicht mehr linear erhöht.

 

Martina Bircher: Wir haben Familien, in denen Grosseltern, Eltern und vier Kinder leben.

 

faktuell.ch: Damit erhält die Grossfamilie mehr Geld, als sie mit Erwerbstätigkeit der Eltern verdienen könnte.

 

Martina Bircher: Das ist so, ja. Das Problem liegt bei den Zusatzleistungen. Der Betrag, den die Leute auf Sozialhilfe erhalten, ist steuerfrei. Der Zahnarzt wird zusätzlich bezahlt, bei der Krankenkasse werden Franchise und Selbstbehalt bezahlt. Im Gegensatz zum Erwerbstätigen fallen beim Sozialhilfebezüger keine zusätzlichen Kosten an. Wenn der Familienvater 4500 Franken im Monat verdient, überlegt er sich zweimal, ob er sich eine Zahnfüllung für 500 Franken leisten kann. Dieses Problem hat der Sozialhilfeempfänger nicht. 

 

faktuell.ch: Wie setzen sich die Sozialhilfe-Empfänger bei Ihnen in Aarburg zusammen?

 

Martina Bircher: Etwa 25 Prozent sind Schweiz, 30 bis 35 Prozent Ausländer, der Rest ehemalige Asylbewerber. Insgesamt haben wir 400 Sozialhilfeempfänger.

 

faktuell.ch: Spüren sie zwischen jenen, die aus widrigen Umständen in die Sozialhilfe abgerutscht sind, zuvor aber jahrelang in die Sozialversicherungen eingezahlt haben, und Asylanten, die ohne Vorleistungen die gleichen Ansprüche haben, Animositäten?

 

Martina Bircher: Ja, das spüren wir. Ich erhalte auch entsprechende Briefe. Die Schweizer, aber auch die andern Ausländer, die hier leben und gearbeitet haben,  sind gegenüber den Flüchtlingen schlechter gestellt. Sobald einer als Flüchtling anerkannt ist, gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, die besagt, dass ein Flüchtling den Einheimischen gleichgestellt ist, also Anspruch auf Sozialhilfe in derselben Höhe hat. Auch wenn es um Verwandten-Unterstützung geht, ist der Flüchtling bessergestellt, weil der keine Verwandten hat, die für ihn zahlen können; der Schweizer oder ein hier lebender Ausländer meistens aber schon. Zudem muss ein Schweizer oder Ausländer, der wieder einen Job findet, die Sozialhilfeleistungen der Gemeinde zurückzahlen. Bei den Flüchtlingen kann man das vergessen. Sie schaffen es auch nicht ansatzweise, die grossen Beträge zurückzuzahlen.

 

faktuell.ch: Und die Schweizer zahlen tatsächlich zurück?

 

Martina Bircher: Ja. Das muss sein, sonst sind wir unglaubwürdig. Wir haben in Aarburg eine 40-Prozent-Stelle geschaffen, die prüft, wo wieviel Geld als Rückerstattung fällig ist. Es sind 120‘000 bis 150‘000 Franken pro Jahr.

 

faktuell.ch: Die Verpflichtung, die aufgelaufenen Schulden zurückzuzahlen, ist nicht gerade ein Anreiz, wieder zu arbeiten.

 

Martina Bircher: Aber nur weil die Meisten heute eine Anspruchsmentalität haben, eigentlich wäre Sozialhilfe quasi eine vorübergehende Nothilfe.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfekosten für die ganz grossen Flüchtlings-Kontingente der Jahre 2014 bis 2016, rund 45‘000, kommen ab 2019 bis 2021 auf Sie zu. Hat es in Ihrem Budget noch Luft nach oben?

 

Martina Bircher: Wir leben bereits jetzt vom Finanzausgleich. Ich habe Bruttokosten in der sozialen Wohlfahrt von 10,5 Millionen – bei 17 Millionen Steuereinnahmen! Damit habe ich noch keine Schule und auch keine Verwaltung bezahlt. Das Schlimme ist, dass fast 90 Prozent unserer Ausgaben gebundene Ausgaben sind. Das ist das Gesetz, wir müssen bezahlen.

 

faktuell.ch: Wie gross ist der Sozialhilfeanteil an den Kosten der sozialen Wohlfahrt?

 

Martina Bircher: Rund fünf Millionen Franken. Hinzu kommen Fremdplatzierungen und die ganze Palette der bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie Alimentenbevorschussung, Eltern-Beistandshilfe, Sonderschulen etc.  Weil unser Budget derart belastet ist, erhalten wir knapp die Hälfte der 10,5 Millionen vom Kanton wieder zurück.

 

faktuell.ch: Wie kommen die Flüchtlinge, in Aarburg vorwiegend Eritreer mit ihren 1000 Franken Taschengeld pro Monat aus, die sie nach SKOS-Richtlinien erhalten zurecht?

 

Martina Bircher:  Viele sagen mir, dass sie etwa die Hälfte brauchen. Die andere Hälfte schicken sie in ihre Heimat, was eigentlich verboten ist.

 

faktuell.ch: Das setzt aber wohl voraus, dass sich ein paar Asylanten zur Wohngemeinschaft zusammentun.

 

Martina Bircher:  Folgender Fall: In einer Wohnung wohnen fünf anerkannte Flüchtlinge. Jeder macht geltend, er lebe alleine und will 1000 Franken. Das wären 5000 Taschengeld für die ganze WG. Wir sagten ihnen, dass sich in einer WG die Kosten teilen lassen. Sie  beharrten aber auf ihrem Einzeldasein. Also schickten wir einen Sozialdetektiv vor Ort, der einen Eritreer angestellt hat, weil der besser an seine Landsleute rankommt. Ihm erzählten sie ohne Umschweife, dass im Kühlschrank nicht jeder sein eigenes Regal hat, sondern dass man zusammen kocht. Ohne diese Auskunft hätten wir lediglich 10% kürzen können. So aber hat jeder nur ein Taschengeld von 500 Franken.

 

faktuell.ch: Wie erleben sie die Konkurrenz im Niedriglohn-Bereich – von aussen hat man den Eindruck, dass sich die diversen involvierten Sozialstellen von Bund, Hilfswerken, Kantonen und Gemeinden auf den Füssen herumtreten?

 

Martina Bircher: Ich habe ja nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Schweizer und Ausländer ohne Ausbildung, die einen Job brauchen. So viele Angebote, wie nötig wären, gibt es gar nicht.

 

faktuell.ch: Sozialfirmen als Arbeitgeber gibt es hier nicht?

 

Martina Bircher: Doch, aber das kostet. Wenn ich jemanden ins Beschäftigungsprogramm schicke, kostet er die Gemeinde mindestens das Doppelte eines normalen Sozialfalls. Und ich habe keine Garantie, dass er es mit der Sozialfirma schafft aus der Sozialhilfe rauszukommen. Die Erfolgschancen liegen gerade mal bei 20-30%. Deshalb konzentrieren wir uns im Sozialdienst nur auf die „Crème de la Crème“ – diejenigen, die wirklich wollen, von denen wir wissen, dass sie pünktlich und zuverlässig sind. Die schicken wir dann in solche Programme. Alle andern nicht, weil das nichts bringt. 

 

faktuell.ch: Nur junge Schweizer und Ausländer?

 

Martina Bircher: Gelegentlich auch einen Flüchtling, von dem wir annehmen, er könnte es packen. Es gibt solche, die wirklich arbeiten möchten. Aber sie haben völlig falsche Vorstellungen. Uns spielt das eigentlich keine Rolle, jeder den wir von der Sozialhilfe abmelden können, ist ein Erfolg egal welche Nationalität.

 

faktuell.ch: Es leben 34‘000 Eritreer in der Schweiz. Im Schnitt arbeiten 90 Prozent nicht oder kaum. Die Sozialhilfeempfänger erhalten weit über eine halbe Milliarde Franken. In Eritrea wäre diese Summe in Ausbildung und Projekte wohl deutlich nachhaltiger investiert…

 

Martina Bircher: … absolut. Nur was ich feststelle und was in Bundesbern noch nicht angekommen ist: Das heutige Flüchtlingssystem ist für Eritrea ein Geschäftsmodell. Zwar ein kurzfristiges, aber das interessiert die Machthaber dort nicht. Was zählt, ist der kurzfristige Profit. Sie schicken junge Leute, die für die Regierung potenziell gefährlich werden könnten, nach Europa. Hier erhalten sie Geld und schicken davon die Hälfte nach Hause. Eritrea lebt von diesem Geld und hat gar kein Interesse, an dem Geschäftsmodell etwas zu ändern.

 

faktuell.ch: Gibt es eine bessere Lösung?

 

Martina Bircher: Man sollte endlich diese Zahlungen aus Sozialhilfegeld einstellen. Allen Flüchtlingen auf Sozialhilfe ist verboten, die Sozialhilfe zweckentfremdet zu verwenden. Das Geld muss hier verwendet werden, auch für die Integration. Sonst kann man die Sozialhilfe halbieren. Nur für Essen und Trinken braucht man nicht 1000 Franken im Monat.

 

faktuell.ch: Wie erhalten die Flüchtlinge in Aarburg ihr Sozialhilfegeld?

 

Martina Bircher: Wir überweisen das Geld auf das Bankkonto des Sozialhilfebezügers. Was er mit dem Geld macht, dürfen wir nicht wissen. Wenn er 500 Franken vom Bancomat bezieht und sie beim SBB-Schalter via Western Union in die Heimat überweist, dann handelt es sich eigentlich um eine klare Zweckentfremdung. Aber wie wollen wir das nachweisen?

 

fakutell.ch: Was schlagen Sie vor?

 

Marina Bircher: Ich wollte die Guthaben auf eine Karte laden, auf der die Bargeldfunktion gesperrt ist. Gesetzlich würden wir aber so die Leute unter Generalverdacht stellen, ausserdem wurde mit der Gleichstellung argumentiert.

 

faktuell.ch: Die Skos schlägt vor, jedem Asylanten einen persönlichen Coach zur Seite zu stellen, damit die unabdingbare Arbeitsmarktintegration gelingen kann.

 

Martina Bircher: Es wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, die Leute zu integrieren, bleibt aber Utopie. Es ist ganz einfach nicht finanzierbar und es fehlen die geeigneten Fachleute.

 

faktuell.ch: Die Skos hat ihre Richtlinien überarbeitet, die Jungen erhalten weniger und die grossen Familien auch. Vor allem aber hat sie die Sanktionsmöglichkeiten verschärft. Zufrieden?

 

Martina Bircher: Im Kanton Aargau haben wir die Sozialleistungen schon immer um 30 Prozent gekürzt, wenn sich die Bezüger nicht an die Abmachungen halten.

 

faktuell.ch: Na und – wo liegt das Problem?

