Hintergrund

2025: Der Lackmus-Test der 2. Säule

In einem Jahr, genau am 1. Januar 2025, wird das obligatorische Zwangssparen in der 2. Säule 40. Es ist ein besonderer Geburtstag. Denn das auf 40 Jahre ausgelegte Anspar-Modell der beruflichen Vorsorge wird den ersten vollständigen Durchlauf in der Praxis absolviert haben. Es ist der Lackmus-Test für die Versprechen, die 1972 im Vorfeld des Volksentscheides zugunsten des 3-Säulen-Modells und 1985 mit der Einführung der obligatorischen 2. Säule abgegeben worden sind.

2025 gehen die «1960er» in Rente – dicht bedrängt von den wirklich «fetten» Geburten-Jahrgängen des Babybooms. Es handelt sich um die 100’000er-Jahrgänge 1961 bis 1970. Besonders zahlreich ist der Jahrgang 1964, der nach Lage der Angstszenarien am wenigsten «Bares für Rares» erwarten kann: Die «1964er» sind mit 112'890 Lebendgeburten und einem Geburtenüberschuss von 59'281 gleichsam Doppelrekordhalter. Zusammengezählt werden es eine runde Million Versicherte sein, die Schlag auf Schlag an die «Honigtöpfe» der 2. Säule drängen.

Danach werden es - gemessen an den Lebendgeburten der 1960er-Spitzenjahre - lange Zeit pro Jahrgang bis zu 30'000 Versicherte weniger sein, die in Rente gehen.


Die AHV im Spiegel ihrer fast 100jährigen Geschichte

Auf- und Ausbau der AHV: Die Meilensteine seit 1925.

  • 1925: Verfassungsgrundlage für AHV und IV: Am 6. Dezember stimmen Volk und Stände einer Ergänzung der Bundesverfassung zu, die den Bund beauftragt, auf dem Wege der Gesetzgebung die AHV und zu einem späteren Zeitpunkt auch die Invalidenversicherung einzuführen.
  • 1926: Vorfinanzierung der AHV: Ab dem 1. Januar 1926 leistet der Bund einen Beitrag in der Höhe der gesamten Einnahmen der fiskalischen Belastung des Tabaks an die AHV - über 20 Jahre vor den ersten Rentenzahlungen. Auch der Anteil des Bundes an den  allfälligen Reineinnahmen aus einer künftigen fiskalischen Belastung gebrannter Wasser soll für die AHV verwendet werden.
  • 1931: Sechs Jahre nach der Annahme des Verfassungsartikels scheitert das von den Eidgenössischen Räten genehmigte Ausführungsgesetz (mit AHV-Alter 66 für beide Geschlechter) an den Urnen, nachdem Gegner einer nationalen Lösung das Referendum ergriffen hatten. Das Gesetz wird haushoch verworfen. Fortan diktiert die Weltwirtschaftskrise andere Prioritäten und die AHV wird auf die Warteliste gesetzt.
  • 1934: Zwischen 1926 und 1934 steigt der AHV-Fonds von rund 19 auf 231 Millionen Franken. Im ersten Finanzprogramm der Krisenzeit beschliessen die Eidgenössischen Räte ab dem 1. Januar 1934 die Monopolabgaben auf Tabak, die für den AHV-Fonds bestimmt waren, neu für die allgemeinen Bedürfnisse des Bundes zu verwenden, um damit die Krisenbekämpfung zu finanzieren. In einem zweiten Finanzprogramm beschliessen Bundesrat und die Eidgenössischen Räte zudem,  die Verzinsung des AHV-Fonds einzustellen.
  • 1938: Am 16. Dezember 1938 segnet das Stimmvolk die seit 1934 verfassungswidrige Zweckentfremdung der AHV-Gelder nachträglich ab.
  • 1940: Einführung der Erwerbsersatzordnung für Wehrpflichtige (EO). Mit ihr taucht die Idee auf, Finanzierungsart und Organisation dieses ersten Solidaritätswerkes könnten nach Kriegsende allenfalls auf die neu zu schaffende AHV übertragen werden.
  • 1944: Der Bundesrat beauftragt das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement, dem der frühere Solothurner Industrievertreter Walther Stampfli vorsteht, die Frage einer eidgenössischen AHV erneut zu prüfen.
  • 1945: Der AHV-Fonds ist seit 1934 nur um 13 Millionen Franken auf 244 Millionen Franken gestiegen. Wären die Einnahmen aus der Tabak- und Alkoholsteuer, wie ursprünglich vorgesehen, über die ganze Zeit der AHV zugutegekommen, hätten es nach Berechnungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen rund 800 Millionen Franken sein können (entspricht heute 3,5 bis 4 Milliarden Franken).
  • 1946: Der Bundesrat unterbreitet den Eidgenössischen Räten die Vorlage eines Bundesgesetzes zur AHV. Es wird noch im gleichen Jahr verabschiedet.
  • 1947: 22 Jahre nach der Annahme des AHV-Verfassungsartikels stimmen Volk und Stände dem Bundesgesetz zur AHV und damit u.a. auch dem AHV-Alter 65 für Mann und Frau zu.  Bei einer Stimmbeteiligung von 80 Prozenten erhalten die Befürworter 862'036 und die  Verlierer 215'496 Stimmen. Nur der Halbkanton Obwalden lehnt das Gesetz ab. Zur Finanzierung: Haupteinnahmequellen bilden die Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber (je 2 Lohnprozente) sowie die öffentliche Hand (Bund zwei Drittel) und Kantone (ein Drittel) des während 20 Jahren geltenden fixen jährlichen Beitrages von 160, später  mit der 6. AHV-Revision von 350 Millionen Franken.
  • 1948: Erste AHV-Rentenzahlung (maximal 125 Franken, minimal 40 Franken); ein Industriearbeiter verdient zu dieser Zeit 745 Franken im Monat (40 Franken entsprechen heute etwa 185 Franken). Tabak- und Alkoholsteuer, Mehrwertsteuer, Spielbankenabgaben und allgemeine Bundesmittel, also sämtliche Steuereinnahmen zusammen, die zur Finanzierung der AHV eingesetzt werden, machen im langjährigen Durchschnitt rund 23 Prozent der jährlichen AHV-Ausgaben aus.
  • 1957: Senkung des Frauenrentenalters auf 63; Erwerbstätige sind neu ab dem 18. Altersjahr (vorher 15) beitragspflichtig. Die damit verbundenen höheren Ausgaben seien sogar "wünschbar, um ein unbegrenztes Wachstum des AHV-Fonds zu verhindern", erklärte der Bundesrat.
  • 1959: Die sogenannte Binswanger-Kommission übernimmt das Szepter in der AHV-Debatte. Der frühere Chefbeamte Peter Binswanger hatte unter der Federführung von Bundesrat Walther Stampfli den Aufbau der AHV als Chefbeamter des Bundesamtes für Sozialversicherungen wesentlich mitgeprägt, ehe er 1956 als Direktor zur "Winterthur" (heute AXA) wechselte. Die Binswanger-Kommission mutiert unter dem Patronat der Lebensversicherungsgesellschaften zur "Studienkommission für die Probleme der Alters- und Hinterlassenenversicherung". Sie übernimmt den Auftrag, ein Alternativmodell zur staatlichen Altersvorsorge zu entwickeln. Der Argwohn der Versicherungsbranche gilt einer allzu grosszügig dotierten Rente.
  • 1960: AHV/IV-Fonds: Das Gesetz über die Invalidenversicherung (IV) wird in Kraft gesetzt.
  • 1961: Fünfte AHV-Revision: Rentenerhöhung um durchschnittlich 28 Prozent; Auftrag des Bundesrates zur periodischen Überprüfung des Verhältnisses zwischen Renten, Preisen und Erwerbseinkommen
  • 1963: Die Studienkommission mit ihrem Sprecher Binswanger  überzeugt die Mitglieder der AHV-Kommission, in der Botschaft zur 6. AHV-Revision die Definition der "drei Arten" (heute "Säulen" benannt) des "typisch schweizerischen Vorsorgesystems" aufzunehmen. Sinngemässe Begründung: Es gilt die AHV dahin zu entwickeln, dass ihr Nutzen auch in Zukunft eine Grundlage und eine Ermutigung für die beiden anderen Vorsorgesysteme darstellt, mithin die künftige zweite und dritte Säule.
  • 1964: Sechste AHV-Revision: Senkung des Frauenrentenalters auf 62; Erhöhung der Renten um ein Drittel; Erhöhung des Beitrages der öffentlichen Hand von bisher 160 Millionen Franken auf einen Fünftel der jährlichen Ausgaben (1964 = 350 Mio.)
  • 1966: Einführung der bedarfsabhängigen AHV/IV-Ergänzungsleistungen
  •  1969: Siebte AHV-Revision: Rentenerhöhung um mindestens ein Drittel; Erhöhung der Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber von je 2 auf je 2,6 Prozent, der Selbständigerwerbenden auf 4,6 Prozent; Einführung der Möglichkeit des Rentenaufschubs
  • 1972: Die bis heute entscheidende Weichenstellung in der Altersvorsorge: Volk und Stände lehnen mit grosser Mehrheit die Volksinitiative der Partei der Arbeit (PdA) für die Einführung einer "wirklichen Volkspension" ab und stimmen dem Gegenvorschlag der Bundesversammlung mit 1'393'797 Ja gegen 418'018 Nein zu. Damit wird das sogenannte Drei-Säulen-Prinzip in der Bundesverfassung verankert.
  • 1973: Achte AHV-Revision, erste Stufe: Erhöhung der Renten um durchschnittlich 80 Prozent ; Befugnis der Ehefrau, für sich die halbe Ehepaar-Altersrente zu beanspruchen; Erhöhung der Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber von je 2,6 auf je 3,9 Prozent, der Selbständigerwerbenden auf 6,8 Prozent
  • 1975: Achte AHV-Revision, zweite Stufe: Erhöhung der Renten um durchschnittlich 25 Prozent; Gewährung von Baubeiträgen an die Errichtung, den Ausbau und die Erneuerung von Heimen und anderen Einrichtungen für Betagte; Erhöhung der Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber von je 2,6 auf je 4,2 Prozent, der Selbständigerwerbenden auf 7,3 Prozent
  • 1979: Neunte AHV-Revision: Wiedereinführung der Beitragspflicht für erwerbstätige Rentner; Erhöhung der AHV-Beiträge der Selbständigerwerbenden auf 7,8 Prozent; Erhebung von Verzugszinsen bei säumigen Beitragsschuldnern; gegen die neunte AHV-Revision wurde das Referendum ergriffen, die Revision aber in der Abstimmung von Volk und Ständen deutlich angenommen.
  • 1993: Verfassungsgrundlage für ein zweckgebundenes Mehrwertsteuerprozent für die AHV
  • 1994: Einführung der Erziehungsgutschrift für geschiedene Frauen
  • 1997: Zehnte AHV-Revision: Einführung eines Systemwechsels mit individuellem und geschlechtsneutralem Rentenanspruch. Bei den Ehepaaren wird ein Einkommenssplitting vorgenommen; die Einkommen beider Ehegatten werden geteilt und je die Hälfte dem anderen Ehegatten auf seinem Konto gutgeschrieben. Einführung von Erziehungsgutschriften als Entschädigung für die Kindererziehung; Einführung des flexiblen Rentenalters durch die Möglichkeit des Rentenvorbezugs um höchstens zwei Jahre.
  • 1999: Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um ein Prozent zugunsten der AHV ("Demografieprozent" genannt, wobei der AHV davon nur 83 Prozent zukommen, 17 Prozent fliessen in die allgemeine Bundeskasse); Erhöhung der Renten um 1 Prozent, ab 2010 geht das ganze Demografieprozent in die AHV
  • 2001: Anhebung des Rentenalters für Frauen auf 63; Möglichkeit des Erwerbs ausländischer Aktien durch den Ausgleichsfonds
  • 2005: Anhebung des Rentenalters für Frauen auf 64
  • 2007: Die AHV erhält 7,038 Milliarden Franken erhält aus dem Verkauf des Nationalbank-Goldes
  • 2008: Neuer Finanzausgleich: Der Bund leistet fortan den gesamten AHV-Beitrag der öffentlichen Hand, die Kantonalbeiträge entfallen
  • 2009: Im Finanzperspektiven-Bericht räumt das Bundesamt für Sozialversicherungen freimütig ein, dass die Finanzlage der AHV jahrelang zu pessimistisch eingeschätzt worden sei (Quelle: "Aktualisierung der Berechnungsgrundlage zur Erstellung von Perspektivrechnungen in der AHV").
  • 2010: Die jahrelangen IV-Defizite reissen bis Ende Jahr ein Loch von rund 20 Milliarden Franken in den gemeinsamen AHV-IV-Fonds
  • 2011: Trennung in AHV- und IV-Fonds; der neue IV-Fonds erhält aus den AHV-Reserven  à fonds perdus 5 Milliarden Franken, die zur Tilgung der Schuld ebenfalls der AHV entnommenen 14,9 Milliarden Franken werden durch die Bundeskasse verzinst; gleichzeitig erhält die IV eine befristete Zusatzfinanzierung durch die Mehrwertsteuer für die Jahre 2011 bis 2017 (0,4 von 8 Mehrwertsteuerprozenten). Versprochen ist, dass die IV bis spätestens 2030 ihre AHV-Schuld abgetragen haben wird.
  • 2011: Im Rahmen der Neuregelung der Pflegefinanzierung können Altersrentnerinnen und Altersrentner eine Hilflosenentschädigung leichten Grades beanspruchen, sofern sie im eigenen Haushalt leben.
  • 2022: Mit einer knappen Ja-Stimmenmehrheit von 31'195 Stimmen ist die gesetzliche Grundlage der Reform zur Stabilisierung der AHV («AHV 21») angenommen worden. 1'442'591 oder 50,5 Prozent der Stimmberechtigten stimmten mit «Ja», 1'411'396 oder 49,5 Prozent mit «Nein». Die Stimmbeteiligung betrug 52,19 Prozent. Gleichzeitig wurde auch der Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV gutgeheissen, mit der das Niveau der Renten bis ins Jahr 2030 sichergestellt werden soll.

  • 2024: Inkrafttreten der Reform zur Stabilisierung und Zusatzfinanzierung der AHV («AHV 21»): Sie vereinheitlicht das Rentenalter (neu Referenzalter genannt), indem jenes der Frauen ab 2025 sukzessive von heute 64 auf neu 65 Jahre angehoben wird. Weiterer Schwerpunkt der Reform ist die Flexibilisierung des Altersrücktritts mit Anreizen für eine längere Erwerbstätigkeit. Die Zusatzfinanzierung erfolgt durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuersätze: Normalsatz neu 8,1 statt 7,7 Prozent, Reduzierter Satz neu 2,6 statt 2,5 Prozent und Sondersatz für Beherbergung neu 3,8 statt 3,7 Prozent.

  • 2024: Die vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund lancierte Volksinitiative "Für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente wird in der Abstimmung vom 3. März 2024 von Volk und Ständen deutlich angenommen: 1'883'465 oder 58.24 Prozent stimmen mit "Ja", 1'350'257 oder 41,76 mit "Nein". Bei einer Stimmbeteiligung von 58,34 Prozent stimmen 14 2/2 gegenüber 6 4/2 Kantone dem Volksbegehren zu.


"Drehbuch" einer Bundesratswahl: Der "Klassiker" von 1983

Für den Band "Heil Dir Helvetia - Die Freude an der Macht" hat der Journalist Christian Fehr einst detailliert recherchiert, wie am 7. Dezember 1983 die Wahl der ersten Bundesrätin verhindert worden ist. Seine Darstellung ist zum "Drehbuch-Klassiker" für das beliebte Ränkespiel im Vorfeld von Bundesratswahlen geworden.