 

Martina Bircher: Wenn wir bei Sozialhilfebezüger genau hinschauen wollen, dann müsste ich einen Mitarbeiter nur für diese Aufgabe einstellen. Der Effekt wäre aber gleich null. Zuerst müssen wir eine Verwarnung aussprechen, dann dem Bezüger das rechtliche Gehör geben und anschliessend das Ganze dokumentieren. Um dem Sozialhilfeempfänger, der sich nicht an die Richtlinien hält, das rechtliche Gehör zu geben, müssen wir ihn einladen, damit er Rede und Antwort stehen kann. Da haben wir schon zwei Gespräche geführt, und eingeschriebene Briefe versandt, die er nicht abholt…

faktuell.ch: ...also Griff zum Rotstift: kürzen oder gar streichen …

 

Martina Bircher: … ja, aber dann beginnt das Ganze von vorn. Wir müssen dem Bezüger die Chance geben, alles richtig zu machen. Wenn er dies nicht tut, gibt man ihm wieder das rechtliche Gehör. Das kann drei bis vier Mal durchgespielt werden und dann können wir in begründeten Fällen die Sozialhilfe streichen. Das haben wir auch schon getan. Zwei Tage später kommt der Kandidat aber wieder und meldet sich einfach neu an. Wenn Ich mit dem Kanton telefonierte und meinte, der könne nicht im Ernst wieder aufs Sozialamt kommen und Sozialhilfe verlangen, erhielt ich zur Antwort: Juristisch gesehen ist dies ein neuer Fall und wird neu beurteilt.

 

faktuell.ch: Klingt etwas bitter, Frau Bircher?

 

Martina Bircher: Es ist zu sagen, dass viele Sozialhilfeempfänger anständig sind und die Kürzungen akzeptieren. Aber ich sehe, dass Leute, die nicht arbeiten wollen und das System kennen, immer zu ihrem Geld kommen. Wir müssen jede pingelige Bestimmung einhalten und kriegen auf den Deckel, wenn wir dies nicht tun. Aber wir haben keinen Juristen im Sozialamt. Den könnte ich gar nicht bezahlen. Wir haben Sozialarbeiter, die nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten. Wir werden an jedem Wort aufgehängt und der Klient muss nur einen Fresszettel mit drei Wörtern aufschreiben, die man nicht einmal versteht. Da ist rechtsgültig. Und wenn ein Zweifel besteht, wird ihm gratis ein Anwalt zur Seite gestellt.

faktuell.ch: Gut, aber dann wird entschieden.

 

Martina Bircher: Denken sie. Mit einem Sozialhilfeempfänger mussten wir gefühlte zehnmal beim Kanton antraben. Er immer mit Anwalt. Dann wurde es ihm zu dumm. Er zog um. In seiner neuen Wohngemeinde macht er dasselbe.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Februar 2017 statt.)

 

 

Zur Person:

Martina Bircher,

Jahrgang 1984, war zum Zeitpunkt des Gesprächs u.a. im Gemeinderat von Aarburg für das Ressort Soziales, Gesundheit und Jugend verantwortlich - ein Schlüsselressort, da Aarburg die höchste Sozialhilfequote im Kanton Aargau hatte. Seit 2019 ist sie Nationalrätin (SVP).

 


Andreas Dummermuth: "Wir brauchen keine geschleckten Lobbyisten."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Andreas Dummermuth, dem Präsidenten der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen

faktuell.ch: Herr Dummermuth, warum ist für die Ausgleichskassen die vorgeschlagene  Bundeskompetenz für die Einführung von IT-Mindeststandards im Bereich der 1. Säule gleichsam des Teufels?

 

Andreas Dummermuth: Es ist nicht Aufgabe der Aufsichtsbehörde, die Durchführung sicherzustellen, sondern den Vollzug der AHV-Gesetzgebung zu überwachen. Eine Aufsicht, welche die IT definiert, wird zur wichtigsten Durchführungsstelle. Das widerspricht allen Governance-Konzepten.

 

faktuell.ch: Die Durchführungsstellen werden verpflichtet, sich an Mindeststandards, insbesondere zur Entwicklung und zum Betrieb von gesamtschweizerisch anwendbaren Informationssystemen, zu halten. Was soll daran so schlimm sein?

 

Andreas Dummermuth: Bundesbeamte haben nie und nimmer unsere IT-Durchführungserfahrung. Die Ausgleichskassen und IV-Stellen haben in den letzten Jahren laufend bewiesen, dass alle Aufträge des Parlamentes innert der Frist professionell umgesetzt wurden. Dieser Erfolg wird mit neuen Kompetenzen für die Bundesverwaltung unnötig torpediert.  

 

faktuell.ch: Apropos Frist: Vieles würde mit der Altersreform 2020 ab 1. Januar 2018 nicht einfacher, sondern komplizierter. Auf die IT-Systeme der Durchführungsstellen wartet eine grosse Aufgabe. Sind sie bereit?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben alles für den ganzen Leistungs- und Beitragsbereich – Flexibilisierung des Altersrücktritts, Bezug aller Renten, Vorbezug, Aufschub – in die Wege geleitet: Völlig neue Merkblätter und Formulare sind verabschiedet, die prognostische Rentenberechnung ist vorhanden. Wir werden zusätzlich ein kostenloses Berechnungstool online anbieten, die Schulungen unserer Mitarbeitenden haben begonnen – das heisst, wir gehen davon aus, dass die Volksabstimmung positiv ausfällt. Alles wird am 1. Januar 2018 laufen. Das kostet auf verschiedenen Ebenen insgesamt einmalig etwa zwanzig Franken pro Rentner, also gegen 50 Millionen Franken. Das ist der Preis der Demokratie. Nota bene haben wir das alles ohne die geplanten IT-Standards der Bundesverwaltung hingekriegt. Die brauchen wir nicht. Tipptoppe Umsetzung ist unser Business.

 

faktuell.ch: Der Gesetzesentwurf sieht durchaus vor, dass die Durchführungsstellen die IT-Mindeststandards entwickeln können, damit sie im Massengeschäft AHV praxistauglich sind. Trotzdem stemmen sich die kantonalen Ausgleichskassen, die IV-Stellen und die Verbandsausgleichskassen der Arbeitgeber wie eine Bank dagegen. Riecht nach grossem Misstrauen gegen Bundesbern.

Andreas Dummermuth: Die Engländer sagen: «If it ain’t broke, don’t fix it.» (etwa flick nichts, das nicht kaputt ist). Was uns ohne Not vorgeschlagen wird, verursacht jährliche Mehrkosten von 21 Millionen Franken und das Produkt AHV wird nicht besser. Im Gegenteil. Die damit angestrebte Wirkungssteuer bedeutet eine Bürokratisierung der AHV sondergleichen. Diese unnötigen Kosten werden die Arbeitgeber und die Kantone tragen müssen. Da machen wir nicht mit.

 

faktuell.ch: Reden wir Klartext. Alle Erfahrungen mit IT-Bundesprojekten bis hin zum teuren «Insieme»-Flop der Eidgenössischen Steuerverwaltung sind schmählich abgestürzt. Spüren die Verantwortlichen der Ausgleichskassen bereits den warmen Atem von experimentierfreudigen IT-Bundesbeamten im Nacken?

 

Andreas Dummermuth: Ich halte es für die grösste Gefährdung der AHV seit 1948, wenn Bundesbeamte in die AHV-Informatik reinpfuschen! Man setzt das Erfolgsmodell AHV unnötig auf’s Spiel.

 

faktuell.ch: Fehlt es den Ausgleichskassen an Lobbyisten unter der Bundeskuppel?

 

Andreas Dummermuth: Wir stehen selber hin! Obschon AHV, IV, EO und EL etwa 40 % des Sozialversicherungskuchens ausmachen, geben wir keinen einzigen Franken für Lobby-Arbeit aus. Die Politik will von uns keine geschleckten Lobbyisten...

 

faktuell.ch: … etwas professioneller Lobbyismus könnte vermutlich auch den Ausgleichskassen nicht schaden, wenn man zum Beispiel sieht, dass die Pensionskassen ein Jahr länger Zeit als die Ausgleichskassen bekommen, um sich auf die Neuerungen der Altersreform einzustellen.

 

Andreas Dummermuth: Wir brauchen und wollen das nicht, auch wenn wir uns nicht unbedingt beliebt machen, weil wir immer klar Stellung beziehen. Wir sagen: Die AHV gehört den Versicherten und der Wirtschaft und nicht der Bundesverwaltung. Bundesbeamte haben keinerlei höhere Legitimation über die AHV zu reden als irgendjemand anderer. Politik hat nicht die Bundesverwaltung zu machen, sondern die gewählten Parlamentarier. Und die gehen wir auch aktiv an.

 

faktuell.ch: Bundesbern und seine Beamten haben es mit Ihnen schwer.

 

Andreas Dummermuth: Ich bin seit 1992 im Sozialversicherungsgeschäft. Ich musste die enormen Probleme der IV miterleben, vor denen ‘Bern’ die Augen damals schloss und noch Mitte der 1990er-Jahre erklärte: „Die IV hat keine Probleme“.  Oder das ganze Drama mit den Ergänzungsleistungen. Da werden jährlich mehrere hundert Millionen Franken völlig überflüssige Ergänzungsleistungen ausgezahlt. Und wiederum: Von Bundesbern kam nichts. Es brauchte vier Vorstösse im Bundesparlament, bis endlich eine EL-Reform an die Hand genommen wurde.

 

faktuell.ch: Stichwort IV. Ende Jahr läuft die siebenjährige Mehrwertsteuer-Aufbauhilfe aus. Das waren jährlich mehr als eine Milliarde Franken. Laut den Verantwortlichen im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wird die IV ab 2018 ohne diese Unterstützung wieder schwarze Zahlen schreiben. Ist das realistisch?

 

Andreas Dummermuth: Nein, das ist das Prinzip Hoffnung. Wir waren ziemlich nah am Sanierungsziel, aber jetzt erfüllt die Politik wieder Zusatzwünsche, die massive Mehrausgaben zur Folge haben – etwa im Bereich von Pflegeleistungen für Kinder, dann im Bereich der Geburtsgebrechen mit Trisomie 21 und aktuell läuft die Vernehmlassung für eine Änderung der Invalidenverordnung – gemischte Methode bei der Invaliditätsbemessung bei Teilzeiterwerbstätigen.

Dummermuth: Entweder man sagt, es ist uns egal, wenn das in zwei Volksabstimmungen versprochene Sanierungsziel aufgegeben wird – das fände ich aber heikel – oder man schaut trotzdem, wie man eben unnötige Ausgaben verhindern kann. Das Hauptproblem der IV ist heute, dass wir weiterhin 40 % IV-Neurentner mit psychischen Problemen haben. Das ist ein gesellschaftliches Desaster. Wenn die Schweiz Menschen mit psychischen Problemen nichts anderes anbieten kann, als eine Rente, entspricht das nicht dem, was man von einem der reichsten Länder der Welt erwarten könnte.

 

faktuell.ch: Klingt aber auch nach Mehrkosten. Was empfehlen Sie?

 

Andreas Dummermuth: Arbeitsmarktintegration! Wir müssen vor allem an der Schwelle am Ende der schulischen Ausbildung, beim Eintritt ins Arbeitsleben, dafür sorgen, dass diese Schwelle nicht zum Stolperstein wird. Es gilt, allen jungen Menschen, auch solchen, die nur Teilzeit arbeiten können, eine berufliche Ausbildung zu geben.

 

faktuell.ch: Wie soll das gehen, ohne ebenfalls zum Prinzip Hoffnung zu mutieren?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben heute in der Schweiz ein sehr gutes System der Arbeitslosenversicherung (ALV). Ein Erfolgsmodell! Um die rund 140'000 Arbeitslosen kümmern sich 5000 Personen – die ALV ist damit personell doppelt so gut «motorisiert» wie die IV. Bei der IV erhalten wir zwar Instrumente, aber es fehlen uns leider die Handwerker.

 

faktuell.ch: Und alles wird gut?

 

Andreas Dummermuth: Ja, irgend jemand muss diese Menschen begleiten! Und genau das können die IV-Stellen mit mehr Fachpersonal am besten machen. Die Krankenkassen helfen uns leider nicht. Mit ihren stetig höheren Prämien spiegeln sie nicht bessere Wirkung, sondern nur den explodierenden Medizinalkonsum. Aber keine einzige Krankenkasse weiss, wo Sie und ich arbeiten. Denen ist das völlig egal. Die Krankenkassen haben keinen «back to work»-Auftrag.

 

faktuell.ch: Sie wollen die Krankenkassen einbinden?

 

Andreas Dummermuth: Sämtliche internationalen Untersuchungen zeigen, dass Länder, die gegen Invalidisierung kämpfen, alle Partner in eine «back to work»-Strategie einbinden. Nach dem heutigen System können wir nichts machen. Die Leute sind von der Gesundheitsindustrie auf Psychopharmaka und Therapie ausgerichtet worden. Und wenn einer 19 ist, sagt man, da ist nichts mehr zu machen. Die IV soll sich mit der Rente um ihn kümmern. Darauf muss die Gesellschaft eine entschiedene andere Antwort geben: Jawohl, wenn du krank bist, haben wir ein Interesse daran, dass du gesund wirst. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dass du wieder arbeiten gehst. Und wenn wir das nicht koppeln, werden wir weiterhin einen derart hohen Anteil von Menschen mit psychischen Problemen haben.

 

faktuell.ch: Was soll die Gesellschaft tun, wenn viele Junge offensichtlich nicht im imstande sind, eine Berufslehre durchzustehen?

Andreas Dummermuth: Auf die Frage nach mangelnder Resilienz gibt es zwei Antworten: Die eine lautet mit der Bach-Kantate: «Kommt, ihr Töchter, helft mir

klagen!» Lamentieren ist aber kein Ansatz. Die andere: Wenn wir nicht wollen, dass junge Menschen mit psychischen Problemen wie heute en masse IV-Rente beziehen, müssen wir ihnen zwei-, dreimal eine Chance geben. Klar ist für mich: Junge Menschen bis zum Alter 25 oder 30 brauchen keine IV-Rente, sondern Begleitung.

 

faktuell.ch: Bis 2030 soll die IV ihre Schuld von zuletzt 11,4 Milliarden Franken bei der AHV abgetragen haben. Das macht jährlich 820 Millionen. Wie soll dies ohne Mehrwertsteuer-Bonus gehen?

 

Andreas Dummermuth: Die Sanierung der Invalidenversicherung ist versprochen, von Volk und Ständen abgesegnet. Damit sie die Schuld bei der AHV abbauen kann, muss sie Gewinn machen. Wenn man jetzt aber der IV – wie schon ausgeführt – zusätzliche Leistungen aufbürdet, ist selbst das Sanierungsziel an sich gefährdet.

 

faktuell.ch: Eigentlich sollten die AHV-Renten gemäss Bundesverfassung «angemessen» existenzsichernd sein, sind sie aber nicht.

 

Andreas Dummermuth: Bis 2008 waren die 1966 als Übergangslösung eingeführten Ergänzungsleistungen ein Provisorium. Bereits 1995 hat sich der Bundesrat in seinem 3-Säulen-Bericht der Realität angepasst und erklärt, dass das Ziel der Existenzsicherung durch die drei Säulen und nicht allein durch die erste Säule erreicht wird. Seit dem 1. Januar 2008 sind die Ergänzungsleistungen definitiv. Für diejenigen, die von erster, zweiter und dritter Säule nicht leben können haben wir seither definitiv die EL...

 

faktuell.ch: … die allerdings bedarfsabhängig ausgerichtet wird und nicht als verfassungsrechtlicher Anspruch.

 

Andreas Dummermuth:  Ich halte das Konstrukt für hervorragend. Aber es gibt noch zwei, drei Sachen, die ausgemerzt werden müssen, sonst wird die EL auch ein System für den Mittelstand und das ist nicht mehr finanzierbar. Die ständig wachsenden Kosten für EL bedrängen andere wichtige Politikbereiche.

 

faktuell.ch: Wo liegt der Hund begraben?

 

Andreas Dummermuth: Die Pensionskassen stehlen sich heute nach dem Woody-Allen-Prinzip von «Take the money und run» oft aus ihrer Verantwortung. Da wird das Risiko der Langlebigkeit und das Risiko der Anlage an Leute übergeben, die nicht in der Lage sind, damit umzugehen. Hier wird ein gutes System, um das uns die ganze Welt beneidet, zu Boden geritten. Wenn jeder sein Kapital mit 65 nach Belieben abziehen kann, macht man einen Lastentransfer zulasten der öffentlichen Hand, der nicht mit dem 3-Säulen-System übereinstimmt. Das ist für mich klar verfassungswidrig.

 

faktuell.ch: Offenbar handeln die Leute nach dem Prinzip von «Den Letzten beissen die Hunde». Es fehlt ihnen das Vertrauen in die Langlebigkeit der 2. Säule.

Andreas Dummermuth: Wenn der Bürger die Möglichkeit zum Abzug seiner Gelder hat, nutzt er sie, ohne Rücksicht auf das System. Das ist sein gutes Recht. Aber mich erstaunt, dass die Pensionskassen-Lobby den Kapitalabzug bis an den Bach runter verteidigt. Wenn jeder sein Geld mit 65 rausnimmt, brauchen wir gar keine

Pensionskassen mehr. Dann brauche ich nur noch eine Lebensversicherung für mich und meine Angehörigen und ein Konto bei der Kantonalbank, von dem ich mein Geld beziehen kann. Als Kapitalabfindungs-Institutionen brauchen wir die 3000 Pensionskassen nicht.

 

faktuell.ch: Mit der Möglichkeit des Kapitalabzugs sind die Pensionskassen die Verantwortung los, ihre einst vollmundig geäusserten Versprechen einhalten zu müssen.

 

Andreas Dummermuth: Genau. Aber das führt auch zu einer Erosion der Sicherheit in der Bevölkerung. Sinn und Zweck der sozialen Sicherheit ist es, dass der Bäcker Brot backen und die Krankenschwester ihre Patienten pflegen kann und beide wissen, dass sie mit ihrem normalen Job auch im Alter einigermassen gut werden leben können. Das Versprechen von «decent life», ein anständiges Leben führen zu können, ist ein hohes Versprechen. Aber Sozialversicherungen – und das ist für mich ganz wichtig – muss man als staatliche Infrastruktur betrachten wie das Bahn- und Strassennetz. Dass ein Staat seine Infrastruktur wissentlich verlottern lässt, so wie die Amerikaner ihre Strassen, scheint mir kein Ziel zu sein.

 

faktuell.ch: Wird die grosse Reform der Altersvorsorge angenommen, kehrt keine Ruhe ein. Sie haben bereits einen «Frühlingsputz» angekündigt. Woran denken Sie dabei?

 

Andreas Dummermuth: Wir richten noch Leistungen aus, die 1948 festgelegt wurden und heute nicht mehr so nötig sind. Altersrentner mit minderjährigen Kindern haben pro Kind zusätzlich Anspruch auf 40 % einer Maximalrente. Das sind pro Monat 940 Franken aus der AHV-Kasse, während die normale Kinderzulage eines Arbeitnehmers monatlich 200 bis 250 Franken ausmacht. Auch die Witwen- und Waisenrenten sind in der heutigen Form überholt. Ich votiere nicht dafür, dass man sie gleich auf Null runterfährt, aber man muss sie der gesellschaftlichen Realität anpassen. So gibt es diverse Leistungen in den Sozialversicherungen, die eingestellt oder reduziert werden könnten.

 

faktuell.ch:  Zurück zu den Ergänzungsleistungen im Besonderen. Es gibt eine Dunkelziffer wie bei allen bedarfsabhängigen Sozialleistungen von Bürgern, die aus unterschiedlichen Gründen auf ihren Anspruch verzichten. In einer Nationalfondsstudie von 1998 war von einer Nichtbezugsquote von 33 % die Rede. Die Eidgenössische Finanzkontrolle kam 2010 in einer Untersuchung zum Schluss, dass diese Quote weit übertrieben sei. Wie hoch schätzen Sie die Nichtbezugs-Quote ein?

 

Andreas Dummermuth: Wir können nur messen, was wir einnehmen und auszahlen. Was nicht ausbezahlt wird, können wir nicht messen. Ich schätze aufgrund meiner Schwyzer Erfahrung, dass es etwa 2 % sind.

 

faktuell.ch: Von 33 auf 2 % zurückgegangen - Sie untertreiben.

Andreas Dummermuth: Es gibt eine Faustregel: Wer AHV zuzüglich einer kleinen Pensionskassenrente hat und zuhause lebt, kommt nicht in die EL rein. Sobald aber das Heim ansteht, steigen die Kosten. In Schwyz treffen wir uns regelmässig mit Vertretern des Heim-Verbandes curaviva und unsere Erfahrung zeigt, dass kein

Heimverwalter jemanden in sein Heim aufnimmt, ohne dass die Finanzierung gesichert ist. Wenn die drei Säulen nicht ausreichen, kommt die EL zum Zug. Die Heime selber haben null Interesse, Inkasso-Risiken einzugehen.

 

faktuell.ch: Das Wort Verzicht kommt auch im umgekehrten Sinn vor – dem Vermögensverzicht zuhanden der Nachkommen zum Beispiel. Im Zusammenhang mit der Erbschaftssteuer-Vorlage hatten sich solche Fälle gehäuft. Wie ist der «courant normal» heute?

 

Andreas Dummermuth: Bei der EL ist das wie beim Doktor: Zunge raus und Hosen runter! Wir stellen im Kanton Schwyz im Rahmen unserer Abklärungen bei 20 % der EL-Neuanmeldungen vorherigen Vermögensverzicht fest. Wenn jemand eine Weltreise für 30'000 Franken macht, hat er das Geld ausgegeben und dafür eine Gegenleistung erhalten. Das wirkt sich bei den EL nicht aus. Überträgt aber jemand seinen Kindern sein Haus, das einen Wert von 800'000 Franken hat, und er dafür bloss 200'000 Franken haben will, dann verzichtet er auf 600'000 Franken. Das akzeptieren wir nicht und rechnen es auf. Das ist bei uns in 20 % der Fälle der Fall.

 

faktuell.ch: Die EL-Ausgaben explodieren seit Jahren förmlich. Was sind die wirklichen Gefahren der EL?