 

Am Mittwoch, 8. Dezember 1982, werden von der Vereinigten Bundesversammlung je im ersten Wahlgang FDP-Nationalrat Rudolf Friedrich und CVP-Ständerat Alphons Egli gewählt. Die Sozialdemokraten mochten sich weder für den einen noch den anderen Kandidaten richtig erwärmen: Sie haben Stimmfreigabe erklärt. Allerdings lässt SP-Parteipräsident Helmut Hubacher im Vorfeld der Friedrich-Wahl durchblicken, dass ihm der FDP-Rechtsaussen Friedrich genehmer wäre als jeder andere FDPler. Er gibt einem unverfälschten gegenüber einem verwaschenen FDP-Exponenten den Vorzug.

 

Dieses Engagement des SP-Chefs für den rechten Friedrich bleibt den meisten Sozialdemokraten schleierhaft, manche mucksen gegen solche Wahlempfehlung des SP-Vormannes auf. Bis zum Wahltermin rückt Nationalrat Hubacher sein Friedrich-Bild für den SP-Anhang wieder in ein richtiges Licht. Er nennt ihn einen «finsteren Gesellen». Was Helmut Hubacher zuvor mit seiner Friedrich-Salbung tatsächlich bezweckt hat, bleibt verschwommen. Manche SPler hegen den Verdacht, Hubacher träume insgeheim noch immer davon, selber den obersten Spross des politischen Machtzentrums erklimmen zu können – frei nach dem Motto: «Wenn der extreme Friedrich genehm sein kann, dürfte es auch für einen SP-Präsidenten möglich werden.»

 

Kurz nach der Friedrich- und Egli-Wahl erklärt Helmut Hubacher der «Basler Zeitung», was sie anderntags publiziert: «Jetzt wird’s allerhöchste Zeit für eine Frau.» Sobald der eine oder andere SP-Sitz im Bundesrat frei werde, wolle die sozialdemokratische Fraktion den Versuch zu einer historischen Tat wagen und die erste Bundesratskandidatin zur Wahl vorschlagen. Der Name der Hubacher-Favoritin ist für niemanden ein Geheimnis: SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen. Hubacher-Gegner unterstellen gleich, der SP-Chef habe seit Jahren das Terrain für seine Lieblingskandidatin geebnet, indem er der Reihe nach die ernsthaftesten Anwärterinnen - Hedi Lang und Emilie Lieberherr - ausgebootet hätte. Die gleichen Hubacher-Gegner unterstellen dem SP-Leader freilich auch, er sei eine «taktische Null».

 

Frühjahr 1983, Restaurant «Pinocchio», Bern, abends: Bei Speis’ und Trank plaudern drei Mitglieder der sogenannten «Viererbande», nämlich die Nationalräte Andreas Gerwig, Helmut Hubacher und Walter Renschler, zwanglos über mögliche Nachfolger von Bundesrat Willi Ritschard, dessen intern geäusserte Rücktrittsabsichten sich gehäuft hätten. Das Trio erstellt eine Liste «valabler Kandidaten». Man kommt auf ein gutes Dutzend Namen, worunter alle Angehörigen der «Viererbande». Doch bei näherem Betrachten zeigen sich Gerwig, Hubacher und Renschler realpolitisch: «Von uns hat keiner eine Chance.» Zuletzt bleibt der Name von Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, dem vierten Mitglied der «Viererbande».

 

Und noch etwas scheint dem Trio klar: Wenn Ritschard schon gehen wolle, dann müsse seine Nachfolgerin vor den eidgenössischen Wahlen von der Vereinigten Bundesversammlung gekürt werden können. Denn die Bürgerlichen würden es sich vor den Wahlen kaum leisten können, einer Frau vor dem Glück zu stehen. Indes, nach einer Ferienwoche, in deren Verlauf er vertieft über einen Rücktritt nachgedacht hatte, zeigt sich Willi Ritschard zunächst nicht mehr rücktrittswillig. Dann, vor den Sommerferien 1983, erklärt Bundesrat Ritschard, er werde nach den Ferien und nach Konsultation seines Leibarztes bekannt geben, ob er demissioniere oder nicht. Im August diskutieren die Zentralsekretäre der SP zusammen mit dem Parteipräsidenten die allfällige Ritschard-Nachfolge: Ein Zentralsekretär bringt den Namen von Nationalrat Hans Schmid ins Spiel, Helmut Hubacher spricht sich für Nationalrätin Lilian Uchtenhagen aus.

 

1. September 1983, im gewerkschaftseigenen Viersterne-Hotel «Bern», Bern: Das «Willi Ritschard»-Buch wird vorgestellt, das zu Ritschards 65. Geburtstag unter dem Patronat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund von der Büchergilde herausgegeben worden ist (Konzeption und Text: Christian Fehr, ergänzt durch ein Ritschard-Porträt der Schriftstellers und Ritschard-Freundes Peter Bichsel). An der Buch-Vernissage nehmen zahlreiche Prominente von SP und Gewerkschaften teil – und verschiedene Medienvertreter, die sich vom Anlass vorab Neuigkeiten über die Rücktrittsabsichten des Geehrten versprechen. Doch Willi Ritschard lässt offen, ob er seinen zehn Bundesratsjahren noch ein elftes anhängen wolle. Anwesend ist auch Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, die später auf dem Perron des Bahnhofs Bern gegenüber dem Parteipräsidenten bezweifelt, ob Ritschard tatsächlich bereits zurücktreten wolle.

 

3. Oktober 1983, Herbstsession: Bundesrat Willi Ritschard reicht sein Demissionsschreiben ein. Das Kandidatenkarussell, das sich schon seit einiger Zeit dreht, kommt richtig in Fahrt.

 

Am 16. Oktober stirbt der populäre SP-Bundesrat auf einer Jura-Wanderung. In der Solothurner St.-Ursen-Kathedrale spricht SP-Präsident Helmut Hubacher vom «Vermächtnis» Ritschards: Willi Ritschard habe sich zuletzt Frau Uchtenhagen als seine Nachfolgerin gewünscht. Dieser vom SP-Chef erwähnte «letzte Wille» des Verstorbenen verfehlt seine Wirkung nicht: Die Ritschard-Entourage wird in den folgenden Tagen von zweifelnden und überraschten SP-Parlamentariern selbst nächtlicherweile bemüht, darüber Auskunft zu geben, ob die Sache mit dem «Vermächtnis» tatsächlich zutreffe. Wird der «letzte Wille» nicht bestätigt - etwa von Anhängern des Möchtegern-Kandidaten Hans Schmid, die es in der Ritschard-Entourage auch gibt -, atmen manche Frager erleichtert auf. So etwa ein welscher Nationalrat, der sich nochmals vergewissert: «Alors, on est libre?»

 

Vor der Tür stehen die Gesamterneuerungswahlen für National- und Ständerat. Im Kanton Solothurn gilt als fast sicher, dass der Grenchner Stadtpräsident und SP-Nationalrat Eduard Rothen nicht mehr kandidieren wird. Eine Mehrheit in der solothurnischen SP-Geschäftsleitung würde es gern sehen, wenn auch der andere bisherige SP-Nationalrat, nämlich Coop Schweiz-Vizedirektor Otto Stich, seinen Platz ebenfalls jüngeren Kräften zur Verfügung stellen würde. Doch fürchten die Genossen, dass Stich in Kenntnis der definitiven Demission Rothens nicht rücktrittswillig sein könnte. Man argwöhnt, dass Stich argumentieren könnte, die solothurnische SP-Liste müsse wenigstens einen Namen enthalten, der mit dem Wörtchen «bisher» ergänzt werden kann. Rothen wird deshalb mit seiner Demissionsabsicht solange zurückgehalten, bis Otto Stich das Handtuch geworfen hat.

 

Manchen Genossen ist nach der Stich-Ausbootung nicht wohl ums Herz und der Ausgebootete erfährt nach Bekanntgabe des Ritschard-Rücktritts eine Art Wiedergutmachung: Hauchdünn, mit 7 gegen 6 Stimmen, wird Otto Stich von der solothurnischen SP-Geschäftsleitung als Bundesratskandidat vorgeschlagen. Zwar denkt keiner, dass auf den Solothurner Ritschard schon wieder ein Solothurner als Bundesrat folgen würde, aber dem Genossen Stich soll mit dieser Nominierung etwas Gerechtigkeit für seine Verdienste widerfahren. In den linken Solothurner Beizen heisst es nach dieser SP-Geschäftsleitungssitzung, dass verschiedene Mitglieder bloss für Stich gestimmt hätten, weil sie seit dessen Ausbootung ein schlechtes Gewissen mit sich herumtragen.

 

Anfang Oktober 1983, Professor Hans Schmid nimmt an der Handelshochschule St. Gallen mündlichen Prüfungen ab. Einer der letzten Studenten bemerkt: «Viel Glück, Herr Professor, es ist da ja etwas im Tun…» Er verweist auf einen Artikel in der «NZZ», worin SP-Nationalrat Hans Schmid von allen möglichen SP-Kandidaten am sympathischsten abschneidet. Zwar ist der Name des St. Galler Professors schon früher gefallen, doch jetzt, da ihn die «NZZ» so wohlwollend behandelt, rechnet Schmid ernsthaft mit einer Wahlchance. Gleichsam «familienintern» - von einem Jus-Professor, der Götti eines Schmid-Kindes ist - klärt Hans Schmid die leidige Bürgerrechtsfrage ab. Denn Schmid ist St. Galler und Aargauer, wählbar aber nur als Aargauer. Er will aber auf das St. Galler Bürgerrecht nicht im Voraus verzichten, sondern erst nach einer allfälligen Wahl in den Bundesrat. Der befreundete Jurist gibt ihm bei einem Glas Wein zu verstehen, dass ein solches Vorgehen mit guten Gründen möglich sein sollte. Freilich könne man einwenden, dass er vor der Wahl auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten müsse.

 

In der letzten Woche der September-Session des alten Parlamentes hat Hans Schmid gehört, dass er als Kandidat gehandelt wird. CVP-Nationalrat Hans Schärli hat ihm in der Wandelhalle erklärt: «Ich habe Egli zum Bundesrat gemacht und garantiere Dir bei einer Kandidatur 125 Stimmen.» Schmid, der Schärli scherzhaft als «Präsident der bürgerlichen Hinterbänkler-Vereinigung» einstuft, denkt sich: «Wenn der sogar Egli zum Bundesrat machen konnte, dann…» Er wirft den Zettel mit der Telefonnummer, den ihm Schärli gibt, damit er seine Entscheidung mitteilen kann, nach eigener Darstellung in den nächsten Papierkorb. Schmid wittert eine Falle. Später, nach der Nominierung durch die St. Galler SP, aber vor der Fraktionsausmarchung der SP, ruft er Hans Schärli trotzdem an: «Ich habe nichts dagegen, wenn ihr die Aktion macht, die ihr mir offeriert habt.»

 

In einem ersten Gutachten, das das Bundesamt für Justiz im Fall «Bürgerrecht Schmid» erstellt, wird dem St. Galler Professor die Möglichkeit eingeräumt, erst nach der Wahl zum Bundesrat auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten zu können. Schmid wird parteiintern vor allem von jungen SPlern, die verschiedentlich mit der Etikette «Jung-Manager» versehen werden, gestützt und animiert, aber auch von verschiedenen Gewerkschaftern. Hingegen wird ihm, der während den Sessionen im Hotel «Bern» übernachtet, dem einstigen «Volkshaus», in der letzten Sessionswoche seitens der sogenannten «Volkshüsler-Riege» der sozialdemokratischen Parlamentarier durch SP-Nationalrat Herbert Zehnder bedeutet, sie würden sich für Otto Stich einsetzen - einer der ihren, der als Nationalrat ebenfalls im Hotel «Bern» abstieg, abends gern einen Jass klopfte und im Gegensatz zu Schmid klar dem konservativen Parteiflügel zugerechnet werden kann.

 

Am letzten Sessionstag des alten Parlamentes werden die - wie Stich - nicht mehr kandidierenden Kollegen gebührend verabschiedet. Die CVP-Nationalräte Edgar Oehler und Hans-Rudolf Feigenwinter erklären dem scheidenden Otto Stich rührsehlig: «Otti, wir werden dich nicht vergessen.» Stich antwortet etwas verlegen: «Wir werden ja sehen.»

 

Von ihrem Kandidatenvorschlagsrecht machen verschiedene SP-Kantonalparteien Gebrauch, wenngleich vom Start weg über jedem männlichen Bewerber gleichsam Lilian Uchtenhagen als Damoklesschwert hängt. Vorgeschlagen werden: Ständerat Eduard Belser (BL), Regierungsrat und Nationalrat Kurt Meyer (BE), Nationalrat Hans Schmid (SG), Noch-Nationalrat Otto Stich (SO), Nationalrätin Lilian Uchtenhagen sowie Regierungsrat und Ex-Nationalrat Arthur Schmid (AG), ein früherer Präsident der SP Schweiz. In Zürich wird ursprünglich erwogen, allenfalls eine Zweier-Kandidatur - Lilian Uchtenhagen und Walter Renschler (mit Walliser Bürgerrecht) - vorzulegen. Diese Idee weist Frau Uchtenhagen entschieden zurück; sie will von ihren Leuten vorbehaltlos unterstützt werden.

 

Im Kanton Bern, wo in der internen SP-Ausmarchung der seit Jahren als möglicher Bundesratskandidat genannte Thuner Stadtpräsident und Nationalrat Ernst Eggenberg gegen Regierungsrat und Nationalrat Kurt Meyer mit einer Stimme Differenz unterliegt, zeichnet sich Peinliches ab. Für Meyer haben sich hier besonders Anhänger des St. Gallers Schmid in Szene gesetzt, die Eggenberg als überaus erfolgsträchtige Nummer weg vom Fenster haben wollen. Dies ahnt der nominierte Meyer freilich erst, als im schweizerischen Parteivorstand, dem neun Berner angehören, die Wahlergebnisse für die einzelnen sozialdemokratischen Bundesratskandidaten bekanntgegeben werden: Auf Meyer entfällt lediglich eine Stimme, was den bernischen SP-Kantonalpräsidenten, Richard Müller, veranlasst, in der «Berner Tagwacht», der er als Chefredaktor vorsteht, darauf hinzuweisen, dass jedenfalls der Kantonalpräsident für den bernischen Kronprinzen gestimmt habe…

 

Ende Oktober verlieren die Sozialdemokraten die eidgenössischen Wahlen. Die als Nationalrat oder Ständerat wieder kandidierenden SP-Bundesratsbewerber werden aber durchs Band brillant wieder gewählt, am besten SP-Bundesratskronprinzessin Lilian Uchtenhagen. Nationalrätin Uchtenhagen setzt sich am 12. November 1983 in allen SP-Wahlgremien durch, die final entscheidende SP-Fraktion ernennt sie zur offiziellen sozialdemokratischen Bundesratskandidatin: Sie macht hier 31, der härteste Konkurrent, Hans Schmid, 22 Stimmen. Auf Otto Stich entfallen 8 Stimmen.

 

Im Vorfeld dieser Nominierung und auch nachher werden zwei Uchtenhagen-Kampagnen deutlich: Die Pro-Kampagne wird von den Blättern der Ringier-Presse («Blick», «Sonntagsblick», «Schweizer Illustrierte») geführt und hier vom prominenten Journalisten Frank A. Meyer wesentlich geprägt. Die Kontra-Kampagne lässt sich weniger genau orten, die Kandidatin selber wähnt sich aber besonders mit der Jean-Frey-Verlagsgruppe im Clinch («Weltwoche», «bilanz»). Der angesehene Publizist Oskar Reck bezeichnet die Anti-Uchtenhagen-Kampagne als «verdeckten Rufmord».

 

Lilian Uchtenhagen selber nimmt in der «Berner Zeitung» in einem Interview unter dem Titel «Bei Stress lebe ich erst auf!» zur Kritik an ihrer Person und zu Willi Ritschards Wunsch Stellung: «Bereits vor zwei Jahren rief der verstorbene Bundesrat Willi Ritschard mich zu sich, um mir zu sagen, er wolle gelegentlich zurücktreten und ich solle seine Nachfolge antreten. Nachdem Willi Ritschard mir mehrmals gesagt hatte, ich müsse unbedingt kommen, ich sei qualifiziert, habe ich mir nach seinem Rücktritt überlegt, ob ich mir eine Bedenkzeit ausbedingen soll. Aber bei den Wahlen habe ich gemerkt, dass sehr viele Leute, Frauen und Männer, jetzt unbedingt eine Frau im Bundesrat haben wollen. Da wurde mir in unzähligen Gesprächen auch klar, dass ich das jetzt einfach machen muss. Irgendeinmal kommt der Zeitpunkt, da wir Frauen das auf uns nehmen und in einen solchen Konkurrenzkampf steigen müssen. Meine Partei ist überzeugt, dass ich die Qualifikation habe. Abgesehen davon ist es wirklich Zeit, dass eine Frau in diese Regierung einzieht.

 

Das Schlimme an dieser Kampagne gegen mich ist ja, dass niemand nach meiner parlamentarischen Arbeit fragt. Dabei habe ich mich nicht nur in Wirtschafts- und Finanzfragen profiliert, sondern mich auch in Frauenfragen, Bildungs- und Forschungsfragen engagiert und für regionalen Ausgleich und Minderheiten gestritten. Aber ich werde immer entweder als eiserne Lady oder als emotioneller Haufen geschildert. Wie ich einerseits ehrgeizig, kalt, hart und rücksichtslos, anderseits eine Heulsuse sein soll, das geht ja auch nicht auf. Die Leute, die mit mir schon zusammengearbeitet haben, wissen sehr wohl, dass ich sehr belastbar bin.»

 

Die Uchtenhagen-Kritiker haben unter dem Stichwort «Belastbarkeit» der Kandidatin zum Beispiel gestreut, Frau Uchtenhagen werfe mit Aschenbechern um sich, wenn sie aufs äusserste gefordert werde. In der «Weltwoche» wird die angeblich mangelnde «psychische Belastbarkeit» der Kandidatin solcherart dargestellt: «Kritik reisst die Präsidentin von Coop Zürich vom Stuhl, lässt sie unkontrolliert herumzappeln – ihr gehen immer wieder die Nerven durch. Als sie einst während der China-Fahrt einer parlamentarischen Delegation mongolischen Kindern gedankenlos Dollarnoten verteilt hatte und deswegen von Parteifreund Walter Renschler scharf gerüffelt wurde, stand sie schliesslich, das personifizierte Elend, tränenüberströmt in der Steppe.»

 

Sehr früh zirkulierten in den Wandelhallen des Bundeshauses, aber auch in den Gazetten, zwei Namen, die in keiner Form als Kandidaten an der SP-internen Ausmarchung teilgenommen haben: Nationalrat Fritz Reimann, hauptberuflich Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), und Bundeskanzler Walter Buser. Am 19. November 1983 sorgt ein «Tages-Anzeiger»-Interview mit SP-Präsident Helmut Hubacher für Empörung in den bürgerlichen Reihen. Der SP-Chef gibt darin zu verstehen, dass die SP einen Bundesrat Buser nicht schlucken würde. Die Bürgerlichen wähnen sich durch diese Aussage erpresst.

 

Buser selber nimmt «erste Äusserungen im Sinne einer Ermunterung zur Annahme einer Wahl» in der September-Session 1983 wahr. Häufiger seien sie nach den Fraktionssitzungen vor der Winter-Session geworden, «als sich in allen bürgerlichen Fraktionen eine relativ starke Opposition gegen die Kandidatur Uchtenhagen herauskristallisierte»: «All diese Äusserungen - vielleicht ein gutes Dutzend - kamen aber von persönlichen Freunden und hatten nicht einmal offiziösen, geschweige denn offiziellen Charakter.» Als solche Freunde erwähnt Buser den Neuenburger Nationalrat François Jeanneret (lib.), den Buser-Schachpartner und Neuenburger Ständerat Jean-François Aubert (lib.), den Genfer Nationalrat Gilbert Couteau (lib.) und den Zürcher CVP-Nationalrat Paul Eisenring (der mit Buser zu einer Gruppe von befreundeten Parlamentariern gehört, die sich einmal pro Session zum Nachtessen treffen). Buser: «Daher kommt das Gerücht, die Bürgerlichen hätten mich gleich zu Beginn gewollt. Klar haben die – es sind ja Freunde – für mich die Werbetrommel gerührt.»

 

Im «Landwirtschaftlichen Klub der Bundesversammlung», dem weit über 100 Parlamentarier fast aller Parteien angehören, bearbeiten katholische Bauern protestantische Kollegen zugunsten des Katholiken und Coop Schweiz-Mannes Otto Stich, dem die Bauern grundsätzlich nicht wohl gesinnt sind. Ein katholischer Bauern-Nationalrat erhält von einem protestantischen Kollegen die schnippische Antwort: «Dann können wir ja gleich den Biel wählen!» Walter Biel ist Nationalrat des Landesrings der Unabhängigen und Migros-Direktor. Mit seinen kritischen Voten zur Landwirtschaftspolitik bringt er die Bauern regelmässig gegen sich auf.

 

Fritz Reimann wird zehn Tage vor der Bundesratswahl, an einem Samstag, zuhause von einem Thuner Freisinnigen - Reimann wohnt in Thun – aufgesucht, der ihm im Hinblick auf die bevorstehende Bundesratswahl eröffnet: «Wir haben mit dem Wahlvorschlag Mühe…» Reimann, der «da und dort» bereits seit Wochen gehört hat, «dass sie mich wollen», winkt ab, wenngleich ihm der freisinnige Kollege zu verstehen gibt, er könne sich mit einer Antwort ruhig Zeit lassen.

 

Doch der SGB-Präsident, der sich mit einer Wahl zum Bundesrat persönlich «nicht unglücklich» machen will, lehnt unzweideutig ab. Da entgegnet ihm der freisinnige Kundschafter: «Das wäre ja das erste Mal, dass einer die Wahl nicht annehmen würde!» Auch dies vermag den umgarnten Fritz Reimann nicht umzustimmen, trotzig meint er: «Dann bin ich halt der Erste!» Tatsächlich hatten in der Vergangenheit bei den Sozialdemokraten sowohl Hans-Peter Tschudi (gegen den Schaffhauser Nationalrat und Stadtpräsidenten Walther Bringolf) und Willi Ritschard (gegen den Aargauer Regierungsrat und Nationalrat Arthur Schmid) die mithin «wilde», von den Bürgerlichen in Abweichung zum offiziellen SP-Kandidaten vorgenommene Wahl angenommen.

 

Am Donnerstag, 1. Dezember 1983, bitten die Nationalräte Franz Eng (FDP) und Hans Schärli (CVP) den begehrten Gewerkschaftsboss Reimann zum vertraulichen Gespräch in eine Ecke des Nationalratssaals. Die beiden bürgerlichen Parlamentarier geben ihm aufgrund von Gesprächen in ihren Fraktionen zu verstehen: «Du wirst problemlos gewählt, aber wir müssen sicher sein, dass Du die Wahl annimmst.» Und wieder zeigt man sich bereit, dem SGB-Präsidenten Bedenkzeit einzuräumen: «Du musst jetzt nicht sofort ja sagen, überlegs’s Dir übers Wochenende.» Reimann hat nach diesem Gespräch kaum wieder seinen Platz eingenommen, da wird er von einem Nationalratsweibel aufgefordert, dringend den Bundeskanzler anzurufen. Buser später dazu: «Die Entwicklung - so wie ich sie verfolgen konnte - zeigte zu Beginn eine klare Konzentration der Gegner der Kandidatur Uchtenhagen auf Nationalrat Schmid, St. Gallen. Es bestand Neigung, die SP insofern zu schonen, als der Zweitklassierte bei der fraktionsinternen Ausscheidung ins Auge gefasst wurde. Erst als die Kandidatur aus rechtlichen Gründen zu wanken begann, suchten die Gegner der Kandidatur Uchtenhagen intensiver nach einer möglichen Alternative. In jenem Moment kam nun die Kandidatur Fritz Reimann ins Gespräch, der am Donnerstag der ersten Sessionswoche von einer interfraktionellen bürgerlichen Delegation aufgesucht wurde. Mir persönlich kam diese Alternative recht, da damit die Gefahr einer Konzentration auf meine Person abgewendet war.»

 

Reimann und Buser verabreden sich zum Mittagessen im Restaurant «Krone» im Berner Nobelvorort Muri. Noch bevor das bestellte Fisch-Gericht an einer weissen Sauce aufgetragen ist, platzt es aus Buser heraus: «Fritz, ich sichere Dir jegliche Unterstützung zu.» Welches Departement auch immer Fritz Reimann im Bundesrat übernehmen müsse, überall gebe es vorzügliche Beamte, die dem bescheidenen, auch an seiner Qualifikation für das hohe Amt zweifelnden Reimann beistehen könnten: «Du brauchst keinerlei Bedenken zu haben.»

 

Reimann winkt wieder ab, doch Buser will’s nicht wahrhaben. Am folgenden Freitag hat der Bundeskanzler in Basel an der Universität Examina abzunehmen und benützt die Gelegenheit, mit seinem alten Freund Hans-Peter Tschudi, dem früheren SP-Bundesrat, ein Gespräch zu führen. Tschudi, den Buser als seinen Berater empfindet, hat dem Bundeskanzler zuerst von einer Kandidatur abgeraten, später jedoch, an Tschudis Geburtstagsfeier, schlitzohrig empfohlen, seine, Tschudis 1959er Erfahrung, zu studieren: «Die könnte Dir jetzt dienlich sein.» Buser will darauf geantwortet haben: «Comparaison ce n’est pas raison.»

 

Nach dem Gespräch mit Freund Tschudi ruft Buser via Autofunk den Parteipräsidenten Hubacher an. Sie verabreden sich im «Maxim» in Basel, das Hubachers Gattin führt. Buser über den Gesprächszweck: «Es ging mir nicht darum, ihn um Rat zu fragen, wie später in den Medien gesagt worden ist, sondern darum, einen Appell an ihn zu richten, die Tatsache der ungünstigen Chancen der Kandidatur Uchtenhagen zu realisieren und, wenn es doch offenbar sein musste, von sich aus eine Alternative in die Diskussion zu bringen. Im gleichen Sinne hatte ich mich am Donnerstag der ersten Woche der Winter-Session bereits an den SP-Fraktionspräsidenten Dario Robbiani gewandt.»

 

Helmut Hubacher erinnert sich, dass ihn Buser für Reimann zu gewinnen suchte. Der Bundeskanzler habe sich als ursprünglicher Anhänger der Kandidatur Uchtenhagen dargestellt, der jetzt von der Chancenlosigkeit dieser Kandidatur überzeugt sei: «Helmut, so begreif doch endlich…» Wichtiger freilich scheint dem SP-Chef, dass Buser darauf hingewiesen habe, seine Wiederwahl als Bundeskanzler wäre gefährdet, wenn er jetzt mit einer öffentlichen Verzichtserklärung die Bürgerlichen vor den Kopf stossen würde. Hubacher hat darauf erwidert: «Es gibt traurigere Schicksale, als als Bundeskanzler nicht wiedergewählt zu werden.» Das vielleicht eine Stunde dauernde Gespräch verläuft frostig, keiner traut dem andern über den Weg. Willi Ritschard hat dem SP-Präsidenten vor den Sommerferien 1983 gesagt: «Die Bürgerlichen wollen Buser. Wenn das passiert, können wir aus dem Bundesrat austreten.» Und Helmut Hubacher glaubt auch zu wissen, dass Buser bei den Bürgerlichen bereits im Wort steht.

 

Am Montag, 5. Dezember 1983, teilt Nationalrat Reimann den Bürgerlichen offiziell und schriftlich mit: «Liebe Ratskollegen, anlässlich unseres Gesprächs vom vergangenen Donnerstag habe ich von Euch erfahren, dass scheinbar breite Kreise aus den Fraktionen der FDP, CVP und SVP meine Person im Zusammenhang mit der Bundesrats-Ersatzwahl ins Gespräch gebracht haben. Ich habe Euch erklärt, dass ich von Anfang an - und seither immer wieder - unmissverständlich eine Kandidatur als Bundesrat abgelehnt habe und dass ich an diesem Entscheid festhalte.» Und: «Auch nachdem ich über das Wochenende Gelegenheit hatte, erneut darüber nachzudenken, hat sich daran nichts geändert. (…) Ich bin mir durchaus bewusst, was für die schweizerische Politik auf dem Spiel steht, glaube jedoch nicht daran, dass mit meiner Wahl die Probleme gelöst würden. Im Gegenteil, ich bin überzeugt davon, dass die Zustimmung zum Vorschlag der SP-Fraktion unserem Parlament gut anstehen würde.»An diesem Montag wird auch ein bei der Universität Bern vom Büro des Nationalrates bestelltes zweites Gutachten zum «Bürgerrechtsfall Schmid» bekannt, das sinngemäss festhält: Wenn Hans Schmid nicht auf sein St. Galler Bürgerrecht vor der Wahl verzichtet, ist er nicht wählbar. Nicht nur Schmid-Anhänger haben den Eindruck, dass Nationalrat Schmid mit einem «Juristentrick» aus dem Verkehr gezogen worden ist. Gegen den St. Galler-Aargauer Schmid sollen in den Kulissen vorab mögliche künftige Bundesratskronprinzen bürgerlicher Parteien aus diesen beiden Kantonen aktiv geworden sein, damit ihnen eine Wahl in den Bundesrat nicht verbaut würde (damals war nur ein Bundesrat aus dem gleichen Kanton wählbar, der Verf.).

 

Aufgrund der Vorkommnisse in der ersten Woche der Dezember-Session beschliesst der Fraktionsvorstand der SP, die Gerüchte um den mutmasslichen Favoriten der Bürgerlichen, Bundeskanzler Walter Buser, abzuklären. Den bürgerlichen Fraktionen soll gleichzeitig klar gemacht werden, dass die SP Buser unter keinen Umständen akzeptieren könne; dabei gehe nicht darum, auf die Entscheidung der Bürgerlichen Druck auszuüben, vielmehr soll ihnen klar gemacht werden, dass die SP mit einer Wahl Busers in für alle Beteiligten unschöne Turbulenzen geraten würde.

 

Die bürgerlichen Gesprächspartner - FDP-Fraktionschef Jean-Jacques Cevey, SVP-Fraktionschef Hans-Rudolf Nebiker (zusammen mit SVP-Generalsekretär Max Friedli, SVP-Nationalrat Rudolf Reichling und SVP-Ständerat Peter Gerber) und CVP-Fraktionschef Arnold Koller - zeigen für diese Haltung der Sozialdemokraten Verständnis. Cevey wirft ein, dass die SP vor Jahresfrist die offiziellen Kandidaten von FDP und CVP ebenfalls nicht offiziell unterstützt habe. Und ein SVP-Vertreter gibt zu erkennen, dass die Qualifikation von Bundeskanzler Buser für den Bundesratsjob nicht über jeden Zweifel erhaben sei. SP-Fraktionsvize Walter Renschler über seinen Eindruck nach diesen Gesprächen: «Mindestens die Führung der anderen respektiert die SP-Kandidatin, wenngleich auch Bedenken gegen Lilian Uchtenhagen geäussert wurden. Aber man versprach uns, dass das Mögliche gemacht werde, um unseren Wahlvorschlag zu respektieren.»