 

Andreas Dummermuth: Wir müssen dafür sorgen, dass jede der drei Säulen die Risiken tragen kann, die wir mit der Volksabstimmung im Jahre 1972 gesellschaftlich vereinbart haben: die Risiken von Invalidität, Tod und Versorgung im Alter. In der 2. Säule heisst das aus Sicht der EL, dass möglichst viele Leute einen Anspruch auf eine Rente aus ihren Pensionskassengeldern haben müssen. Technisch ist jeder Franken Pensionkassengeld, das abgezogen wird, ein Franken EL weniger.

 

faktuell.ch: Ist bereits Gefahr in Verzug?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir den angemessenen Existenzbedarf über die EL sichern wollen – und das ist völlig unbestritten –, dann darf man doch nicht Leuten aus Steuergeldern EL zahlen, deren Existenz gar nicht gefährdet ist. Das heutige EL-System gibt Leistungen weit über den Verfassungszweck hinaus.

 

faktuell.ch: AHV und IV zusammen zahlen heute EL für etwas mehr als fünf Milliarden Franken aus. Wo kann gespart werden?

 

Andreas Dummermuth: Meines Erachtens könnte man mit der Einführung einer Vermögensschwelle von 100'000 Franken ca. 400 Millionen Franken im Jahr sparen. Im Kanton Schwyz haben wir ausgerechnet, dass ca. 12 % unserer EL-Leistungen übertrieben sind, da die Existenz sehr wohl gesichert ist. Da sind sogar Millionäre dabei. Das geht einfach nicht.

 

faktuell.ch: Auch die finanziellen Verhältnisse von EL-Beziehenden können sich verändern – zum Guten wie auch zum Schlechten. Was dann?

 

 Andreas Dummermuth: Es gibt eine Meldepflicht. Seit 2008 sind Meldepflichtverletzungen, die man früher als Kavaliersdelikt betrachtete, strafrechtlich relevant. Die Verletzung der Meldepflicht hat eine Strafanzeige zur Folge.

faktuell.ch: Kommen wir noch auf die Unternehmenssteuerreform II zu sprechen. Sie führt zu einer massiven Verschiebung von AHV-pflichtigem Lohnabzug zur Dividenausschüttung. Lässt sich beziffern, was der AHV-Kasse damit an Einnahmen entgeht?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben leider keinen Einblick in die entsprechenden Steuerunterlagen! Aber es ist ein sehr erheblicher Betrag. Im Kanton Schwyz mit seinen 150 000 Einwohnern sind zwischen 2007 und 2011, also innerhalb von fünf Jahren, 3,7 Milliarden Franken in Dividenden ausgezahlt worden, auf die kaum Sozialabgaben zu zahlen sind. Dies entspricht 80 % des gesamten AHV-pflichtigen Einkommens unseres Kantons.

 

faktuell.ch: Es ist nicht verboten, die Steuern zu optimieren – wozu das System einen erst noch einlädt.

 

Andreas Dummermuth: Stimmt. So hat sich mir gegenüber auch ein Mitglied des Bundesgerichts geäussert. Ich habe darauf geantwortet: „Aber die Renten an Ihre Eltern müssen wir jeden Monat auszahlen!“ Sozialversicherer leben vom Vertrauen. Als Leiter einer Ausgleichskasse habe ich Erklärungsnotstand: Einerseits muss ich jedem Hausdienstarbeitgeber wegen der Putzfrau auf die Finger klopfen und klarmachen, dass auch Bagatelleinkommen sauber abrechnet werden; anderseits habe ich die «Optimierer», die sich mit grossen Beträgen legal schadlos halten können. So wird ein System nicht stabilisiert.

 

faktuell.ch: Sie nennen es «Flucht aus der Solidarität».

 

Andreas Dummermuth: Ja, ganz klar. Das klassische Beispiel sind vor allem solche, die stark profitieren von unserem Gesundheitswesen: Ärzte, die sich en masse in AGs und GmbHs ausgliedern. Es geht mir aber nicht um ein Ärzte-Bashing. Ich möchte auch Architekten und Anwälte nennen, die in der Dreifaltigkeit von Aktionär, Verwaltungsrat und Geschäftsführer Ende Jahr mit dem Treuhänder zusammen entscheiden, was sie als AHV-Beitrag rausnehmen und was sie als steuerprivilegierte Dividende der AHV vorenthalten wollen.

 

faktuell.ch: Fassen wir zusammen: Die Reichen optimieren im Bereich der AHV und die Armen im Bereich der EL. Richtig?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir wissentlich und willentlich in beiden Bereichen entweder zu viel ausgeben oder zu wenig einnehmen, dann höhlen wir unnötig die Sozialsysteme aus. Das ist keine verantwortungsbewusste und nachhaltige Sozialpolitik.

 

 Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Juli 2017 statt.)

 


Otto Pfister: "Wenn der Afrikaner ein gewisses Knowhow hat, ist er von sich überzeugt."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Otto Pfister, Jahrgang 1937, der in den letzten 45 Jahren als Cheftrainer zahlreiche Fussball-Nationalmannschaften und Spitzenmannschaften in Afrika und im arabischen Raum betreut hat. Seit 2017 ist er Cheftrainer der afghanischen Fussball-Nationalmannschaft. Er soll die Afghanen in der Qualifikationsgruppe gegen Jordanien, Vietnam und Kambodscha an den Asien-Cup 2019 führen.

faktuell.ch: Herr Pfister, Europa und mit ihm die kleine Schweiz kommen mit der viel gepriesenen Integration von Migranten und Flüchtlingen nicht vom Fleck. Wie sieht umgekehrt die Integration zum Beispiel in den Ländern Afrikas aus, in denen Sie als «Fremder» gearbeitet haben?

 

Otto Pfister: Wer aus eigenem Interesse nach Afrika geht, will Geld verdienen. Ein Handwerker hat dort viel grössere Chancen als hier, wo die Konkurrenz gross ist. Hinzu kommen Auflagen wie Gesetze, Steuern, Versicherungen, Bewilligungen. Das ist in Afrika alles viel einfacher. Ich kenne einen Schweizer, einen Automechaniker, der hat hier die Nase voll gehabt, an der Elfenbeinküste eine Garage aufgemacht und den Regierungsmitgliedern die Luxusautos geflickt. Nach einem halben Jahr machte er schon eine Tankstelle auf und nach einem Jahr war er Millionär.

 

faktuell.ch: Klingt einfach. Gibt’s keine Probleme?

 

Otto Pfister: Selbst in Ländern, wo man noch nicht einmal gelernt hat, sich das Tier nutzbar zu machen, ist alles was aus Europa kommt neu und erstrebenswert. Sie lernen alles von uns, auch das Negative. Wenn du also als Ausländer kommst, musst du dich natürlich richtig verhalten und dich auf die einheimische Mentalität einstellen. Als Fussballtrainer habe ich damit kein Problem. Ich habe einen Auftrag, ein Pflichtenheft und versuche die Mentalitäten unter einen Hut zu bringen, damit ich meinen Job erfüllen kann. Viele scheitern, weil sie dort all das einführen wollen, was wir von der Erziehung her so kennen: Pünktlichkeit, Fleiss, Ehrlichkeit, selbst Tischmanieren…

 

faktuell.ch: … Tischmanieren?

 

Otto Pfister: Ich habe einen Trainer gekannt, der sah im «First Class»-Hotel mit Entsetzen, wie seine afrikanischen Spieler Poulet, Reis und Sauce mit blossen Händen gegessen haben. Das ist in Afrika auch in gehobenen Kreisen üblich. Aber mein Bekannter hatte kein Einsehen. Er baute sich vor dem Spielertisch auf und erklärte: «Alle mal herhören, ab heute wird mit Messer und Gabel gegessen!» Die Spieler erhoben sich und gingen aufs Zimmer. Damit war er als Trainer «tot».

 

faktuell.ch: Das heisst im Umkehrschluss, wenn die Migranten und Asylbewerber schon hier sind, dann sollen sie…

 

Otto Pfister: …gefälligst unsere Gewohnheiten annehmen. Am Anfang dürfen sie noch Fehler machen, aber man muss sie darauf aufmerksam machen. Das ist ein Prozess, der geht nicht von heute auf morgen.

 

faktuell.ch: Geht’s überhaupt?

 

Otto Pfister: Wenn einer aus Ruanda kommt, dann hat er erst mal einen Kulturschock. Es gibt Leute, die haben in einem Kaufhaus noch nie eine fahrbare Treppe gesehen. Für einen Mann aus einer zentralafrikanischen Republik ist es unbegreiflich, dass in der Kleiderabteilung Anzüge nach Grössen aufgehängt sind. Da muss er sich erst mal dran gewöhnen. Oder erklären sie einem Afrikaner, was eine Parkbusse ist, warum er beim Parken die Parkuhr füttern muss. Oder die ganzen Pflichten mit Ämtern, in der Schule mit den Kindern – damit haben die Leute Probleme. Das ist klar. Und da muss man sich natürlich drum kümmern. Was man hier aber auch zur Kenntnis nehmen sollte: Viele Afrikaner haben ein unglaubliches technisches Talent. Wenn man in Afrika zum Beispiel mit dem Computer ein Problem hat, findet sich in einer Runde garantiert einer, der einem helfen kann.

 

faktuell.ch: Herr Pfister, Sie haben unter anderen die Nationalmannschaften von Ruanda, von Obervolta (heute Burkina Faso), von Senegal, der Elfenbeinküste, von Zaire (heute Dem. Rep. Kongo) und von Ghana trainiert. Haben sie dabei festgestellt, dass es «den Afrikaner» gibt, von dem wir immer summarisch sprechen?

 

Otto Pfister: Ja, den gibt’s. Das ist primär eine Mentalitätsfrage. Natürlich gibt es ethnische Unterschiede und auch eine unterschiedliche Erziehung. In Ruanda beispielsweise, da war ich noch ein junger Mann, erlebte ich einen totalen Kulturschock. Es gibt dort zwei Bevölkerungsgruppen, die Hutus und die Tutsi. Ich musste gut darauf achten, dass die beiden Gruppen im Team ausgewogen vertreten waren. Die Tutsi haben jahrelang die Hutus unterdrückt. Ich habe den Umsturz erlebt. Die haben eine ganz unterschiedliche Erziehung. Ein Hutu schaut zum Beispiel den andern beim Essen nicht ins Gesicht. Bei den Tutsi dürfen die Kinder beim Geschlechtsverkehr der Eltern zuschauen. Das muss man sich vorstellen, das sind andere Welten. Damit sind sie aber gross geworden. Und jetzt kommen die nach Europa…

 

faktuell.ch: … ebenso wie Menschen aus dem arabischen Raum. Sie haben dort ebenfalls Spitzenmannschaften trainiert, inklusive das Nationalteam von Saudi-Arabien. Was erwartet uns von ihnen?

 

Otto Pfister: Nach Riad war ich auch in Kairo, im Libanon und in Tunesien. Dort ruft der Muezzin in der Moschee mehrmals täglich zum Gebet auf. Dann schliessen jeweils alle Geschäfte für eine Stunde. Das passiert fünfmal am Tag! Wenn sich jetzt hier in der Schweiz ein Araber hinkniet und betet, wundern sich alle, was mit dem los ist…

 

faktuell.ch: ... worauf wollen Sie hinaus?