 

Kaum wieder im Ratssaal, vernimmt Nationalrat und VPOD-Geschäftsführer Renschler, dass eine bürgerliche Delegation den Kollegen Fritz Reimann bearbeitet. Sofort geht er zum CVP-Fraktionschef Koller: «Was macht ihr da wieder für ein ‚Spieli’?» Koller versichert, dass Eng und Schärli nicht im Namen der Fraktion bei Reimann vorstellig geworden sind.

 

Gegen Ende der ersten Woche der Winter-Session verdichten sich neu Gerüchte, dass CVP-Bundesrat Kurt Furgler, Chef des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes, zugunsten von Walter Buser aktiv sei, um einen Vertrauten, nämlich Joseph Voyame, Direktor des Bundesamtes für Justiz, als Nachfolger Busers in den Bundeskanzlerjob hieven zu können. Da Furgler früher wiederholt bemerkt hatte, er sei für eine Kandidatur Uchtenhagen, will der SP-Präsident jetzt vom CVP-Bundesrat persönlich wissen: «Kurt, warst Du nur für Lilian, um Willi Ritschard weg zu empfehlen?» Als Hubacher aus Furglers Büro herauskommt, hat er trotz der Zusicherung Furglers - «Helmut, ich bin absolut dafür, dass ihr im Bundesrat bleibt» - kein klares Gefühl über Furglers tatsächliche Rolle.

 

Zu Beginn der zweiten Woche der Winter-Session, zwei Tage vor der Bundesratswahl, stellen die Sozialdemokraten fest, dass Walter Buser stärker denn je im Gespräch ist – besonders als auch noch Reinmanns definitiver Verzicht bekannt wird. Im SP-Fraktionsvorstand wird die bange Frage diskutiert: «Wie kann das Problem Buser umgangen werden?» Man beschliesst, Buser müsse Farbe bekennen. Denn Fraktionsvize Renschler ist inzwischen auch zu Ohren gekommen, dass der Bundeskanzler dem Treiben um seine Person keineswegs passiv gegenüberstehe, sondern vielmehr aktiv auf eine Wahl hinarbeite. Das Gerücht liegt in der Luft, dass Buser den Generalsekretär des Eidgenössischen Departementes des Innern, den SP-Mann Eduard Marthaler, als Bundeskanzler-Nachfolger montieren wolle, wenn er, Buser, in den Bundesrat gewählt würde. Renschler will’s genau wissen und ruft Marthaler an: «Hast Du etwas gehört von Deiner Kandidatur als Bundeskanzler?» Marthaler antwortet sinngemäss: «Ja, vor zwei Stunden hat Buser angerufen und gefragt, ob ich kandidieren würde. Doch ich habe dieses Ansinnen weit von mir gewiesen.»

 

Jetzt ist für die SP-Spitze endgültig klar: «Buser ist für sich selber aktiv!» Im Auftrag des Fraktionsvorstandes müssen Ständerat Carl Miville sowie die Nationalräte Renschler und Hubacher mit dem Bundeskanzler reden. Bei dieser Aussprache schweigt sich SP-Chef Hubacher aus und verlässt die Runde schon nach wenigen Minuten: «Ich habe nichts Neues gehört. Buser hat wiederholt, was er mir schon in Basel gesagt hat.» Trotz des Beschlusses, keinerlei Zwang auf Buser auszuüben, geht besonders der Basler Miville mit dem unsicheren Kantonisten Buser hart ins Gericht: «Walter, ich verstehe Dich nicht!» Und er erinnert Buser daran, welche Verantwortung er mit einer Wahlannahme auf sich nehmen würde: «Du wärst schuld, wenn wir den Bundeskanzlerposten verlieren würden, und Du trägst die Verantwortung, wenn sich die Partei spaltet!“» Walter Buser wirbt mit dem Hinweis auf schlaflose Nächte um Verständnis: «Es geht um meine Existenz.» Da fährt ihn Walter Renschler an: «Du musst nicht so tun, als ob…» Allein, Miville und Renschler kommen mit Buser auf keinen grünen Zweig. Zusammen gehen die beiden Parlamentarier mit dem Bundeskanzler anschliessend an die SP-Fraktionssitzung, die bereits angefangen hat. Dort fragt SP-Nationalrat Max Chopard quer über den langen Tisch an die Adresse Busers: «Jetzt wollen wir endlich wissen: Bist Du Kandidat oder bist Du nicht Kandidat?» Die Frage Chopards gilt keineswegs der Stärkung der Kandidatur Uchtenhagen; vielmehr sondiert Chopard, ein Anhänger von Stich, für seinen Otto. Chopard gehört zur sogenannten «Volkshüsler-Riege».

 

Bundeskanzler Buser stellt seine Position an dieser Fraktionssitzung so dar: «In all diesen Wochen - also schon vor der Winter-Session - habe ich alle, die mich ermunterten, immer wieder dringend ersucht, aus staatspolitischen Gründen die Kandidatur Uchtenhagen zu akzeptieren oder - soweit sich kategorisch Opposition geltend machte - darum gebeten, jedenfalls nicht meine Person ins Spiel zu bringen.»

 

Buser begründete seine Haltung nachträglich so: «Einerseits habe ich immer wieder betont, dass mir persönlich, da ich seit 20 Jahren aus gesundheitlichen Gründen und mit Rücksicht auf meine Neigung zu eher wissenschaftlicher Tätigkeit nicht mehr vorne an der politischen Front stehe, der Posten des Bundeskanzlers offen und ehrlich besser passe. Zweitens, habe ich aus der Erkenntnis der Situation bei der SP heraus immer wieder unterstrichen, dass eine Wahl meinerseits grösste Schwierigkeiten nach sich ziehen würde, da die SP nicht nur mit ihrer offiziellen Kandidatin unterläge, sondern gleichzeitig - und damit war bestimmt zu rechnen - auch der Posten des Bundeskanzlers verloren ginge. Diese Haltung kam auch in meinen Äusserungen inner- und ausserhalb der Fraktion zum Ausdruck, so namentlich in einer ersten Stellungnahme kurz nach der Herbst-Session, und zweitens im Fraktionscommuniquè am Dienstag der ersten Sessionswoche, worin erklärt wurde, die Fraktion habe von mir zur Kenntnis genommen, dass ich ausschliesslich für den Posten des Bundeskanzlers zur Verfügung stehe. Von einer formellen Erklärung des Inhalts, dass ich eine Wahl ablehnen würde, wurde mir von Freunden aus allen Lagern dringend abgeraten, da dies als Affront gegenüber der Bundesversammlung als höchster Wahlbehörde des Landes ausgelegt würde.»

 

Die Teilnehmer der SP-Fraktionssitzung beschliessen auf Vorschlag von Fraktionschef Robbiani, Buser soll mit Renschlers Hilfe eine Communiqué formulieren, aus dem hervorgehe, dass Buser für die Bundesratswahl passe. Walter Renschler besteht dabei auf der Formulierung «In völliger Übereinstimmung mit der Fraktion…», während Walter Buser seinerseits die Variante offeriert: «Aus persönlichen Gründen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt…» Da wird Renschler sauer: «Was heisst ‚zum gegenwärtigen Zeitpunkt’? Gilt das morgen Mittwoch auch noch?» Die beiden Sozialdemokraten können sich nicht einigen. Jetzt gibt die Fraktion auf Vorschlag von Helmut Hubacher dem gepeinigten Buser zwei Stunden Zeit, sich «etwas Gescheites» einfallen zu lassen. Die Zeit drängt, denn auf 17 Uhr ist eine Pressekonferenz zum Thema Buser angesagt. Die Fraktionssitzung wird fortgesetzt, während sich Buser an die Arbeit macht. Eine Viertelstunde später wird Walter Renschler hinausgerufen. Vor der Tür steht SVP-Generalsekretär Max Friedli und will wissen: «Stimmt es, dass Buser auf eine Annahme der Wahl verzichten muss?» Renschler reagiert gereizt: «Woher wisst ihr das jetzt schon wieder – Buser war ja noch bis kurz vorher hier drin?» Friedli erklärt ihm, dass Buser soeben ein Mitglied der SVP-Fraktion angerufen habe, um ihm den Verzicht mitzuteilen. Als Begründung habe er den Druck erwähnt, der auf ihn ausgeübt würde.

 

An der Pressekonferenz, etwas nach 17 Uhr, liegt der Buser-Text vor. Renschler verliesst den Text: «Ich möchte Ihnen hiermit zur Kenntnis bringen, dass ich unter den heute gegebenen Umständen eine allfällige Wahl in den Bundesrat nicht annehmen könnte». Prompt wird Renschler gefragt, ob der Verzicht morgen Mittwoch noch gelte. Wider seinen persönlichen Eindruck antwortet Renschler: «Das heisst heute und morgen.»

 

Kurz vor Beginn der Fraktionssitzung der FDP erkundigt sich ein FDPler bei Coop Schweiz-Vizedirektor Stich in Basel, ob er eine Wahl annehmen würde. Die Antwort fällt positiv aus. Die FDP-Fraktion, in der die Ablehnung der Kandidatur Uchtenhagen von Anfang an am massivsten ausgefallen ist, erörtert an diesem Dienstagnachmittag, dem 6. Dezember 1983, drei personelle Möglichkeiten: Buser, Stich oder ein Gewerkschafter. FDP-Nationalrat Felix Auer, der sich seinerzeit in seinen Reihen für die Wahl Busers zum Bundeskanzler stark gemacht hatte, warnt davor, die SP mit einer Wahl Busers zum Bundesrat und damit dem Verlust des Bundeskanzlerpostens vor den Kopf zu stossen. Er setzt sich für seinen Studienkollegen Otto Stich ein; sie beide kommen aus Arbeiterverhältnissen. Auer und die Kleinunternehmer-Tochter Lilian Uchtenhagen, ebenfalls eine Studienkollegin Auers und Stichs, sind sich nicht grün.

 

Als FDP-Fraktionschef Cevey gegen 17 Uhr die Sitzung aufheben will, kommt die Mitteilung herein, Walter Buser verzichte auf eine Wahl. Auer: «Die Fraktion war hell empört. Jedermann vermutete sofort, Hubacher habe Buser unter Druck gesetzt.» Gegen 18 Uhr wird die FDP-Fraktionssitzung unterbrochen – man will sich gegen 21 Uhr noch einmal treffen. In der Zwischenzeit soll bei den anderen bürgerlichen Parteien sondiert werden.

 

Gegen 19 Uhr verlässt Walter Renschler das Bundeshaus. Er ist mit Lilian Uchtenhagen in der «Münz» des Hotels «Bellevue» zum Nachtessen verabredet. Ebenfalls gegen 19 Uhr treffen sich im Büro von CVP-Fraktionschef Arnold Koller unter der Bundeskuppel Vertreter aller bürgerlichen Parteien. Die Teilnehmer einigen sich rasch. Der Bundesrat, der morgen Mittwoch gewählt wird, heisst Otto Stich. An der «Bellevue»-Bar prophezeit Ex-Bundesratskronprinz Hans Schmid dem Fernsehmann Marc-Roland Peter die Stich-Wahl mit 125 Stimmen.

 

Etwa zur gleichen Zeit tafelt das Gros der FDP-Fraktion im Hotel «Schweizerhof». Die angeregt die bevorstehende Stich-Wahl diskutierenden FDPler verstummen plötzlich: Unter der Tür ist SP-Ständerat René Meylan aufgetaucht. «Er versuchte», so später FDP-Pressechef Christian Beusch, «bei uns anzusaugen.» Bestimmt wird Meylan erklärt, dass er ein anderes Mal willkommener sei. Bei diesem FDP-Nachtessen kommt heraus: Offiziell wird niemand unterstützt, inoffiziell Stich. Belser, der Basellandschäftler SP-Ständerat, bei den Freisinnigen lange Zeit als Uchtenhagen-Alternative im Gespräch, findet keine grössere Resonanz mehr. Beusch: «Ausser Major ist er nichts.» Für Erheiterung sorgt an der freisinnigen Tafel die Mitteilung, dass CVP-Generalsekretär Hans-Peter Fagagnini, ein Uchtenhagen-Befürworter, in der Polizeikaserne am Berner Waisenhausplatz mit dem FC Nationalrat Fussball spielt – und so die Stich-Entwicklung wohl nicht mehr aufhalten könne. Tatsächlich haben verschiedene CVP-Parlamentarier und Uchtenhagen-Gegner wie CVP-Nationalrat Edgar Oehler dem viven Strategen und Parteifunktionär Fagagnini in der Zwischenzeit klar gemacht: «Das Wahlgremium hier sind wir!»

 

Als sich die Freisinnigen gegen 21 Uhr wieder treffen, geht’s ruckzuck: Nach einer Viertelstunde ist die Sitzung beendet und alle angehalten, in den Berner Etablissements Kollegen und Kolleginnen zu ermuntern, am Mittwoch den Namen von Otto Stich auf den Wahlzettel zu schreiben. Nach dieser Sitzung ruft Felix Auer seinen Studienkollegen Stich an: «Otti, Du wirst sicher gewählt!» Er gibt Stich den Rat, sofort das Telefon auszuziehen, damit sich nicht noch eine SP-Delegation anmelden könne…

 

In der «Münz» haben Lilian Uchtenhagen und Walter Renschler inzwischen etwas Leichtes, vermutlich Kalbsschnitzel, verdrückt. Während an der Theke der «Bellevue»-Bar im gleichen Hotel der Name Stich zirkuliert, fragt in der «Münz» Frau Uchtenhagen: «Was meinst Du, Walter, wie sind meine Wahlchancen?» Renschler, der von der Stich-Entwicklung nichts ahnt, antwortet im Brustton der Überzeugung: «Die Sache ist geritzt. Die können jetzt nicht mehr umorganisieren – der Hauptkandidat ist aus dem Rennen.»

 

FDP-Parlamentarier und –Funktionäre treffen sich nach der abendlichen Fraktionssitzung im Restaurant «Della Casa». Es wird emsig gerechnet. Bald ist den FDPlern hier klar: «Es reicht, aber ganz knapp.» Als unsichere Kantonisten werden einige welsche Parteifreunde eingestuft. Tatsächlich sollte Lilian Uchtenhagen 12 Stimmen mehr erhalten, als die FDPler voraussehen.

 

An der «Arcady»-Bar des Hotels «Schweizerhof» bechern etwa ab 22 Uhr Parlamentarier aller bürgerlichen Fraktionen, mehrheitlich aber CVPler. CVP-Nationalrat Edgar Oehler, Chefredaktor der «Ostschweiz», beschreibt unter dem Pseudonym «Hansjakob Wahlfieber» am 8. Dezember 1983 in seiner Zeitung, wie sich die Dinge entwickelt haben: «Überparteilich kamen honorige Kreise im Bundeshaus in einem bestimmten Raum zusammen und vereinbarten ein überparteiliches Zusammensitzen auf 23 Uhr. Es war immer noch Dienstagabend. Wie ein Lauffeuer gingen die parteipolitischen Telegrafen und Meldeläufer durch Berns Gassen, suchten die einschlägigen Restaurants auf und meldeten die neueste Entwicklung. Die Quittung war überall die gleiche, welche die Meldeläufer in die Zentrale zurückbrachten: ‚Jetzt reicht es uns endgültig’, habe man vom Heiri beim Nachtessen, vom Hans beim Dessert, vom Ueli beim Zeitungslesen und vom Paul auf dem Spaziergang vernommen. An der inoffiziellen Zusammenkunft der Vertreter aller Parteien fühlte man nicht nur, wie die besonnenen Typen der SP über den Ausgang des neuesten Schlagabtauschs fieberten, sondern auch den allgemeinen Drang, dem bösen Spiel endgültig eine Ende zu bereiten.

 

Das Buschtelefon klingelte unentwegt weiter. Bald einmal hatte man die grosse Mehrheit des Parlamentes erreicht und informiert. Druck wurde auf niemanden ausgeübt, das war angesichts der vergangenen Tage und der Entwicklung verpönt. Mittlerweile war Mitternacht vorbei. Das Sandmännchen hielt Einzug. So konnte man sich geruhsam zu Bette legen, um beim Frühstück nochmals über die Bücher zu gehen. (…) Die Meldungen, die beim Frühstück hereinkamen, stimmten optimistisch; Querkontrollen ergaben, dass das Informationsnetz durch das abendliche und nächtliche Bern funktioniert hatte. Das alles verdaut, das Dreiminuten-Ei, Gipfeli und ein Stück Zopf verspiesen, konnte man sich gemeinsam auf den Weg ins Bundeshaus machen. Man wollte zur Zeit eintreffen, denn die Lage war ernst, weshalb es eine bestimmte Angewöhnungsphase brauchte.» Soweit Hansjakob Wahlfieber alias Edgar Oehler.

 

Auf dem Herren-WC des Bundeshauses werden noch zwei Parlamentarier erwischt, die dem Treiben des Vorabends doch tatsächlich entgangen sind. Einer will leer einlegen, einer Uchtenhagen wählen. Im Gespräch während des Wasserlösens können die beiden Parlamentarier von ihrer Absicht abgehalten werden – sie versprechen, Otto Stich zu wählen. Damit keine bösen Überraschungen vorkommen, zeigen sich die Uchtenhagen-Gegner vom «Arcady»-Coup gegenseitig ihre Wahlzettel.

 

Otto Stich wird im ersten Wahlgang mit 124 Stimmen zum Bundesrat gekürt, Lilian Uchtenhagen bringt es auf 96 Stimmen. Kurz vor 11 Uhr bricht an der Thiersteineralle in Basel bei Coop Schweiz Jubel aus: «Unser Chef ist Bundesrat!» («Coop-Zeitung». Mit Blaulicht wird Stich zur Vereidigung ins Berner Bundeshaus gefahren, «eskortiert» von Coop Schweiz-Prominenz: Direktor Hans Thuli ist dabei, ebenfalls Edith Rüefli, die Otto Stich bei Coop Schweiz Tage vorher als Direktorin vorgezogen worden ist, dann auch der stellvertretende Direktor Peter Fitz. In Bern stossen sie zusätzlich auf Robert Kohler, Direktionspräsident von Coop Schweiz.

 

Im Nationalratssaal erklärt Otto Stich: «Ich bin der Meinung, die Zeit sei reif für eine Frau im Bundesrat. Aber da Sie mich gewählt haben, nehme ich die Wahl an.» FDP-Präsident Yann Richter sagt in einem ersten Wahlkommentar: «Man wird jetzt wissen, wer in der Schweiz befiehlt.» Erzürnt droht SP-Chef Helmut Hubacher mit dem Gang in die Opposition. Doch daraus wird nichts. Ein ausserordentlicher Parteitag verwirft das Ansinnen. Die SP bleibt Regierungspartei und der zunächst verschmähte Otto Stich löst als Finanzminister in den eigenen Reihen rasch deutlich mehr Begeisterung aus, als bei jenen, die ihn in den Bundesrat gewählt haben…

 

(Quelle: «Heil Dir Helvetia. Die Freude an der Macht», Herausgegeben von Christian Fehr, Edition Gutenberg, 1984)

 

Ludwig Hasler: "Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Dr. Ludwig Hasler

Ludwig Hasler

faktuell.ch: Erdogan, Orban, Putin, wohl auch Trump: Autokraten sind, wie es scheint, nicht zu stoppen. Gleichzeitig haben Bewegungen, die die traditionellen Parteien in Frage stellen, grossen Zulauf. Was wiegt schwerer: die Migrationsprobleme oder das Problem mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten?

 

Ludwig Hasler: Ich glaube das Hauptproblem ist, dass der Fortschritt stockt. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass es immer weiter und aufwärts geht, eine positive Dynamik herrscht. Das ist ein Projekt der Moderne. Es gibt immer mehr Freiheit, Bequemlichkeit, Glück, Besitz usw. Der Glaube ist vielleicht nicht verschwunden, aber eher vakant momentan. Wir sind heute überfordert von den grossen Aufklärungsidealen der Moderne: Freiheit, Vernunft, Toleranz, Weltoffenheit. Das hat prächtig funktioniert, solange man davon profitierte, aufstieg, mehr Freiheitsspielraum hatte. Und jetzt ist man skeptisch, glaubt nicht mehr so recht dran und sieht nicht mehr, was man davon hat. Dabei spielt vieles eine Rolle, auch die Migration. Jetzt kommen plötzlich Fremde, die einfach Teil haben, sich bedienen wollen. Für eine bestimmte Schicht ist dies kein grosses Problem…

 

faktuell.ch: … aber für den Teil der Bevölkerung schon, der nicht im Überfluss lebt…

 

Ludwig Hasler: …und der entwickelt das Gefühl, er sei betrogen um das, was man ihm versprochen hatte. Deshalb bildet sich eine Disharmonie zwischen so genannter Elite und dem Fussvolk. Die Elite spricht nach wie vor die Aufklärungssprache. Gegen Toleranz und Vernunft an sich hat niemand etwas. Aber wenn man befürchtet, von diesen Idealen nicht mehr profitieren zu können, sondern eher eins aufs Dach bekommt, eingeschränkt, eingeengt wird, dann verlieren die Ideale ihre Strahlkraft. Dann wird auf jene geprügelt, die diese Ideale jeden Morgen verkünden. Politik und Wirtschaft sind nicht die ursprünglichen Treiber dieser Entwicklung, sondern sie sind darin verhängt.

 

faktuell.ch: Sie waren lange Jahre Journalist in einer Zeit, da das Wort von Journalisten, kurz: ihre veröffentliche Meinung, etwas zählte. Hat die «Vierte Gewalt» ausgedient bzw. braucht es gar keine «Vierte Gewalt» mehr in einer Welt der «Bewegungen», die der politischen «Ochsentour» keinen Respekt mehr zollt?

 

Ludwig Hasler: Ich glaube nicht, dass sich die Funktion der Medien verändert hat. Aber wir haben auch historisch ein schiefes Bild, wenn wir meinen, in früheren Zeiten hätten hundert Prozent der Bevölkerung es nicht erwarten können, am Morgen die Zeitung zu lesen. Die Artikel waren damals kompliziert verfasst, vollkommen humorlos, eine Art Predigt-Fortsetzung oder -Ersatz. Seither haben sich die Medien nur vervielfältigt durch technologische und ökonomische Entwicklungen. Dass dies gleichzeitig der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht, ist ja klar. Es gibt nicht mehr «das Volk», sondern ein segmentiertes Volk mit ganz unterschiedlichen Interessen. Politik – das sehen wir sogar in der Schweiz und jetzt vor allem in Frankreich – erneuert sich ausserhalb der traditionellen Parteien. Ich halte dies weitgehend für einen normalen Vorgang. Es gibt keine Organisation, die sich über lange Fristen dauernd aus sich heraus erneuert

 

faktuell.ch: Früher oder später gehen aus Bewegungen auch immer wieder politische Organisationen hervor, die nach dem Muster traditioneller Parteien strukturiert sind.

 

Ludwig Hasler:  Politik hat sich insgesamt enorm ausgedehnt. Sie sorgt flächendeckend für die Menschen oder gibt dies zumindest vor und verspricht es. Politik im neuzeitlichen Verständnis ist Sicherheitspolitik. Der traditionelle Staat ist ein Sicherheitsstaat, er schützt die Bürger voreinander und vor Eindringlingen. Heute geht der Staat weiter und schützt mich vor mir selber, vor meinen internen Gefährdungen, vor meinen Süchten und vielleicht sogar vor meinen Sehnsüchten, jedenfalls vor sonntäglichen Konsumorgien an Tankstellen. Das ist jetzt staatliche Fürsorge. Und wenn die Fürsorge geritzt wird – zum Beispiel durch etwas gar viele Eritreer im Land – dann kommt ein Zweifel an den politisch Verantwortlichen auf bis hin zu einer Gegnerschaft, weil die Politik vermeintlich nur so tut, als würde sie für uns sorgen und uns schützen, in Wirklichkeit aber die Grenzen aufmacht und Fremde unter dem Stichwort «Asylrecht» an unsere Töpfe lässt. Ich glaube, dass dies ein Kernpunkt ist im momentanen Unbehagen.

 

faktuell.ch: Wie gross ist der Toleranz-Spielraum der Gastgeber-Länder, bevor sie Gefahr laufen, nicht nur ihre bisherigen Privilegien, sondern auch ihr Selbstbestimmungsrecht bis zur Unkenntlichkeit dem Anspruch des sogenannten «Gutmenschentums» zu opfern?

 

Ludwig Hasler: Ich hätte erwartet, dass man stringenter über Asyl, Asylrecht und Asylsuchende diskutiert. Eritrea ist nur ein Beispiel, aber ein aufschlussreiches. Man kann natürlich sagen, viele Leute in Eritrea seien «nicht sicher» oder hätten dort «keine Perspektive». Und jetzt? Eine Perspektive hat man nicht einfach so, für eine Perspektive muss man etwas tun. Es entsteht der Eindruck: Manche Eritreer laufen einfach davon. Okay. Wer kann weglaufen? Sicher nicht die Schwächsten. Sicher nicht die Ärmsten. Was bedeutet: Die Perspektivlosigkeit im Land Eritrea wird grenzenlos. Mit unserer Hilfe. Auf unsere Kosten? Die Skepsis ist völlig rational. Auch der emotionale Reflex ist verständlich: Dass wir in der Schweiz Perspektiven haben, ist nicht Schicksal, unsere Vorfahren haben es geschafft, von der Armut wegzukommen, gegen allerlei Widerwärtigkeiten. Ist eine Erfolgsstory, mit verdammt viel Schweiss und Erfindungsgeist. Es ist unser Erfolg. Und selbst wenn wir ihn mit den jungen Eritreern teilen möchten: Die meisten von ihnen kriegen doch auch hier nicht wirklich eine Perspektive.

 

faktuell.ch: Also macht man ihnen falsche Hoffnungen?

 

Ludwig Hasler: Ja, schon. Und das ist ihnen gegenüber auch nicht fair. Hinzu kommt der Sicherheitsaspekt. Wenn man das Asylrecht derart ausdehnt und aufnehmen will  wer «nicht sicher» ist, dann hätte momentan ein Drittel der Türken Recht auf Asyl bei uns und überlegen sie, wie viele das aus China und Russland sind. Ich halte dieses Kriterium für untauglich. Denn «nicht sicher» heisst noch lange nicht «verfolgt». Selbst bei «Verfolgten» müssten wir als kleines Ländli realistischer werden. Eritreer sind daheim nicht sicher? Was heisst «sicher»? Wir sind jetzt halt mal auf diesem Planeten. Das heisst, wir leben unter irdischen Bedingungen. Und irdische Bedingungen sind immer durchzogen. Die sind im Prinzip nie «sicher». Ich fürchte, mit diesem «Sicherheitsargument» wird unser Asylrecht ausgehöhlt. Momentan profitieren Eritreer davon. Andere werden die Leidtragenden sein. Nicht wirklich fair.

 

faktuell.ch: Helfen Sie Flüchtlingsministerin Sommaruga. Was tun?

 

Ludwig Hasler: Ich habe den Eindruck, dass in der Schweiz eine Mehrheit grundsätzlich dafür ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist aber eine Frage des Vorgehens. Der vormalige australische Premierminister Tony Abbott sagte, als die ersten Flüchtlingsschiffe seine Küste ansteuerten: «Stoppt mir diese verdammten Schiffe.» Man kann das für brutal halten, für mich ist es ein plausibler Reflex. Die Schiffe stoppen genügt natürlich nicht, sondern es müssen Flüchtlingslager organisiert werden. Die Australier – und auch die Kanadier – sagten dann okay, wir nehmen 10’000 auf. Aber die holen wir im Lager ab und bringen sie mit dem Flugzeug zu uns. Das ist eine Lösung. Denn was im Mittelmeer passiert, ist einfach schrecklich. Ich kenne die Situation natürlich nicht im Detail. Man schützt sich ja auch gerne vor solcher Detailwahrnehmung. Aber es ist zumindest umstritten, dass die Rettung wirklich zugunsten der Flüchtenden ist. 2016 gab es 6000 Tote im Mittelmeer. Wer kann denn so etwas verantworten?

 

faktuell.ch: An der Migration beteiligen sich «nur» drei Prozent der Weltbevölkerung. Doch in konkreten Zahlen bedeutet dies, dass rund 220 Millionen Menschen ausserhalb ihres Geburtslandes leben. Und nochmals 700 Millionen würden gemäss einer Gallup-Untersuchung emigrieren, wenn sie könnten. 700 Millionen sind das «Migrationspotenzial». Wird uns die Frage – wer ist Flüchtling, wer ist Migrant – nicht mehr loslassen?

 

Ludwig Hasler: Kaum. Umso wichtiger sind prinzipielle Überlegungen. Bei derart massenhaften Bewegungen müssen wir unsere Asyl-Philosophie überdenken. Traditionell nahmen wir entweder ideologisch verfolgte Einzelne auf. Oder verfolgte Gruppen wie die Hugenotten, die aber kulturell mit uns verbunden waren. Oder politische Flüchtlinge aus aktuellem Anlass, siehe Ungarnaufstand, siehe Balkankrieg. Nun haben wir eine völlig neue Situation: globale Migration. Quantitativ sind wir eh überfordert. Also brauchen wir neue Kriterien. Als Motto stelle ich mir vor: Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische. Ohne ausgeglichenes Geben und Nehmen scheitert mit der Zeit jede noch so gut gemeinte Affäre. Und zwar für beide: Bleibt der Fremde Fremdling in der Gesellschaft, ist seine Migration gescheitert. Fühlt sich der Gastgeber auf Dauer nur ausgenutzt, wird er sich gegen Migration auch dann sperren, wenn sie plausibel ist. Also müssen wir radikal unterscheiden zwischen Migrant und Flüchtling.

Für Migranten ist Integration das A und O. Flüchtlinge aus Syrien nehmen wir ohne diese Bedingung auf, klar. Aber zeitlich begrenzt. Aus einem syrischen Flüchtling kann ein bestens integrierter Migrant werden. Das ist in unserem Sinn. Wir brauchen Leute. Kluge Leute. Leute mit Biss. Leute mit Hunger. Wir regenerieren uns zu schwach…

 

faktuell.ch: …auf der Strasse gewinnt man seit ein paar Jahren nicht diesen Eindruck…

 

Ludwig Hasler: … ich spreche von den eigenen Genen. Wenn wir uns nur aus diesen reproduzieren würden, müssten wir uns etwas mehr Mühe geben. Eine Frau müsste 2,2 Kinder gebären. Davon sind wir weit entfernt. Also Integration – fragt sich nur: wo hinein? Wie steht es mit unserer Identität? Wir sind zwar ziemlich scharf auf Schwingfeste und auf 1.August- Feiern. Wir führen uns gern als Superpatrioten auf, gehen dann allerdings nach Konstanz einkaufen und decken uns beim chinesischen Online-Händler ein. Es ist ziemlich schizophren, was wir tun. In der Selbstdarstellung geben wir uns als Bergler und trommeln zum nationalen Lagerfeuer, weil es draussen angeblich kalt und zügig ist. Wir sind aber permanent unterwegs in alle Winkel dieser Erde. Das finde ich ziemlich schief.