 

Otto Pfister: Es geht nicht nur darum, diese Leute zu integrieren, sondern erst müssen die Einheimischen mal informiert werden, wer hierherkommt.  

 

faktuell.ch: Das wird in den Aufnahmezentren ja gemacht – mit Übersetzern aus den einzelnen Ländern. Aber es reicht offenbar nicht, um diese Menschen mit unserer Mentalität vertraut zu machen. Warum bringen wir die Integration nicht auf die Reihe?

 

Otto Pfister: Da muss ich grundsätzlich werden. Nicht wenige stellen sich vor, man müsse einfach vor Ort, in den Ländern Afrikas, die Bedingungen mit Entwicklungshilfe verbessern, damit diese Leute nicht mehr zu uns kommen. Das ist fertiger Unsinn. Die kommen trotzdem, weil sich nichts verbessert. Die afrikanischen Länder sind auf dem Papier alles Demokratien, aber sie haben kein Demokratieverständnis. Man muss dort erst politische Bildung betreiben und das Hauptproblem, die Korruption, bekämpfen. Und wenn man Geld gibt, müsste der Geldfluss von jedem Rappen genau kontrolliert werden können. Geht aber nicht, weil die Länder unabhängig sind und sich nicht mehr dreinreden lassen.

 

faktuell.ch: Klingt nicht besonders optimistisch.

 

Otto Pfister: Schuld an der heutigen Lage in Afrika sind die Kolonialländer. Das Drama ist, dass sie nicht in die Pflicht genommen werden. Sie haben jahrzehntelang die Menschen dort ausgenutzt und tun es zum Teil immer noch. Ich war drei Jahre im Kongo, der damals von Mobutu mit seinem Clan regiert wurde. Ein wunderschönes Land, gemessen an seinen Bodenschätzen eines der reichsten Länder der Welt. Die haben Diamanten, Gold, Kobalt, das Basismaterial für Nuklearwaffen. Nichts davon kommt der Bevölkerung zugute. Ich finde, zuerst sollten eigentlich jene zum Handkuss kommen, die diese Länder kolonialisiert und mit geraden Strichen die Grenzen mitten durch ethnische Gruppen gezogen haben…

 

faktuell.ch: … und die Sie beispielsweise in Senegal zu einem Nationalteam formten.

 

Otto Pfister: Ja, in Westafrika gibt es Familiennamen, die auf die gleiche ethnische Gruppe hinweisen, aber über mehrere Länder verteilt sind, mithin über ein Viertel des afrikanischen Kontinents hinweg.

 

faktuell.ch: Sie sagten zwar, dass sich zuerst die ehemaligen Kolonialisten wie Frankreich, Portugal, Spanien, Grossbritannien etc. um die Flüchtlinge kümmern sollten. Die zeigen aber wenig bis keine Neigung dazu, mehr als das Nötigste beizutragen. Damit gilt: Die Migranten sind hier und es kommen absehbar immer mehr. Was raten Sie?

 

Otto Pfister: Zuerst muss man die Bedingungen schaffen, dass sie kommen können. Jeder Kanton sollte eine Analyse machen, wie viele Flüchtlinge er aufnehmen kann. Dann geht es darum, dass der Afrikaner korrekt wohnt und einen Arbeitsplatz hat. Wenn beides nicht gegeben ist, können wir ihm nicht helfen und er muss zurück.

 

faktuell.ch: Denken Sie, dass sie sich bei uns überhaupt integrieren wollen, wenn es möglich wäre?

 

Otto Pfister: Die wollen, ja. Aber es geht nicht, weil wir mit ihnen nicht reden. In Afrika setzt man sich zu Fremden an den Tisch, auch wenn an den meisten anderen Tischen keiner sitzt. Man sucht das Gespräch, den Kontakt. Wenn sich bei uns einer zu einem an den Tisch setzt, ruft der gleich die Bedienung und will wissen, was mit dem andern nicht gut ist. Sehen sie sich mal in Bern oder Zürich im Bahnhof um. Die Afrikaner stehen herum, keiner kümmert sich um sie, keiner will etwas mit ihnen zu tun haben. Und jetzt frage ich mich, wo ist hier die Regierung? Was machen die? Gibt’s hier ein Ministerium oder eine Abteilung, die sich nur um Integration bemüht?

 

faktuell.ch: Welches ist die grösste Barriere für eine erfolgreiche Integration – die Religion oder die Sprache?

 

Otto Pfister: Die Sprache. Das muss zuallererst gemacht werden. Wenn die Bundesliga einen Spieler verpflichtet, hat der jeden Tag morgens vor dem Training Deutschunterricht. Das steht im Vertrag.

 

faktuell.ch: Und das sollte auch für Asylbewerber und Migranten gelten?

 

Otto Pfister: Ja. Jeder der kommt, muss zwingend die Sprache lernen. Das ist die Aufgabe des Staates. Wenn ich das Sagen hätte, wäre es so: Man gibt ihnen ein Minimum mit Auflagen. Dazu gehört Sprache. Nummer eins.

 

faktuell.ch: Sprechen wir vom völkerverbindenden Fussball. Fast jede Mannschaft in Europa hat mittlerweile Afrikaner, bis in die unteren Ligen. Wo kommen die her?

 

Otto Pfister: Das hat mit Sport sehr wenig zu tun. Er ist ein reines Business. Hier ist der Agent A, der geht zu dem Präsidenten B und sagt: «Du, ich habe Dir da einen Mittelfeldspieler, einen Afrikaner, der ist besser als Deine. Ich bring Dir den. Du musst mir dafür aber was geben». Dann geht er zu dem Spieler und sagt: «Du, ich habe Dir einen Klub, aber du musst mir was geben». Dann kassiert er von beiden Seiten.

 

faktuell.ch: Sie sprechen von den Spieleragenten, die ähnlich wie die Schleuser mit ihrer Dienstleistung gross abkassieren?

 

Otto Pfister: In der Schweiz hat es Hunderte, im Internet unter «FIFA agents» gar tausende weltweit.  Ich kenne einen im Tessin, der hat in seinem Mercedes immer zwei, drei Afrikaner hinten drin. Er bietet sie in Ländern wie Tschechien, der Slowakei oder Polen an wie warmes Bier. Wer so einen Spieler vermarktet, macht hier fünftausend, dort dreitausend und wenn er zehnmal dreitausend gemacht hat, hat er auch 30’000. Das ist ein reines Geschäft.

 

faktuell.ch: Moderner Sklavenhandel.

 

Otto Pfister: Sklavenhandel, Menschenhandel. Und dann gibt es viele Agenten, die in Fernsehinterviews sagen, sie schauten auf die Karriere des Spielers. Aber das interessiert die nur in zweiter Linie. In erster Linie wollen sie Geld verdienen.

 

faktuell.ch: Den Migranten wird oft unterstellt, es fehle an der Leistungsbereitschaft…

 

Otto Pfister: … nicht im Fussball, da ist das anders. Die Leistungsbereitschaft der Spieler ist sehr gross. Die kommen zu 99 Prozent von ganz unten. Da steht im Dorf ein Fernseher, der überträgt die Champions League. Dann sitzt das halbe Dorf davor. Und die Buben sehen auch die NBA, die amerikanischen Basketballspiele. Sie sehen ihre schwarzen Brüder spielen – in Farbe am Fernsehen. Und dann haben sie nur ein Ziel: Da will ich hin und da kann ich Geld verdienen.

 

faktuell.ch: Sie sprechen aus Erfahrung?

 

Otto Pfister: Ja, ich habe das erlebt, ich war Juniorenweltmeister mit Ghana. Die Buben waren 17. Da hätte ich ein Training morgens um drei ansetzen können, mitten in der Nacht. Da wäre keiner zu spät gekommen. Machen sie das mal hier. Kommt keiner. Zwei, drei meiner Mannschaft haben es auch geschafft. Einer ist heute mehrfacher Millionär. Der wusste damals nicht was hundert Dollar sind. Geld ist schon ein Anreiz.

 

faktuell.ch: Sie betrachten afrikanische Spieler als mental stark, was Sie auf deren meist schwierige Lebensumstände zurückführen. Sie könnten sich also auch bei uns und überall durchbeissen.

 

Otto Pfister: Ja, wenn ein Afrikaner ein gewisses Knowhow hat, ist er von sich überzeugt. Im Fussball geht das. Da zählt nur die Leistung. Aber selbst wenn einer die richtige Ausbildung mit Leistung verbindet, kann er hier nicht einfach in eine Bank einmarschieren und gleich die Nummer zwei nach dem Direktor werden.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im November 2017 statt.)

 


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Mathias Binswanger: "Über mehr als ein Jahr hinaus kann man eine Wachstumsprognose nicht allzu ernst nehmen.“

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit dem Ökonomen und Publizisten Mathias Binswanger

Mathias Binswanger

 faktuell.ch: Herr Binswanger, ökonomische Prognosen bewahrheiten sich kaum je – das sieht selbst der Laie. Sie erklären dies damit, dass auch in der Wissenschaft der Glaube eine Rolle spielt, nämlich der Glaube an die eigene postulierte Hypothese. Sind Prognosen «fake news»?

 

Mathias Binswanger: Nein. Die Ökonomie ist keine präzise Wissenschaft. Sie kann nicht voraussagen, was in Zukunft passiert. In der Physik geht das noch einigermassen, da sich das Verhalten von Atomen in der grossen Masse mathematisch ziemlich gut beschreiben lässt. In der Ökonomie ist das aber unmöglich, da sich Bedingungen ständig verändern und Haushalte und Unternehmen auf diese Veränderungen reagieren. Dennoch verlangt man von der Ökonomie genau das, was sie am wenigsten kann, nämlich die Zukunft vorauszusehen...

 

faktuell.ch: … einen Blick in die Kristallkugel zu werfen…

 

Mathias Binswanger: …ja genau. Es ist so: In Zeiten, in denen alles normal läuft, kann man relativ gut Prognosen machen, braucht sie aber nicht. In Zeiten, die turbulent sind, braucht man Prognosen, aber dann können auch Ökonomen keine wirklich guten Prognosen für die Zukunft stellen.

 

faktuell.ch: Prognosen, Umfragen und eine Unmenge von Studien gehören inzwischen wie ein Führungsinstrument zum politischen Alltag. Mehr und mehr wirken die publizierten Ergebnisse wie bestellt.

 

Mathias Binswanger: Es gibt viele Institute in der Schweiz, die einen breiten Fächer verschiedener Werte anbieten. Positivere und negativere. Entscheidungsträger suchen nicht unbedingt die richtige Prognose, sondern eine, auf die sie sich abstützen können. Wenn zum Beispiel ein Investitionsentscheid begründet werden muss, dann stützt man sich gerne auf eine möglichst positive Prognose. Sollte es dann schief herauskommen, kann man argumentieren, man habe sich auf eine Prognose eines renommierten Instituts gestützt, womit man die Verantwortung für den Fehlentscheid an die Prognose delegiert. Umgekehrt, wenn Politiker Massnahmen gegen Arbeitslosigkeit fordern, bevorzugen sie eine möglichst pessimistische Prognose, welche die Dringlichkeit der Massnahmen untermauert. In einer Wirtschaft mit einer grossen Produktvielfalt gibt es nicht überraschend auch eine gewisse Prognosevielfalt, so dass für jeden etwas Passendes dabei ist.