 

faktuell.ch: Haben wir noch eine eigene Kultur?

 

 Ludwig Hasler: Das ist für mich eine wichtige Frage, weil eine Gesellschaft wie unsere vom Glauben an den Fortschritt lebt. Immer mehr und besser muss es werden. Generell braucht der Mensch entweder ein Gott oder eine Zukunft. Der Mensch – anders als alle anderen Lebewesen, die kompakt, dicht, problemlos sind und sich nicht jeden Morgen neu orientieren müssen – ist ein zwiespältiges Wesen. Das ist seine Grösse und auch seine Hinfälligkeit. In diesem Hin und Her zwischen Geist und Animalischem muss er sich dauernd justieren, sich zurechtfinden. Geist und Trieb in uns sind ewig im Widerstreit. Deshalb haben wir ja dauernd Probleme mit uns selbst. Diese Probleme lösen, heisst irgendwo einen Halt haben. Das war lange das Göttliche, das Auge Gottes, das alles sieht. Heute ist es das Google-Auge, das sieht auch alles. Das Schöne beim Auge Gottes war, dass es für sich behielt, was es sah. Bei Google ist dies nicht mehr der Fall. Ein Mensch kann nicht in der Gegenwart verharren, er muss etwas vorhaben, er braucht eine Zukunft. Dasselbe gilt für die ganze Gesellschaft. Wir haben heute Mühe, den Rank zu finden, weil die Zukunft in der Rückschau immer leuchtend war, voller Versprechungen, Abhebungen, eine wahre Hymne an die Veränderungen.

 

faktuell.ch: Und jetzt: Um Gottes Willen, bloss keine Veränderungen?

 

 Ludwig Hasler: Wenn man dort angelangt ist, wo wir als Schweiz sind, wenn es einem so gut geht, ja dann will man alles, bloss keine Veränderung. Genauer gesagt, man will eigentlich gar keine Zukunft. Man will eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Genauer noch: eine Fristerstreckung für eine problembereinigte Gegenwart. Ein paar Probleme werden noch ausgebügelt, wie 70 Franken mehr für die AHV-Neurentner, ein paar zusätzliche Velostreifen. Das riecht nun wirklich nicht nach Zukunft. Das ist eine ausgebügelte Gegenwart. Wenn man so in der Gegenwart sitzenbleibt und die Probleme trotz der Heidenmühe, die wir uns geben, nicht aufhören, dann werden wir miesepetrig. Jetzt kommen auch noch diese Migranten, trampen uns auf die Füsse und hocken auf der Sozialkasse. Man erträgt dann einfach nichts mehr. Wir haben gedacht, wir seien auf dem Berg angekommen. Es ist nicht schlau, so etwas anzunehmen. Menschen kommen nie auf dem Berg an, sie sind immer «am» Berg. Wie Sisyphus. Das ist das menschliche Pensum. Kraxeln, Varianten suchen, runterfallen, ausruhen, dann wieder hoch am Berg. Was uns heute fehlt, ist eine Art Vista. Wir müssen etwas im Blick haben, das zu erreichen sich lohnt. Vielleicht ein Silicon Valley Europas. Das wäre gar nicht so dumm.

 

 faktuell.ch: Die Frage ist, ob es bei uns funktioniert?

 

 Ludwig Hasler: Unsere Kultur war durch und durch christlich. Das zeigt sich noch im Jahresrhythmus mit Auffahrt, Pfingsten, Ostern. Das strukturiert heute noch, das Jahr strukturiert das Leben, es gibt ihm Feierlichkeit, ohne diese Festtage hätten wir flache Autobahn durchs Jahr. Auch Musik und Dichtung sind christlich geprägt, bis hin zu politischen Idealen wie Gerechtigkeit und Menschenrecht. Aber was tun wir nun schon seit geraumer Zeit? Wir entrümpeln. Das Christentum kommt im öffentlichen Gespräch nur noch vor, wenn wieder mal ein pädophiler Pfarrer am Werk ist. Sonst kann man es offenbar «kübeln». Ich glaube nicht, dass wir da was Gescheites machen. Soweit ich sehe, ist kein Ersatz vorhanden.

 

faktuell.ch: Dem Islam das Feld überlassen?

 

Ludwig Hasler:  Jaaa … Das will doch eher keiner, oder? Das Christentum hat immerhin die Aufklärung mitgemacht, die Religionskritik integriert. Der Islam – schon nur mit seinem Frauenbild – wäre ein Rückschritt. Der Mensch braucht – wie gesagt – entweder Gott oder Zukunft. Gott hält man in unserer Gesellschaft weitgehend für überflüssig. Wir sollen laut Umfragen zwar mehrheitlich religiös sein. Aber natürlich nur gefühlsmässig. Barfuss über eine nasse Wiese laufen oder so etwas. Hauptsache Empfindung. Das ersetzt aber nicht die Religion als höheres Koordinatensystem, das sie immer war. Diese Vakanz hat Folgen bis in die Sozialpolitik. Die so genannte Resilienz, die seelische Widerstandkraft, sinkt dramatisch ab. Die brauchen wir immer, wen etwas schiefläuft, bei Enttäuschungen, Versagen, Entsagen, Scheitern, Frustrationen.

 

faktuell.ch: Wir Schweizer gehören weltweit zu den glücklichsten Menschen. Auf 1000 Bewohner haben wir allerdings auch die grösste Psychiater-Dichte. Hohes Glücksgefühl und tiefe Resilienz: Woher kommt der Widerspruch?

 

Ludwig Hasler: In den letzten Jahrhunderten war für die Resilienz immer auch Religion zuständig. Wir waren in eine höhere Geschichte eingebettet. Welttheater. In diesem Theater spielten alle eine Rolle, eine kleine, grosse, völlig egal, Hauptsache eine Rolle. Das gibt einen Sinn. Der Sinn kommt nicht aus mir, der Sinn kommt aus der Teilnahme an etwas, das grösser ist als ich. Diese Teilnahme hat auch das Negative aufgehoben, das es in jeder menschlichen Existenz gibt. Hiob hatte eine Adresse für seine Debakel. Er konnte klagen. Ja, bei wem will ich heute klagen? Ich habe keine Adresse mehr und bin mit Entsagen und Versagen allein und zerbreche daran. Das stellt die Psychiatrie immer deutlicher fest. Heute sind wir körperlich gesünder denn je, clean sind wir, haben weniger Süchte, weniger Drogen, weniger Rauchen, weniger Saufen, nur mit Kiffen bleibt’s beim Alten. Je braver wir uns verhalten, desto mehr steigt die Gefahr der Depressionen.

 

faktuell.ch: Warum?

 

Ludwig Hasler: Wenn ich allein mit mir bin, nicht eingebettet in eine grosse Geschichte, in ein kosmologisches Drama, bin ich sozusagen verwaist. Alleinsein mag gehen, solange alles toll läuft. Sobald mich aber etwas piesackt, sinkt die Resilienz dramatisch. Resilienz hat unmittelbar etwas mit Kultur zu tun. Die Kultur, die einen höheren Sinn hat, ist nicht mehr da. Wenn wir schon keine eigene Kultur mehr haben, keine Christen mehr sind und keine mehr sein wollen, dann machen wir eine Vermischung, kulturelle Biodiversität. Seitdem die Aussicht auf ewige Himmelsfreude nicht mehr so klar ist, wollen wir ja sozusagen alles in der irdischen Lebensfrist ausschöpfen. Wenn es schon kein Leben danach gibt, dann zumindest zu Lebzeiten gleich zwei bis drei führen. Ich glaube, mit der Multikultur verhält es sich ähnlich. Auf die Idee kommt man erst, wenn man der eigenen Kultur misstraut, wenn sie ihre Stärke verliert.

 

faktuell.ch: Nicht nur der kulturelle, sondern auch der technische Wandel mischt unsere Gesellschaft auf. Wie beeinflusst die Digitalisierung unseren Sozialstaat?

 

 Ludwig Hasler: Wir sind von der Moderne überfordert. Es kommt zu Irritationen. Die Ideale überfordern uns. Der Fortschrittsglaube serbelt. Und jetzt heisst es: Alles wird ganz anders – und das ohne den Menschen. Na bravo. Digitalisierung heisst, dass die Maschine erwachsen und selbständig wird. Da denken Normalmenschen, o Gott, o Gott, wo bleiben wir? Gemäss Oxford-Studie übernehmen Maschinen 47 % aller herkömmlichen Tätigkeiten…

 

faktuell.ch: und Facebook will das menschliche Gehirn direkt mit dem Computer vernetzen…

 

Ludwig Hasler: …und das macht jetzt nicht alle froh, weckt in vielen Ängste, übrigens zum Teil die völlig falschen. Es ist nämlich nicht so, dass vor allem die minder Gebildeten überflüssig werden. Es wird auch in 50 Jahren noch eine Coiffeuse brauchen…

 

faktuell.ch:  … aber den Steuerverwalter nicht mehr…

 

Ludwig Hasler: … ja und ganz angesehene Berufe werden verschwinden. Wenn ein Arzt nichts anderes macht als Allgemeinstudienwissen auf unseren Fall runterzubrechen, ist er heute schon überflüssig. IBM’s Star-Doctor Watson ist besser im Diagnostizieren und Operieren. Das heisst auf der anderen Seite – und das wäre jetzt wirklich eine Zukunft – der Mensch muss sich neu erfinden. Der Mensch hat sich über Jahrhunderte hinweg profiliert durch rationale Intelligenz: Wissenserwerb, Rechnen, Berechnen, Kontrollieren. Das was man heute als Fachkompetenz bezeichnet. Heute bauen wir Maschinen, die uns genau bei dieser Kompetenz überlegen sind. Jetzt wird es interessant. Aber noch fehlt es uns an Fantasie, die Chance zu nutzen. Nehmen wir die Pflegerin. Ja was ist denn gegen einen Pflege-Roboter einzuwenden? Der soll doch die Zimmer reinigen, die Intimhygiene übernehmen. Gemäss Umfragen würden weit über die Hälfte der zu Pflegenden den Roboter vorziehen – aus Schamgefühl. Mit dem Roboter würde der Pflegerin ganz viel erspart bleiben. Jetzt hat sie endlich Zeit, wofür sie bisher keine Zeit hatte. Nämlich für das Wichtigste. Zuneigung, Interesse, Ermutigung, Beziehung. Das menschliche Hirn ist eine schlechte Rechnungsmaschine, es ist ein Sozialorgan.

 

faktuell.ch: Soziale Fähigkeiten sind in der Medizin, der Pflege wichtig. Wie sieht es in Berufen aus, bei denen mathematische Fähigkeiten im Zentrum stehen?

 

 Ludwig Hasler: Ich hatte kürzlich mit Architekten zu tun. Die haben heute schon eine Entwurfs-Software, die der Qualität eines durchschnittlichen Schweizer Architekten ziemlich gut entspricht. Aber die Software schafft das in zehn Minuten! Da fragen die Architekten, was um Gottes Willen sie denn jetzt tun sollen. Meine Antwort: «Denken! Jetzt kommen Sie mal zum Denken. Wenn ich so durch die Gegend gehe, sieht für mich nämlich nicht jeder Bau durchdacht aus. Denken Sie also über den Menschen nach. Was braucht der Mensch um zufrieden zuhause zu sein?» Es fragt sich generell, was ein Mensch braucht, um seine soziale Natur in Hochform zu bringen. Nehmen wir den Banker. Fintech (digitale Finanzdienstleistungen) macht heute zwei Drittel aller Finanzgeschäfte. Braucht’s da überhaupt noch einen Menschen in der Bank? Ja – wegen des Vertrauens! Aber dieser Mensch muss wirklich menschlich sein, das Gegenteil einer Maschine. Heute sind wir in der Ausbildung immer noch auf dem Trip, den Menschen möglichst zu einer perfekten Maschine zu machen. Nein, sage ich. Wir müssen Anti-Maschine werden. Das wäre für mich wirklich eine Zukunft.

 

 faktuell.ch: Noch läuft es anders: Kundenkontakte finden zunehmend über Internet statt, Kundenanfragen werden von der elektronischen Assistentin bearbeitet. Es besteht die Gefahr, dass vor allem ältere Menschen vom sozialen Leben ausgegrenzt werden.

 

 Ludwig Hasler: Ich glaube, dass schon wieder eine Umkehr stattfindet. Der Kanadier David Sax hat ein tolles Buch geschrieben: «Die Rache des Analogen – warum wir uns nach realen Dingen sehnen». Er listet auf, was wieder im Kommen ist. Beispielsweise Vinyl-Schallplatten. Der Renner im letzten Weihnachtsgeschäft waren Werkzeugkisten. Wieder etwas von Hand machen. Interessant finde ich auch, dass die grossen Autobauer mit durchautomatisierter Fertigung wieder Leute anstellen. Begründung: Die Automatisation sei unfähig, sich zu entwickeln. Ein Roboter kann aus Erfahrung zwar lernen, aber er ist nie unzufrieden. Weshalb soll eine Blechkiste unzufrieden sein?

Der Roboter hat keinen Körper. Er weiss nichts von seiner Endlichkeit. Er weiss nicht, dass er übermorgen entsorgt wird. Er war noch nie verliebt, er war noch nie betrunken, er weiss nichts. Er ist ein perfekter Idiot. Dass dieser Roboter uns überflügeln sollte, ist absoluter Schwachsinn. Natürlich ist seine Rechenleistung grösser. Logisch. Obschon das menschliche Hirn ein absolutes Unikum ist im ganzen Kosmos, soweit wir ihn kennen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Wir haben 86 Milliarden Hirnzellen. Was wäre, wenn Vollbeschäftigung herrschen würde? Das wäre unglaublich. Die grösste künstliche Intelligenz hat eine Milliarde Neuronen, braucht aber ein halbes Atomkraftwerk Energie, um sich in Gang zu halten. Wissen Sie, was Ihr Hirn braucht? 20 Watt. Das ist das Geheimnis. Und das ist nur wegen des Körpers. Das heisst wir müssen «verkörperlichen», versinnlichen, wenn wir eine Zukunft wollen. Nur als Körper Mensch ist der Mensch besser; als Rechenmaschine – vergessen Sie es!

 

 Zur Person: Dr. Ludwig Hasler,

Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim „St. Galler Tagblatt“, dann bei der „Weltwoche“. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schweizweit bekannt für seine Vorträge.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses faktuell-ch-Gespräch hat im Mai 2017 stattgefunden.)

 


Stefan C. Wolter: "Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45"

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Bildungsökonom

 

faktuell.ch: Wir haben ein vorbildliches duales Bildungssystem in der Schweiz. Aber jährlich bleiben 10'000 Lehrstellen unbesetzt. Es entsteht der Eindruck, dass es Schülerinnen und Schüler reihum an die Universität zieht. Wie ist es tatsächlich, Herr Wolter?

 

Stefan Wolter: Die aktuelle Lehrstellenlücke ist vor allem eine demographische Konsequenz. Was den Sog an die Universitäten anbelangt, so ist festzuhalten, dass die Maturaquote in den letzten 20 Jahren praktisch unverändert geblieben ist. Von anfangs 1980er bis Mitte 1990er-Jahre stieg sie stark an und verdoppelte sich von 10% auf 20%, weil die Mädchen auf- und dann sogar überholten. Seit diesem Anstieg schwankt die Maturaquote immer um die 20%. Eintrittsticket an Uni ist die Maturität und die wird gesamtschweizerisch immer noch restriktiv vergeben.

 

faktuell.ch: Sie haben 2015 eine gross angelegte Bevölkerungsumfrage zu Bildungswünschen und -aspirationen durchgeführt...

 

Stefan Wolter: … wir haben 6000 Leute befragt. Wir wollten wissen, was sie für die ideale Ausbildung ihres Kindes halten.