 

faktuell.ch: Klingt nach Manipulation. Beispiel Sozialversicherungen, wo teilweise desaströse Prognosen bis ins Jahr 2060 zirkulieren. Positive Entwicklungen – positiver Wanderungssaldo, seit 25 Jahren die höchste Geburtenrate, auf hohem Niveau erstmals seit vielen Jahren gedrosselte Alterung – werden bestenfalls am Rande thematisiert. Wie seriös ist das alles noch?

 

Mathias Binswanger: Schon eine einjährige Prognose für das Bruttoinlandprodukt ist relativ langfristig. Beim demografischen Wachstum kann man die Entwicklung über eine längere Frist voraussehen. Was in der Öffentlichkeit haften bleibt, ist aber oft nicht die Prognose an sich, sondern die mit ihr verbundenen Botschaften. Das dient oft politischen Zwecken. Man kann mit Prognosen Angst schüren oder Zuversicht schaffen. Neutral werden sie selten verwendet.

 

faktuell.ch: Wo bleibt der wissenschaftliche Anspruch – ist es für Ökonomen nicht problematisch, sich in den Dienst von Interessen zu stellen?  

 

Mathias Binswanger: Das heutige Wissenschaftssystem zwingt Wissenschaftler dazu, möglichst viele Drittmittelprojekte zu akquirieren. Damit haben automatisch auch die Interessen der Auftraggeber einen gewissen Einfluss auf die wissenschaftlichen Arbeiten.

 

faktuell.ch: Gekaufte Forschung?

 

Mathias Binswanger: Kein Forscher, den ich kenne, ist direkt käuflich und die wenigsten Wissenschaftler würde Ergebnisse publizieren, die den Fakten widersprechen. Nur sind die Fakten eben nicht immer klar. Durch geeignete Auswahl von Daten oder von statistischen Verfahren, können Ergebnisse beeinflusst werden. Und ein Auftraggeber möchte ja im Normalfall einen bestimmten Nutzen aus einem Forschungsprojekt ziehen. Man kann deshalb nicht erwarten, dass er längere Zeit Geld für Forschung ausgibt, deren Resultate seinen eigenen Interessen widersprechen. Das wäre eine sehr naive Annahme.

 

faktuell.ch: Seit Einführung der obligatorischen Krankenversicherung steigen die Krankenkassenprämien pro Jahr im Schnitt um 4,6 Prozent. Vermag die Ökonomie der Politik eine Handlungsbasis in Form von Szenarien zu geben, bevor sich die Prämien niemand mehr leisten kann?

 

Mathias Binswanger: So wie die Anreize im System gesetzt sind, ist es logisch, dass die Prämien von Jahr zu Jahr steigen. Wer Leistungen bezieht, bezahlt zum grössten Teil nicht selbst dafür, weil diese über die obligatorische Krankenversicherung und Steuern finanziert werden. Zudem besteht eine Informationsasymmetrie auf dem Gesundheitsmarkt: Die Anbieter von medizinischen Leistungen, Medikamenten und Therapien wissen wesentlich besser Bescheid als die Nachfrager, die Patienten. In dieser Kombination haben wir den idealen Wachstumsmarkt. Die Nachfrage lässt sich leicht über das Angebot steuern. In diesem System ist in Wirklichkeit niemand daran interessiert, dass die Kosten nicht steigen. Alle profitieren davon. Die Kosten sollen immer nur bei den andern nicht weiter steigen.

 

faktuell.ch: Das Gesundheitswesen ist gierig und expandiert, die Kosten steigen. Wiegen die neuen Jobs die Kosten auf?

 

Mathias Binswanger: Das Gesundheitswesen wird absehbar zum wichtigsten Arbeitgeber in der Schweiz. Diesen positiven Aspekt muss man auch sehen. Allerdings hat ein immer grösserer Anteil der Arbeit nicht unmittelbar mit ärztlichen oder pflegerischen Leistungen zu tun, sondern mit Administration oder Controlling. Die Fallpauschale hat beispielsweise dazu geführt, dass Spitäler Kodierer anstellen. Auch die Verwaltung und das Management sind viel komplizierter geworden. In den Spitälern muss alles aufeinander abgestimmt und die Qualitätskontrolle flächendeckend sein. Das bedingt sehr viele Arbeitsplätze, die ebenfalls einen erheblichen Teil der Gesundheitsausgaben ausmachen.

 

faktuell.ch: Mehr als anderswo wird das Publikum im Bereich des Gesundheitswesens mit Studien verunsichert, die teils nicht widersprüchlicher sein könnten – mal ist Zucker des Teufels, mal wichtige Energiequelle, usw. Wo bleibt die Seriosität der Forschung?

 

Mathias Binswanger: Man kann die Öffentlichkeit nicht permanent mit falschen Tatsachen zu überzeugen versuchen. Aber man kann steuern, in diese oder jene Richtung, Angst schüren vor gewissen Krankheiten. Das macht es leichter, entsprechende Behandlungsmethoden, Medikamente oder Therapien zu verkaufen. Und dann sind da auch gewisse Forscher, die einfach mit ihren Resultaten auffallen wollen. Und in die Medien gelangt man oft nur, wenn man übertreibt.

 

faktuell.ch: Zurück zur Politik. Die Schweiz hat ein schwerfälliges Politsystem. Bis Entscheide an der Urne gefallen sind, vergehen Jahre. Prognosen, die salopp gesprochen schon überholt sind, bevor die Tinte unter den jeweiligen Forschungsaufträgen trocken ist, passen wie die Faust aufs Auge.

 

Mathias Binswanger: Die Politik verlangt aber Prognosen. Es geht meistens darum, die Verantwortung zu delegieren, so dass ein politischer Entscheid auf eine ökonomische Prognose gestützt werden kann.

 

faktuell.ch:  Also Mutlosigkeit und Absicherung. Was ist die Alternative zur Prognose?

 

Mathias Binswanger: Die meisten Entscheide betreffen die Zukunft. Deshalb muss man auch gewisse Vorstellungen über die Zukunft haben. Es ist oft sinnvoller, mit Szenarien zu argumentieren. Ein Szenario kann einem Entscheid zugrunde gelegt werden, weil es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen wird. Wenn man so argumentiert, ist das realistischer.

 

faktuell.ch: Die Zukunftsszenarien zur Schweiz, die wir vom Bundesamt für Statistik kennen, sind lineare Fortsetzungen des Ist-Zustandes in drei Varianten – tiefe, mittlere, hohe Wahrscheinlichkeit. Reicht das? 

 

Mathias Binswanger: Eine rein lineare Fortsetzung des Ist-Zustands ist auf längere Sicht fast immer falsch. Aber den Bundesämtern fehlt meist der Mut für gewagtere Visionen, weil sie dadurch auch wieder kritisierbar werden. Das Problem in der Ökonomie liegt vor allem auch daran, dass viele der für Prognosen oder Zukunftsszenarien verwendeten Modelle falsch sind.

 

Faktuell.ch: Wie das?

 

Mathias Binswanger: Die Schweizerische Nationalbank beispielsweise arbeitet für Voraussagen über die Inflation permanent mit bestimmten Modellen, die zwar komplex aber unnütz sind. Seit 10 bis 15 Jahren wird deshalb immer vorausgesagt, dass in den nächsten 2 bis 3 Jahren die Inflation ansteigen werde. Dieser Fall ist bis jetzt aber nie eingetreten. Trotzdem arbeitet man weiter mit solchen Modellen, denn die Devise lautet: lieber ein falsches Modell, welches präzis falsche Ergebnisse liefert als eine ungefähr richtige Zukunftsprojektion, die aber nicht modellgestützt ist. Dieser Modellfetischismus ist weit verbreitet.

 

faktuell.ch:  Wenn sich Versicherungen wie bei der 2. Säule mit Prognosen in den Generationenvertrag einmischen, scheint die Interessenlage klar. Aber was bewegt Grossbanken wie UBS und CS, bei Universitätsinstituten Prognosen in Auftrag zu geben, die – wie im Fall der AHV – in der Öffentlichkeit mit Annahmen bis ins Jahr 2060 Angst auslösen?

 

Mathias Binswanger: Die Branche hat tendenziell das Gefühl, dass sich der Staat sonst zu wenig sorgfältig verhält. Aber es geht vermutlich auch um gewisse Interessen. Wenn die AHV als unsicher dargestellt wird, gewinnt die zweite und dritte Säule an Bedeutung und dort mischen die Banken, im Unterschied zur AHV kräftig mit. Die Vorsorge ist letztlich auch ein grosses Business.

 

faktuell.ch:  Die Anreize im Gesundheitssystem sind zu gross, um die Kosten zu dämmen. Dasselbe gilt im übertragenen Sinn auch für die Migration. Sie sind der Meinung, dass die Schweiz die Zustände in den Herkunftsländern nicht ändern kann, also müssten wir die Schweiz als Destination unattraktiv machen. Wie soll das konkret gehen?

 

Mathias Binswanger: Das Problem ist, dass man in der Schweiz nach wie vor von einer Fiktion ausgeht, nämlich von der Fiktion des „politischen Flüchtlings“. Den gibt es aber nur in seltenen Fällen. Zu uns kommen in erster Linie ökonomische Flüchtlinge aus absolut verständlichen Gründen. Sie sind bereit, alles zu riskieren, um ihr Land zu verlassen. Aber nicht, weil sie politisch verfolgt werden, sondern weil die wirtschaftliche Situation in ihrem Land desolat ist. Doch in der Schweiz sind sie dazu gezwungen so zu tun, als ob sie politische Flüchtlinge wären. Diese Tatsache müssten unsere Politiker endlich grundsätzlich anerkennen. Dann würde auch das Theater um die Einstufung einzelner Länder aufhören, aus denen Menschen reingelassen werden und dann plötzlich wieder nicht.

 

faktuell.ch: Sie kritisieren auch die Kommunikation der Behörden, nämlich dass vorgetäuscht werde, Flüchtlinge würden auch abgewiesen…

 

Mathias Binswanger: … wenn sie einmal hier sind, bleiben sie auch. Das ist der Anreiz: zu wissen, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben kann, auch wenn man abgewiesen wird. Sobald diese Menschen hier sind, kann man sie kaum mehr wegweisen. Es ist illusorisch Leute zurückzuschicken, die jahrelang in der Schweiz gelebt haben. Diese vorwiegend jungen Männer sind hier, dürfen aber nicht arbeiten und bekommen wenig Geld. Da ist der Weg in die Kriminalität nicht weit. Wir schaffen damit eine unglückliche Situation.

 

faktuell.ch: Besonders umstritten ist die Aufnahme von Eritreern.

 

Mathias Binswanger: Die grundsätzliche Aufnahme aller Eritreer war ein vorschneller Entscheid, ohne die Situation im Lande wirklich zu kennen. Generell sollten wir die Schweiz jedes Jahr für eine begrenzte Anzahl an Wirtschaftsflüchtlingen öffnen, ohne Eritreer zu bevorzugen. Man kann dann auch Kriterien definieren und Anreize setzen, wer kommen darf. Überlegenswert wäre auch, in den Herkunftsländern Schulen zu eröffnen und den besten Absolventen zu erlauben, sich danach in die Schweiz weiterzubilden und unter Umständen auch dort zu arbeiten. Die Prüfungen in solchen Schulen müssten allerdings von der Schweiz aus durchgeführt werden, da sonst sofort mit Korruption gerechnet werden muss. Es geht also darum, vor Ort in Ländern wie Eritrea Massnahmen zu ergreifen, was zugegebenermaßen nicht immer einfach ist. Aber man sollte zumindest einmal Versuche in diese Richtung unternehmen.

 

faktuell.ch: Forschungsinstitute beziffern die jährlichen Kosten, die eine Million Flüchtlinge in Deutschland verursachen, je nach Institut auf 15, 30 oder gar 50 Milliarden Euro. Gibt es eine annähernd glaubwürdige Kostenberechnung für die Schweiz?

 

Mathias Binswanger: Nein, nicht dass ich wüsste. Das ist aber normal. Egal, ob es sich um die Kosten von Migranten oder die vom Schwerverkehr verursachten Umweltkosten handelt. Man kann je nach Interessenlage sehr hohe oder sehr tiefe Kosten eruieren, weil es schlicht keine exakten Kriterien für die Abgrenzung gibt. Es ist immer die Frage, was man in die Kostenberechnung miteinbezieht. Sind das bei Migranten nur die unmittelbaren Kosten, die sie verursachen oder soll man weiter blicken und Annahmen treffen, wie viele von ihnen später arbeitslos bleiben, oder welche Kosten sie in Zukunft für unser Gesundheitssystem verursachen? Es ist die Frage, wo man da die Grenzen zieht. 

 

faktuell.ch:  Gut, aber eine aktuelle Vollkostenrechnung, wie es sie in anderen Bereichen auch gibt, müsste doch möglich sein. Wo klemmt’s?

 

Mathias Binswanger: Wahrscheinlich will man die Kosten so nicht ausweisen, weil sie sehr hoch sind. Es besteht wohl die Furcht, dass die Vollkostenrechnung die Stimmung in der Schweiz nicht zugunsten der Regierung beeinflussen würde.

 

faktuell.ch: Wäre es nicht ein hehrer Auftrag für Ökonomen, die Kosten für das laufende Jahr zu erheben?  

 

Mathias Binswanger: Das ist schwierig, weil man die Zahlen dazu erhalten müsste. Und die Zahlen erhält man nur, wenn dies politisch auch erwünscht ist. Sonst ist man auf Schätzungen angewiesen. Bei den Migrationskosten geht es auch um Anwaltskosten, Sozialhilfe, Kosten für medizinische Untersuchungen, Kosten für Polizeieinsätze etc.

 

 

Dr. rer.pol. Mathias Binswanger, Ökonom und Publizist, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St.Gallen. Er beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von (Finanz-) Wirtschaft und Gesellschaft, von Glück und Einkommen und dem Wettbewerb in Forschung, Bildung und Gesundheitswesen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Das Gespräch fand im Oktober 2017 statt)

 


Urban Laffer: „In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines.“

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Urban Laffer, Doyen der Schweizer Chirurgen, über die Kostentreiber im Gesundheitssystem

 faktuell.ch: Herr Prof. Laffer, vom Krankenversicherungsgesetz (KVG) hatte man sich bei der Einführung 1996 kostendämpfende Wirkung versprochen. Wo ist sie geblieben?

 

Urban Laffer: Wer vor 20 Jahren fürs KVG stimmte, wusste nicht, worauf er sich einliess. Die Leute sind mit tieferen Prämien gelockt worden; diese sind aber nicht gesunken. Das hängt allerdings nicht mit dem KVG zusammen, sondern mit der Entwicklung der Medizin, welche die heutigen Behandlungen teurer macht.

 

faktuell.ch: 1996 kamen etwas mehr als 20 Prozent der Versicherten in den Genuss von Prämienverbilligungen durch Steuermittel, heute sind es, je nach Kanton, 30 und mehr Prozent. Ist ein System, das sich nur mit Steuermitteln behaupten kann, ein gutes System?

 

Urban Laffer: Die Prämien sind in der Tat massiv gestiegen und nicht proportional zur Einkommensentwicklung. Insofern ist die Vergünstigung für viele sicher sinnvoll und schlicht auch nötig.

 

faktuell.ch: Wie viel Solidarität jener, die die vollen Prämien bezahlen müssen, ist zumutbar? Wäre es nicht gerechter, die obligatorische Grundversicherung gleich für alle über die Steuern zu finanzieren?

 

Urban Laffer: Im Endeffekt wäre es wieder dasselbe. Wer gut verdient, bezahlt für die anderen. Mich stört nur ein Punkt. Ich habe in meiner Tätigkeit viele Leute kennengelernt, die arbeiten und Steuern bezahlen könnten, dies aus Bequemlichkeit aber einfach nicht tun.

 

faktuell.ch: Was halten Sie vom Vorschlag der Santésuisse, die Minimalfranchise von 300 auf 500 Franken anzuheben, um die Eigenverantwortung zu erhöhen?

 

Urban Laffer: Einen gewissen Effekt hätte die Erhöhung schon. Heute geht man viel schneller zum Arzt als früher. Und der Arzt muss sich jedem annehmen, auch wenn er nur Zeit blockiert, die er für echte Patienten brauchen könnte.

 

faktuell.ch: Wer nur allgemein und erst noch mit Höchstfranchisse von 2500 Franken versichert ist, fährt besser als Zusatzversicherter (halbprivat, privat), wenn er einmal ins Spital muss. Denn mit den eingesparten Prämien kann er sich locker den Komfort eines Einzelzimmers leisten.

 

Urban Laffer: Wenn ein Flugzeug abstürzt, geht es in der ersten und in der Holzklasse allen gleich. Der Pilot kann für die Passagiere erster Klasse nicht besser aufpassen. So ist es auch in der Medizin, mit oder ohne Einzelzimmer. In der Tat ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand jedes Jahr zum Arzt muss, bis etwa 50 gering. Bis dahin kann man sich schon einen gewissen Stock für Spitalkomfort anlegen.

 

faktuell.ch: Bleiben die beiden Vorteile der Zusatzversicherten, den Arzt und das Spital frei wählen zu können.

 

Urban Laffer: Die öffentlichen Spitäler sind Weiterbildungskliniken. Wir bilden den Nachwuchs aus. So gesehen sind das – gerade in der Chirurgie – Lehrlinge. Als Allgemein-Patient nehmen sie in Kauf, dass sie ein Lehrling operiert. Das macht vielen Menschen Angst. Sie kommen ins Spital und es operiert sie irgendwer...

 

faktuell.ch: … der Patient als Versuchskaninchen…

 

Urban Laffer: Neinnein. Wenn ich bei einer Ausbildungsoperation assistierte, passte ich viel besser auf, als wenn ich selber operierte und mir meine grosse Erfahrung zustatten kam.

 

faktuell.ch: Gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwischen öffentlichen und privaten Spitälern?

 

Urban Laffer: Es ist kein eigentlicher Konkurrenzkampf. Die Behandlung im Privatspital ist für die Versicherung teurer. Auch die Honorare der Belegärzte sind höher, weil sie einen Praxisstillstand geltend machen können, was ihnen ausgeglichen wird.

 

faktuell.ch: Kein Kampf um gut betuchte Patienten nach Massgabe von: Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen?

 

Urban Laffer: Das öffentliche Spital muss alle nehmen. Darunter leiden sie zum Teil. In der Cafeteria des öffentlichen Spitals sehen sie die sozialen Probleme einer Gesellschaft. Im privaten Spital haben sie das nicht. Sie können ihre Patienten wählen und andere an die öffentlichen Spitäler verweisen.

 

faktuell.ch: Die Gesundheitskosten in der Schweiz belaufen sich auf rund 70 Milliarden Franken im Jahr, Tendenz steigend. Als besonderer Kostentreiber erweisen sich die Spitäler: von 2011 auf 2012 sind zum Beispiel allein die Spitalausgaben um 2,3 Milliarden oder 9,8 Prozent auf fast 20 Milliarden gestiegen, was rund 2500 Franken pro Einwohner entspricht. Was sind die wichtigsten Gründe dieser Kostenexplosion?

 

Urban Laffer: Allein die Lebenserwartung ist in den letzten 50 Jahren im Durchschnitt um 20 Jahre gestiegen. Dieser Fortschritt hängt mit besseren Medikamenten zusammen, mit generell besserer Gesundheitsversorgung und der Behandlung der Krankheiten. Wenn ich nur die riesigen Fortschritte betrachte, die die Chirurgie in den letzten 20 Jahren gemacht hat…

 

faktuell.ch: ...bis hin zur heutigen Schlüsselloch-Chirurgie…

 

Urban Laffer: …nicht allein wegen der Technik, sondern auch, weil wir daraus viel über die Physiologie gelernt haben, was wir bei andern Operationen anwenden können. Als ich vor 40 Jahren Assistent beim Kantonsspital Basel war, erhielt ein Gallenblasen-Patient mindestens fünf Tage nichts zu essen und musste sicher fünf weitere Tage im Spital bleiben. Heute erhält er nach dem Aufwachen sofort etwas zu essen und ist nach drei bis fünf Tagen wieder zuhause. Als ich vor Jahren meine Arbeit in Biel aufnahm, lag ein Patient im Durchschnitt 13 Tage im Spital, heute sind wir bei 5,5 Tagen.

 

faktuell.ch: Dafür liegt der Patient jetzt länger in der Rehab-Klinik und bezahlt die Sozialindustrie mit Hotelbetrieb statt das Spital.

 

Urban Laffer: Das ist etwas anderes. Früher war der Familienzusammenhalt besser. Der Patient, der nach Hause kam, konnte auf die Pflege in der Familie zählen. Heute muss man für sehr viele – vor allem ältere Patienten – Aufenthaltsorte suchen, weil man weiss, dass sie, auf sich allein gestellt, sich in ihrer Wohnung nicht versorgen können, und sei es nur, dass jemand für sie kochen würde. Das macht das Gesundheitswesen natürlich auch teurer.

 

faktuell.ch: Seit 2012 gilt schweizweit eine neue Spitalfinanzierung: Pauschalfinanzierung dank einheitlicher Zuordnung der Fälle in nach Schweregrad gewichteten Diagnosegruppen („DRG“), multipliziert mit dem verhandelten Preis, der Base Rate.. Im Zeichen von Effizienzsteigerung sollten die Spitäler ihre Leistungen steuern. Wie muss man sich diese Steuerung vorstellen?

 

Urban Laffer: Je grösser eine Operation ist, je mehr Krankheiten der Patient sonst noch hat, desto mehr steigt die Fallschwere bzw. pro Patientengruppe der Case Mix Index  (CMI), bis um das mehrfache der Fallpauschale. Umgekehrt das andere Extrem: Ein Kind, das ja im Prinzip gesund ist, hat beispielsweise bei einem Leistenbruch einen Cost Weight  von etwa 0,3. Das heisst, es steht nur ein Drittel der Fallpauschale zur Verfügung. So wird gesteuert.