 

faktuell.ch: Mit welchem Ergebnis?

 

Stefan Wolter: Zu meiner Überraschung schlägt die Lehre die Universität! Der Berufsbildungsweg ist immer noch «Number One» in der Schweiz.

 

faktuell.ch: Sinkt der Leistungsanspruch bei der Maturität, damit möglichst viele Jugendliche die Zulassung erhalten, wie böse Zungen behaupten?

 

Stefan Wolter: Die Quoten sind ja wie erwähnt stabil geblieben, damit kann nicht von einem sinkenden Leistungsanspruch ausgegangen werden. Zudem verfügen wir auch nicht über Leistungsmessungen über die Zeit, d.h. niemand kann es wissen. Was wir aber in unseren Bildungsberichten immer wieder thematisieren – ist der Umstand, dass zu einem zu grossen Teil die Falschen ans Gymnasium gelangen. Für Eltern mit guter Ausbildung, für Akademiker gibt es für den Nachwuchs tatsächlich nichts anderes als die Universität. Auch wenn das Kind die Leistungen nicht bringt, muss es trotzdem auf Biegen und Brechen an die Universität.

 

faktuell.ch: In welcher Grössenordnung setzen ehrgeizige Eltern privates Geld ein, um ihren Nachwuchs für die Uni fit zu machen?

 

Stefan Wolter: Mit Geld beziffern lässt sich das nicht. Wir wissen aber seit kurzem, wie viel Kinder Nachhilfeunterricht nehmen. Im 8./9. Schuljahr ist es ein Drittel. Das ist viel! Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler braucht sogar Langzeit-Nachhilfe. Da ist eine sozioökonomische Abhängigkeit klar vorhanden. Die Intensität des Nachhilfeunterrichts ist in jenen Kantonen besonders hoch, in denen der Zugang zum Gymnasium noch über Prüfungen und Vorschlagsnoten reglementiert wird. In den Kantonen, in denen der Zutritt am grünen Tisch entschieden wird, sagt man einfach „Ich will ins Gymnasium“, dann kommt man ins Gymnasium und braucht auch keine Nachhilfestunden. Im ersten Jahr fällt man dann allerdings schon durch oder muss repetieren. Ähnlich wie beim Medizinstudium. Da kennen die Deutschschweizer Kantone den Numerus Clausus mit Eignungstest und an den Westschweizer Universitäten kann jedermann studieren, wird aber spätestens nach dem zweiten Jahr rausgeschmissen, wenn er oder sie es nicht bringt.

 

faktuell.ch: Volkswirtschaftlich nicht gerade sinnvoll?

 

Stefan Wolter: Jaaa… darüber gibt es viele Diskussionen. Die Universitäten Genf und Lausanne begründen dieses Vorgehen damit, dass es gerechter sei, wenn ein Student ein Jahr lang seine Eignung unter Beweis stellen kann als nur beim eintägigen Test. Für mich sind allerdings die Kosten für ein Jahr verlorene Zeit zu hoch!

 

faktuell.ch: Wie sieht es in der Bildung mit der Chancengleichheit aus.
Reicht die Förderung der Lehrerschaft, Kinder aus einem nichtakademischen, gar bildungsfernen Elternhaus eine tertiäre Ausbildung zu vermitteln?

 

Stefan Wolter: Chancengerechtigkeit ist, wie bereits beim Zugang zum Gymnasium erwähnt, leider noch nicht überall gegeben. Allerdings sind unterschiedliche Bildungswege nicht nur auf Probleme bei der Chancengerechtigkeit zurückzuführen, es gibt auch Unterschiede bei den Bildungsaspirationen und –wünschen. So sind beispielsweise Erstgenerations-Ausländer mit unserem Bildungssystem noch wenig vertraut und orientieren sich nach dem Herkunftsland. Selbst Eltern, die auch aus Ländern mit einer Berufsbildungstradition kommen, müssen deswegen auch eine Präferenz für die Schweizer Lehre haben. Unsere Daten zeigen beispielsweise, dass gerade deutsche Einwanderer ihre Kinder gar nicht in die Lehre schicken wollen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Abiturquote in Deutschland sich der 50% Marke nähert, d.h. dort ist die Lehre schon ein Auslaufmodell. Wenn der Weg zum staatlichen Gymnasium verbaut ist, dann haben die Eltern das Geld, um eine private Alternative zu zahlen. Und das tun sie auch!

 

faktuell.ch: Welche Ausbildung rentiert volkswirtschaftlich am meisten?

 

Stefan Wolter: Das hängt von der Sichtweise ab. Aus fiskalischer Sicht lautet die Frage: Wer zahlt am meisten zurück von dem was in seine Ausbildung investiert wurde. Aus persönlicher Sicht: Rentiert sich die Ausbildung für mich? Die private Rendite bezogen auf die Bildungsjahre ist momentan bei Fachhochschulen und bei höherer Berufsbildung am höchsten. Denn die Ausbildungsgänge sind in einer relativ kurzen Zeit absolviert und es lässt sich damit ein gutes Einkommen generieren. Die Uni schneidet schlechter ab, nicht weil die Löhne absolut gesehen tiefer liegen, sondern weil man viel mehr Bildungsjahre gebraucht hat, um den erwarteten Lohn zu erzielen. Kurz: Mit einem Bachelor an einer Fachhochschule kann man praktisch dasselbe Einkommen erzielen wie mit dem Master an einer Universität.

 

faktuell.ch: Was raten Sie einem jungen Menschen, der möglichst schnell möglichst viel verdienen will?

 

Stefan Wolter: Bezüglich des Studienfachs kann ich keine grossen Ratschläge machen, da kennen wir die Löhne nur bis fünf Jahre nach dem Abschluss. Aber das ist gerade in einer akademischen Laufbahn noch nicht das Ende der Geschichte. Die akademischen Studiengänge lohnen sich erst so richtig ab Alter 45. Zwischen 25 und 45 liegt man mit dem Lohn unter oder auf gleicher Höhe wie mit anderen tertiären Abschlüssen. Dann werden die Einkommen höher bis zur Pensionierung. Aber mit diesen Kenntnissen können wir keine Ratschläge für eine Lebensperspektive geben.   

 

faktuell.ch: Warum werden nicht nur Studiengänge finanziert, von denen Wirtschaft und Staat profitieren können?

 

Stefan Wolter: Man weiss jeweils nur aus Vergangenheitsbetrachtung, was rentiert hat. Zu meiner Zeit wäre Linienpilot bei der Swissair wohl das non plus ultra gewesen. Piloten hatten eine Villa und gingen früh in Pension. Auch Journalist war ein gut bezahlter und angesehener Beruf. Aber an den Beruf des Informatikers dachte man damals nicht im Ansatz. Es entstehen also immer neue Berufe, die beim Studieneintritt noch gar nicht auf dem Radar waren oder von denen man noch nicht wusste, wie vielversprechend sie sein würden. Und Berufe, die super aussahen, versinken in die Bedeutungslosigkeit. Nichts gegen Piloten, aber heute sagt man „fliegende Tramchauffeure“...

 

faktuell.ch: … und der Nimbus schwindet…

 

Stefan Wolter: … auch noch. Man muss aber in der Beurteilung auch berücksichtigen, dass viele Studiengänge gar nicht eindeutig mit einem Beruf verbunden sind. Jemand kann Philosophie mit Schwerpunkt Logik studieren – ein schwieriges Gebiet. Was damit nach dem Studium anfangen? Finanzanalyse wäre eine Möglichkeit. Damit verdient sich ein Haufen Geld und die Tätigkeit ist der Gesellschaft und Wirtschaft auch dienlich. Das Studienfach allein entscheidet also nicht über den beruflichen Erfolg. Was konkret aus unseren Daten hervorgeht: Geistes- und Sozialwissenschaftler haben eine heterogenere Verteilung des Erfolgs nach dem Studium. Jobs für diese Leute sind begrenzt. Nur wer ausgezeichnet abgeschnitten hat, erhält geeignete Arbeit. Dann allerdings verdient er gleich viel wie jemand, der Naturwissenschaften oder exakte Wissenschaften studiert hat. In diesen Fächern haben auch Studienabsolventen recht gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt wenn sie im Studium schlecht abgeschnitten haben. Geistes- und Sozialwissenschaften führen somit nicht per se zu schlechten Arbeitsmarktergebnissen, sondern sind nur mit einem höheren Risiko behaftet nicht dort und zu den Bedingungen arbeiten zu können, wie man sich dies bei der Studienwahl vorgestellt hatte…

 

faktuell.ch: ... beispielsweise in der Bundesverwaltung zu arbeiten?

 

Stefan Wolter: Tatsächlich ein wichtiger und interessanter Punkt! Der grösste einzelne Arbeitgeber für Akademiker ist der Staat. Der Staat beschäftigt Akademiker praktisch aller Studienfächer. Er zeichnet sich gegenüber der Privatwirtschaft aber dadurch aus, dass man bei ihm i.d.R. kleinere Bildungsrenditen erzielt. Das hat damit zu tun, dass der Staat eine viel kleinere Lohnspreizung hat als die Privatwirtschaft. Mit andern Worten: Wenn der Staat in die Studienwahl eingreifen würde, in dem er beispielsweise die gesamten Studienkosten auf die Studierenden überwälzen würde, müsste er auf der Lohnseite aktiv werden. Sonst würden ihm aufs Mal die Leute fehlen, die er selbst anstellen will. Der ehemalige Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, Hansueli Stöckling pflegte dazu jeweils sinngemäss zu sagen: „Wenn der Staat die Studienkosten dem Studenten anhängen würde, dann könnte er keinen Veterinär mehr einstellen.“ Und das stimmt heute noch.

 

faktuell.ch: Die CS hat eine Studie in Auftrag gegeben, die Aufschluss über die Lebensweise junger Menschen gibt. Wichtig sind für sie Geld, Status und Konsum. Die Jugendlichen wollen später im Beruf zwar viel Geld, aber auch viel Freizeit. Wenn der Chirurg nur 50% arbeitet, um viel Quality Time mit seinen Kindern zu verbringen, dann wird sich die staatliche Investition in seine Ausbildung nie lohnen. Wie lässt sich das Problem lösen?

 

Stefan Wolter: In der Schweiz ist die fiskalische Rendite für praktisch alle Ausbildungstypen positiv. Wenn der Staat einem jungen Menschen die tertiäre Ausbildung bezahlt und der nach dem Ausbildungs-Abschluss Vollzeit arbeitet, dann muss sich die Gesellschaft keine Sorgen machen. Sie kann auch einem Studenten aus gutem Haus die Ausbildung finanzieren, weil sie über Steuern, insbesondere die Steuerprogression, alle ihre Investitionen mit Zins und Zinszinsen zurückerhält. Wenn ein Studien-Absolvent aber nicht Vollzeit arbeitet, dann ist es für den Staat und somit auch die Gesellschaft schnell ein Verlustgeschäft.

 

faktuell.ch: Ausbildung ist doch ein Menschenrecht…

 

Stefan Wolter: … aber nicht alle haben den gleichen Zugang zu diesem Recht und wenn sich jemand seine Bildung von der Gesellschaft bezahlen lässt, und dann freiwillig darauf verzichtet, Vollzeit oder überhaupt zu arbeiten, dann überbürdet er die Bildungskosten der Gesellschaft ohne ihr etwas zurück zu geben. Damit käme es zu einer nicht vertretbaren Finanzierung von unten nach oben, die sicherlich nicht gerecht wäre.  

 

faktuell.ch: Weshalb nicht eine Bedingung an die Ausbildung knüpfen - wie bei den Militärpiloten. Die Ausbildung kostet eine Million und als Gegenleistung haben sie mindestens 5 Jahre bei der Luftwaffe zu dienen.

 

Stefan Wolter: Das wäre eine Möglichkeit. In andern Ländern wird sie schon praktiziert. In Australien häuft der Student ein virtuelles Schuldenkonto an und muss den vollen Betrag zurückbezahlen. Mit ungefähr 40 ist er dann schuldenfrei. Im kanadisch-amerikanischen Modell macht man es umgekehrt. Der Student trägt die Kosten von vorneweg und wenn er es sich nicht leisten kann, nimmt er einen Kredit auf. Ich bin gegen dieses Modell, weil es wieder zu einer Chancen-Ungleichheit führt. Abgeschreckt von den Schulden, verzichten viele auf ein Studium.

 

faktuell.ch: Wie sieht das übertragen auf die Schweiz aus?

 

Stefan Wolter: Noch bezahlt die Mehrheit in der Schweiz durch Arbeitstätigkeit ihr Studium zurück, also besteht meiner Meinung nach für die Mehrheit der Studierenden auch kein Handlungsbedarf. Aber man könnte eine Notfalllösung einführen und sagen, wer freiwillig nicht arbeitet, muss die Studienkosten akonto zurückzahlen. Das würde auch als Anreiz dienen zu arbeiten.

 

faktuell.ch: Paradox ist, dass wir in der Schweiz zu wenig Fachleute haben.

 

Stefan Wolter: Ja. Wir haben auf der einen Seite Leute, die ausgebildet sind, aber nicht arbeiten wollen, und auf andern Seite haben wir Fachkräftemangel. Bisher war das kein Problem, wir haben die Fachleute aus dem Ausland geholt. Wenn wir jetzt keine Ausländer mehr wollen, müssen wir das Problem anders lösen.

 

faktuell.ch: Ohne Diplome scheint heute nichts mehr zu gehen. Nehmen wir den Sozialbereich. Der Sozialarbeiter mit fürsorgerischer Frontarbeit ist – plakativ gesagt – ersetzt worden durch den Case-Manager auf dem Bürostuhl. Was bringt das den Klienten, der Gesellschaft?

 

Stefan Wolter: Man kann nicht am Berufsbedürfnis vorbei reglementieren. Die Berufe werden anspruchsvoller und durch die Ansiedlung auf tertiärem Niveau kann man auch deren Spektrum erweitern. Es reicht nicht mehr, dass man einen Sozialarbeiter ausbildet, damit er einen Jugendtreff leiten kann. Er muss eine Job-Perspektive haben, damit er – wenn er mit 40 genug vom Jugendtreff hat – auch in eine Kaderposition in einer Sozialbehörde aufsteigen kann. Dazu braucht er aber auch Kenntnisse von unserem Rechtssystem oder vom Personalwesen.

 

faktuell.ch: Das verhindert doch die Anstellung von Leuten, die eine Aufgabe mit natürlicher Affinität und gesundem Menschenverstand angehen. Warum kann der Sozialarbeiter den Jugendtreff nicht leiten so lange es ihm gefällt und dann einen Eignungstest für Weiterbildung machen?

 

Stefan Wolter: Unser Bildungswesen hat heute schon über die höhere Berufsbildung viele Möglichkeiten sich in einem Beruf ständig weiter zu qualifizieren. Daneben ist aber zu beachten, dass wir den Jugendlichen von heute mit der Berufsmaturität auch die Möglichkeit geben ohne sehr grosse Umwege zu einer tertiären Ausbildung zu gelangen, d.h. man muss auch Job-Profile schaffen, die auf diese jungen Leute zugeschnitten sind.

 

faktuell.ch: Aber ist es nicht so, dass die Berufe ohne Grund „verakademisiert“ werden?