 

faktuell.ch: Entscheidend für den Wettbewerb sind aber die schweizweit einheitlichen Fallpauschalen. Sie, Herr Laffer, waren schon bei der Einführung skeptisch, ob die Kantone diese Änderung mittragen würden. War ihre Skepsis berechtigt?

 

Urban Laffer: Grundlage eines fairen Wettbewerbs wäre die freie Spitalwahl. Es ist aber vor der Einführung der neuen Spitalfinanzierung verpasst worden, für alle Spitäler die gleiche Ausgangslage zu schaffen.

 

faktuell.ch: Inwiefern?

 

Urban Laffer: Im Prinzip sollte ein Spital heute nur haben, was es aus der Fallpauschale einnimmt – 45 Prozent zahlen die Versicherungen, 55 Prozent der Kanton. Darüber hinaus sollte der Kanton seine Spitäler eigentlich nicht mehr subventionieren dürfen. Aber das wird hintergangen. Unterschiedliche Fallpauschalen, wobei die Patienten die Differenz selber berappen müssen und nicht ihr Kanton, sind nur das eine; Kantone, die ihre Spitäler mit Steuergeldern „aufrüsten“, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben, das andere. Also kann man die freie Spitalwahl schon wieder vergessen.

 

faktuell.ch: Worin besteht denn der Wettbewerb, wenn die Kosten in allen Spitäler gleich hoch sind – nur in der Reputation?

 

Urban Laffer: Genau. Wir haben in der Schweiz 140 Akutspitäler. 40 würden ausreichen. In den USA, wo ich zwei Jahre gearbeitet habe, nehmen die Patienten Anfahrtswege von einem halben oder einem ganzen Tag auf sich. In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals aus nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines. Mit Schliessungen könnte man aber effektiv Kosten sparen.

 

faktuell.ch: Unser hochstehendes Gesundheitssystem zieht betuchte Patienten aus dem Ausland an. Subventionieren wir mit unseren Steuern und Krankenkassenprämien wohlhabende Ausländer?

 

Urban Laffer: Nein. Sie bezahlen die vollen Kosten. Und ihr Ansatz ist so hoch, weil sie sich das auch leisten können. Ein Spital, das sich das entsprechende Renommee aufgebaut hat, muss das auch tun, weil es da um zusätzliche Einnahmen geht.

 

faktuell.ch: Stichwort: Ökonomie. Passen ökonomische Effizienzüberlegungen überhaupt zum Gesundheitsbetrieb, zum Beruf des Arztes, der doch alles in seiner Macht stehende tun sollte, um dem Patienten zu helfen?

 

Urban Laffer: Heute ist der Arzt zu ökonomischen Überlegungen aufgefordert, weil alles, was er macht, unter die Fallpauschale fällt. Also muss er überlegen, ob eine bestimmte Untersuchung wirklich sinnvoll ist. Oder soll er den Patienten nach Hause entlassen und ihm empfehlen, die Untersuchung beim Hausarzt zu machen, was der Kasse wieder verrechnet werden kann.

 

faktuell.ch: Mit andern Worten: Nichts unversucht zu lassen, ist zu teuer; etwas zu unterlassen aber für den Patienten gefährlich – und für den verantwortlichen Arzt unter Umständen teuer?

 

Urban Laffer: Falsch. Ich komme auf die KVG-Abstimmung von 1996 zurück. Der Bevölkerung hat damals kein Mensch erzählt, was mit einer Annahme des neuen KVG auf die Gesunden zukommen würde…

 

faktuell.ch: ...auf die Gesunden?

 

Urban Laffer: Ja, dass sie mit dem ökonomischen Denken in der Medizin Abstriche auf sich nehmen müssen. Dass man beispielsweise einen Arzt nicht mehr einklagen kann, wenn er etwas nicht untersucht. Oder wenn ein Patient noch drei Tage länger im Spital bleiben wollte, weil zuhause sein Badezimmer renoviert wurde, hat man das selbstverständlich erlaubt. Heute geht das nicht mehr. Das sind Dinge, die der Bevölkerung nicht bewusst waren, als sie dem neuen KVG zugestimmt hat.

 

faktuell.ch: Eine OECD-Studie, die die Häufigkeit von 5 Operationen untersucht hat, stellte fest, dass die Schweiz bei den meisten Operationen zur Gruppe der Länder mit einer hohen Rate gehört. Wir bei uns zu viel operiert?

 

Urban Laffer: Zum Teil, ja.

 

faktuell.ch: Erklärt das die gewaltige Zunahme gewisser Operationen – beispielsweise der Knieprothesen-Operationen, die sich innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt haben?

 

Urban Laffer: Die Knieprothese gibt es noch nicht so lange, und sie hatte am Anfang noch ihre „Kinderkrankheiten“. Heute weiss man, dass es gut herauskommt, dass auch computerassistiert navigiert wird, damit die Flächen richtig stimmen. Das erklärt einen Teil der Zunahme. Der andere hat damit zu tun, dass die Menschen älter werden…

 

faktuell.ch: ...dank der medizinischen Fortschritte…

 

Urban Laffer: … und dank den Ansprüchen der Patienten, die sich verändert haben. Ich wuchs in einem Dorf auf. Da sah ich viele Bauern unter Schmerzen aufs Feld humpeln. Als ich schon Arzt war, riet ich ihnen, die Hüfte untersuchen zu lassen. Aber sie meinten, das gehe ganz gut so, wie es sei. Heute sind wir weniger bereit, mit Schmerzen zu leben. Lebensqualität geht vor.

 

fakutell.ch: In der Schweiz kommen auf 8 Millionen Einwohner 900 Orthopäden, in den Niederlanden auf 17 Millionen nur 650. Ist das der Grund, dass bei uns häufiger zum Skalpell gegriffen wird, wie Bernhard Christen sagte, der frühere Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie?

 

Urban Laffer: Das hat schon einen Einfluss. Es geht immer auch ums Überleben.

 

faktuell.ch: Wäre für Sie eine Altersbeschränkung für Operationen vertretbar, wie sie beispielsweise in Grossbritannien diskutiert wird?

 

Urban Laffer: Nein. Ich hoffe sehr, dass wir in der Schweiz nie so weit kommen, dass wir Altersbeschränkungen für medizinische Behandlungen einführen. Bevor wir rationieren, gibt es noch viel zu rationalisieren.

 

faktuell.ch: Klingt nach weniger Komfort?

 

Urban Laffer: Wir sollten uns bewusst sein, wie hochstehend unser Gesundheitswesen ist. Täglich wird geputzt, die Bettwäsche gewechselt, es gibt drei Menus zur Auswahl etc. Da gibt es noch sehr viel Luxus. In Italien bringen die Angehörigen das Mittagessen ins Spital. Komfort hat einen Preis. Wenn gespart werden muss, sollten wir uns in Ruhe überlegen, was sinnvoll ist und was nicht. Mir ist wichtig, dass die Bevölkerung weiss, wie die Konsequenzen von Sparmassnahmen aussehen, und dass man nicht einfach die Leistungserbringer zum Sparen auffordert.

 

faktuell.ch: Vielleicht ist der Leistungskatalog der Krankenkassen zu breit?

 

Urban Laffer: Das beschäftigt mich schon lange. Aber es ist fast nicht möglich, etwas zu ändern. Heute gibt es Bestimmungen, welche Leistungen nicht bezahlt werden. Aber eine Richtlinie oder Verfügung, welche Leistungen bezahlt werden, gibt es nicht. Wir haben eine Negativliste, aber es fehlt eine Positivliste.

 

faktuell.ch: Gehört die Schönheitschirurgie in den Leistungskatalog?

 

Urban Laffer: Nein, nur die Wiederherstellungschirurgie wie Brustimplantate nach Krebsoperationen oder schlecht verheilte Narben nach Verbrennungen.

 

faktuell.ch: Ein Arzt, der reine Schönheitschirurgie macht, ist eigentlich ein Restaurateur. Die mittlerweile zu einiger Prominenz aufgestiegene Daniela Katzenberger bezeichnet sich als lebendes Ersatzteillager. Wo hört der Spass auf?

 

Urban Laffer: Die Person, die so etwas macht, fällt einen persönlichen Entscheid, der die Allgemeinheit nicht belastet. Problematisch, aber kaum anders zu lösen,  ist allerdings, dass die Versicherungen die Komplikationen solcher Eingriffe zahlen müssen, weil sie unter Krankheit laufen.

 

faktuell.ch: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) spielt im schweizerischen Gesundheitssystem eine Schlüsselrolle. Brauchen wir überhaupt einen gesundheitspolitischen Vormund, wie es das BAG für viele darstellt?

 

Urban Laffer: Wir nähern uns in der Gesundheitspolitik tatsächlich einer Planwirtschaft, statt dass wir den Wettbewerb spielen lassen und gewisse Entscheidungen noch selber treffen können. Das BAG mischt sich immer öfter in die Gesundheitsbehandlung ein, die nicht seine Aufgabe ist. Beispielsweise kann es die Qualitätssicherung, für die sich das Amt jetzt stark machen will, ruhig den medizinischen Fachgesellschaften überlassen.

 

faktuell.ch: Befürchten Sie den manchmal fast missionarisch anmutenden Eifer der Gesundheitsbeamten?

 

Urban Laffer: Nein. Prävention kann ich akzeptieren, solange es bei Empfehlungen bleibt. Sie können als Bürger mitmachen oder nicht. All diese Kampagnen im Namen der Volksgesundheit bewirken, dass die Bevölkerung noch älter wird, die Behandlungen noch teurer werden, und dass wir immer mehr Posthospitalisations-Institutionen brauchen, mehr Pflegeheime – das ist der Effekt.

 

faktuell.ch: Wer ist im Seilziehen der wechselnden Interessen zwischen Patienten, Ärzten, Pharmaindustrie, Krankenkassen und Staat, also BAG, Kostentreiber?

 

Urban Laffer: Das sind alle. Unsere Politiker sind sich dessen aber nicht immer bewusst. Ein Beispiel: Die Übernahme von EU-Normen nach dem Rinderwahnsinn hat das Spital Biel 3,5 Millionen gekostet. Früher hatte man ein Instrumentarium, das nach Gebrauch gewaschen, dann sterilisiert und dann wieder gebraucht wurde. Seit dem Rinderwahn ist das nicht mehr ausreichend. Dabei gibt es eine Statistik, die zeigt, dass in England mehr Lastwagenchauffeure beim Abtransport von getöteten Rindern starben, als Patienten an Rinderwahnsinn.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

 

(Das faktuell.ch-Gespräch mit Prof. Urban Laffer hat im Mai 2015 stattgefunden.)

 

 


Urban Laffer,

Professor für Chirurgie, war von 1995 bis Ende April 2015 Chefarzt der Chirurgischen Klinik am Spitalzentrum Biel. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrere Standesorganisationen präsidiert, so die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie (2002-2004) und den Verband der chirurgisch und invasiv tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz (seit 2004)


Heinz Locher: «Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh.»

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Heinz Locher, Gesundheitsökonom, Unternehmensberater, Publizist und Dozent

 

Heinz Locher