 

Stefan Wolter: Ich denke nicht. Lassen Sie mich das am Beispiel der viel kritisierten Tertiarisierung des Lehrberufs machen: Auch wenn ein Primarlehrer oder eine Primarlehrerin einem Erstklässler „nur“ erste Schritte in Mathematik beibringen will, muss sie mehr mitbringen als „Ich habe es selber gelernt“. Schülerinnen und Schüler sind ganz unterschiedlich strukturiert. Nicht nur von ihren Fähigkeiten, sondern auch von ihrem Zugang zur Materie her. Die Lehrerin muss auf Meta-Ebene wissen, wie sie den unterschiedlichen Lern-Typen den Lerninhalt vermitteln muss. Wenn sie das nicht kann, lässt sie vielleicht mehr als die Hälfte der Schüler zurück. Und bevor sie denselben Lerninhalt unterschiedlich vermittelt, muss sie oder er noch Diagnostik beherrschen. Man muss herausfinden, welches Bedürfnis welcher Schüler hat: Hat ein Kind einen Lernrückstand? Braucht es besondere Zuwendung? Ist es hochbegabt und braucht einen zusätzlichen Lerninhalt? Dazu braucht man eine tertiäre Ausbildung.  Man kann die Lehrpersonen nicht mehr jahrzehntelang dem „learning by doing“ überlassen. Dann hätten sie bereits zu viele Jahrgänge potentiell mit „trial and error“ verloren.

 

faktuell.ch: Hat man sich vor 20, 30 Jahren mit einer nicht adäquaten Ausbildung zufrieden gegeben oder ist die Gesellschaft und damit die Bildung heute schlicht komplexer?

 

Stefan Wolter: Natürlich sind die Anforderungen komplexer geworden. Ich glaube aber eher, dass wir uns früher einfach mit weniger und schlechteren Ergebnissen zufriedengegeben haben. Dass Migranten im Unterricht nicht mitkamen, war eben weil sie Migranten waren und nicht, weil man die falsche Pädagogik und Didaktik anwendete oder falsch diagnostiziert hatte.

 

faktuell.ch: Im Gymnasium und an der Universität sind eigenständiges Lernen und damit Eigenverantwortung angesagt. Das heisst heute vorwiegend Informationsbeschaffung im Internet und via Social Media. Wie soll dies im so genannten postfaktischen Zeitalter noch möglich sein, in dem fake-news und Filterblasen – Facebook und Google zeigen dem Leser nur was seinem Weltbild entspricht – seriöse Information ersetzen?  

 

Stefan Wolter: Selbststudium gehört zur intellektuellen Entfaltung. Eigenständiges Lernen heisst aber nicht, dass die Studenten allein gelassen werden. Als Dozent muss ich ihre Defizite erkennen, sie anleiten, zur Eigenständigkeit erziehen. Der Zugang zum Wissen war noch in den 1980er-Jahren schwierig und teuer. Wissen war einer Elite vorbehalten und diese Elite hat uns mit dem ausgebildet was sie wusste und für richtig befand. Als Studenten waren wir unseren Professoren ausgeliefert. Und mehr oder weniger dazu verdammt zu glauben, was sie einem sagten. Das war ein Nachteil. Dem Nachteil der leicht zugänglichen Gratisinformation im Internet, dass sie falsch sein kann, steht der Vorteil gegenüber, dass leicht und schnell überprüfbar ist, ob auch stimmt, was ein Lehrer oder Dozent erzählt. Wenn ich bei einer Vorlesung einen Begriff verwende und ein Student mir sagt, Google meine dazu etwas Anderes, dann ist das nicht schlecht. Der Student setzt sich kritisch mit dem Thema auseinander und glaubt nicht einfach, was ich da vorne erzähle.

 

faktuell.ch: Welches ist denn heute die Hauptaufgabe der Lehrpersonen und der Dozierenden, wo sich die Schüler und Studenten die Informationen selbst besorgen können?

 

Stefan Wolter: Wir müssen ihnen beibringen, woran man richtige und falsche Information erkennt. Das ist mehr als nur „Medienerziehung“. Dazu würde ein Geschichtsstudent „Quellenstudium“ sagen. Also das Original finden und sich nicht auf ein Werk verlassen, das der Autor anhand unzähliger Quellen verfasst hat. Was früher nur Geschichtsstudenten leisten mussten, sollte heute jeder Student und jeder Bürger tun. Internet ist ein Riesenvorteil und diesen Vorteil erkauft man sich mit „noise“ – Informationen, die im Hintergrund herumschwirren und in denen viele Fehler stecken. Ich habe heute also hohe Kosten, weil ich herausfinden muss, was stimmt, dafür finde ich die Informationen deutlich schneller.

 

faktuell.ch: Welches ist denn die wichtigste Kompetenz, die Studierende brauchen, um sich im Bildungswesen durchsetzen zu können?

 

Stefan Wolter: Die heutige Forschung sagt, dass es die gleichen Fähigkeiten sind, die man auch sonst im Leben und bei der Arbeit braucht:  eine hohe Aufmerksamkeitsspanne und Hartnäckigkeit. Das sind Fähigkeit, die man üben muss und kann, sie sind nicht einfach angeboren.

 

faktuell.ch: Junge Menschen wollen Geld, Konsum und Status. Karriere macht sich vorzugsweise global, am besten im Silicon Valley. Die Schweiz finanziert das Studium, hat aber nichts davon. Wie sehen Sie das?

 

Stefan Wolter: Momentan sind wir eher die Netto-Gewinner beim globalen Braindrain, d.h. wir haben ein „Braingain“. Mehr Ärzte, die in einem anderen Land für Millionen ausgebildet worden sind, kommen in die Schweiz, um zu arbeiten, als beispielsweise Schweizer Ärzte auswandern.

 

faktuell.ch: Aber wie steht es mit dem Ehrgeiz der Schweizer Uni-Absolventen, im Silicon Valley rasch Millionär zu werden?

 

Stefan Wolter: Ehrzeiz ist nicht schlecht und Informatikausbildung auch nicht, aber das Silicon Valley ist wie das Hollywood der Wirtschaft. Für die meisten nur ein Traum. Nur wenige schaffen es. Im Silicon Valley gibt es ein grosses Proletariat, über welches die Medien wenig berichten. Jugendliche und auch ihre Eltern sehen häufig nicht, dass man eher im Lotto gewinnt als dort Millionär wird.

 

faktuell.ch: Und was ist mit den Jugendlichen, die es auch ohne Ausbildung zu Ruhm und Reichtum bringen wollen?

 

Stefan Wolter: Wir haben TV-Sendungen wie «Die Schweiz sucht den Superstar». Das sind bildungsmässig desaströse Programme. Denn es wird den Leuten vorgegaukelt, dass man es auch ohne Ausbildung – sei es in dem gewünschten Fach oder allgemein – an die Spitze schaffen kann. Lehrerinnen und Lehrer versuchen täglich zu vermitteln, dass im Leben nichts aus einem wird, wenn man nicht lernt. Diese Botschaft wird ständig konterkariert mit medial vermittelten Beispielen von Leuten, die es ohne Bildung zu etwas bringen. Sicher, man kann sozial und finanziell auch ohne Bildung Erfolg haben, nur ist die Wahrscheinlichkeit winzig klein.  

 

faktuell.ch: Eine neue Herausforderung ist die Migration. Welche Art von Bildungsoffensive ist angesagt, um Analphabeten und Verweigerer, aktuell zum Beispiel muslimische Frauen, marktfähig zu machen?

 

Stefan Wolter: Bei der legalen Arbeitsmigration sehen wir eine Polarisierung. Wir sehen eine Einwanderung von mehr als doppelt so vielen unqualifizierten Leuten als wir sie schon im Land haben. Gleichzeitig haben wir auch eine viel grössere Anzahl sehr gut ausgebildeter Migranten, aber die Mitte fehlt. Das ist verständlich. Unten holen wir Leute rein für Arbeiten, die wir selber nicht machen wollen. Oben holen wir Spezialisten rein für Funktionen, die uns fehlen. Statt zehn Jahre zu warten, bis wir die Spezialisten selber ausgebildet haben, nehmen wir sie aus dem Ausland. Hingegen das mittlere Spektrum der Qualifikationen können wir gut im Inland abdecken und haben wenig Bedarf nach Ausländern.

 

faktuell.ch: Und was bedeutet dies für die Ausbildung?

 

Stefan Wolter: Da gibt es eine Polarisierung. Die „unten“ haben das Gefühl, dass ihnen die Ausländer die Arbeitsplätze wegnehmen, und „oben“, an der Zürcher Goldküste, stöhnen Schweizer Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr ins Gymnasium können wegen der Migranten.

 

faktuell.ch: Dann haben wir die Flüchtlinge, die Asylbewerber…

 

Stefan Wolter: … die aktuelle Flüchtlingskrise ist glücklicherweise noch nicht ein sehr grosses Problem für die Schweiz. Was daraus noch wird, ist aber schwierig abzuschätzen. Jede Flüchtlingsgeneration nach dem 2. Weltkrieg hat sich komplett unterschieden. Tibeter, Ungarn, Tschechen, Tamilen in den 80er-Jahren, die Vertriebenen nach dem Kosovo- und Exjugoslawien-Krieg, heute arabische Flüchtlinge aus dem Raum Syrien, afrikanische Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea. Der Ausbildungsbedarf war bei jeder Flüchtlingswelle anders, ebenso die Motivation der Leute. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gab es früher nicht. Ich sehe das Problem, dass wir wenig von der Erfahrung, die wir mit früheren, grösseren Flüchtlingsströmen machten, auf die heutige Situation übertragen können – eben weil sich die Art der Flüchtlinge unterscheidet. Eine kulturelle Integration ist sicher das A und O. Aber nicht alle haben die Absicht, länger als nötig hier zu bleiben.

 

faktuell.ch: Integration erfolgt in erster Linie über die Sprache. Die Ressourcen sind allerdings beschränkt. Im Kanton Zürich hat die Bildungsdirektion beschlossen, die Mittel für Deutsch- und Analphabeten-Kurse per 2017 für drei Jahre zu streichen. Sparmassnahmen! Was halten sie davon?

 

Stefan Wolter: Das kann ich nicht verstehen. Die Sprache ist nicht nur wichtig für die Integration, sondern auch zur Verhinderung einer Ghettoisierung. Die Integration gelingt am besten dort, wo die Leute möglichst fern von Landesgenossen angesiedelt werden, weil sie die Landessprache und Landesbräuche schneller lernen. So viel weiss man aus der Literatur über Migrantenströme. Wenn die Sprachbindung wegfällt, provoziert man einen Druck, die neue Sprache zu lernen. Es gibt auch keinen Beruf mehr, den man ohne Sprache ausüben kann. Auch so genannt unqualifizierte Berufe sind sprachlastig.

 

faktuell.ch: Was zeigt die Erfahrung?

 

Stefan Wolter: Ich habe schon vor 20 Jahren, als ich noch Chefökonom im BIGA war, Probleme mit Jugendlichen gehabt, die einen schlechten Sprachhintergrund hatten. Ein paar Jahre nach dem Jugoslawienkrieg waren sie in der Schweiz, fanden keine Lehrstelle und wir meinten, sie könnten doch etwas Unqualifiziertes machen, zum Beispiel Gleisarbeiter bei der SBB. Da sagte uns der SBB-Vertreter: “Und was ist, wenn ich denen sage, wenn ein Zug kommt, winke ich dann mit einem roten Fähnli und die verstehen mich nicht?“ Wir haben uns auch gesagt, Industriearbeiter könnten Leute ohne Kenntnisse der Landessprachen werden, weil die ja nur bestimmte Handgriffe zu machen haben. Schon wieder lagen wir falsch. „Nein“, lautete der Bescheid, „wir haben Schichtwechsel oder Produktionswechsel, dann steht das im Aushang. Als Firmenchef kann ich die Leute nicht in 40 Sprachen bedienen.“

 

faktuell.ch: Welchen volkswirtschaftlichen Beitrag leisten eigentlich die verschiedenen Generationen im Vergleich – Vorkriegsgeneration, 68iger, Babyboomer, Millennials?

 

Stefan Wolter: Es fragt sich, ob diese Generationen nur eine Erfindung der Journalisten sind. Wissenschaftlich gesehen gibt es die nicht. Kulturelle Verschiebungen in den Jahrgängen sind unbestritten. Aber ich glaube nicht, dass man Leute aufgrund ihres Geburtsjahres homogen beurteilen kann. Klar ist, dass der Mensch durch das geformt wird, was er erlebt. Wenn jemand seine Bildungsentscheidung in einer Zeit der Rezession treffen muss, tut er dies anders als derjenige, der sich in einer Zeit entscheidet, in der wirtschaftlich Milch und Honig fliesst, und er damit rechnen kann, dass jeder Entscheid zum Erfolg führt. Das kann schon ganze Generationen prägen und auch längerfristige Auswirkungen haben.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Stefan C. Wolter

Ist seit 1999 Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und somit auch für die Bildungsberichterstattung der Schweiz zuständig. Er leitet auch die Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern und unterrichtet als ständiger Gastdozent auch an der Universität Basel. Wolter vertritt die Schweiz seit 1995 in verschiedenen Gremien der OECD und ist seit 2011 Präsident von deren Expertengruppe für Berufsbildung.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Dieses Gespräch fand im November 2016 statt)


Martina Bircher: "Wer in Eritrea ohne Ausbildung an Motoren rumgeschraubt hat, findet hier in einer Garage keine Arbeit."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Martina Bircher, als Gemeinderätin der 7500-Personen-Gemeine Aarburg im Kanton Aargau zuständig für Soziales, Gesundheit und Jugend.

faktuell.ch: Frau Bircher, 200 der 400 Sozialhilfebezüger Ihrer Gemeinde sind Flüchtlinge – 170 aus Eritrea. Auf dem Papier sieht es so aus, als ob die Asylverordnung des Bundes bis hin zum Fingerabdruck jede Ausgabe mit Bundesgeld abdeckt. An sich sollten Sie zumindest finanziell sorgenfrei sein, solange der Bund zahlt. Sind Sie aber nicht – warum?

 

Martina Bircher:  Der Bund kommt für die ersten 5 respektive 7 Jahre ab Einreise in die Schweiz für diese Personen auf – aber nicht für alles. So ist es nicht. Die grosse Herausforderung sind die Kinder. Sobald die Eltern in Aarburg Wohnsitz haben, sind wir auch für die Kinder zuständig. Wir haben beispielsweise eine Familie mit zwei fremdplatzierten Kindern. Kosten pro Kind und Monat: 7000 Franken. Da sind uns die Hände gebunden. Wir haben einfach die 14‘000 Franken zu bezahlen.

 

faktuell.ch: … „fremdplatziert“ verursacht offenbar Kosten wie in einem Pflegeheim…

 

Martina Bircher: … genau.

 

faktuell.ch: Warum wurden die Kinder fremdplatziert?

 

Martina Bircher: Das wissen wir nicht. In der vorherigen Wohngemeinde muss die Kesb so entschieden haben.

 

faktuell.ch: Wie wurde Ihre Gemeinde als neue Wohngemeinde ausgewählt?

 

Martina Bircher: Es handelt sich um anerkannte, resp. vorläufig aufgenommene Flüchtlinge und die haben freie Wohnungswahl. Wenn sie einen Mietvertrag in Aarburg haben, sind sie hier registriert. In diesem spezifischen Fall sind die fünf Jahre noch nicht abgelaufen, bis dahin können wir die Kosten weiter an den Kanton verrechnen.

 

faktuell.ch: Sehen wir uns den Kreislauf an: Menschen kommen in die Schweiz, stellen einen Asylantrag, erhalten Status N und werden auf die Kantone verteilt. Der Kanton verteilt sie weiter an die Gemeinden, wo sie in einem Asylzentrum leben. In Aarburg ist dies eine Kantonsunterkunft. Sie haben also weder Kosten noch Aufwand…

 

Martina Bircher: … doch, wir haben als Gemeinde das Problem, dass die Kinder sofort die Schule besuchen müssen und kein Wort Deutsch sprechen. Wir haben auch zu wenig Schulraum. Unser Asylzentrum ist eine Familienunterkunft und hat 90 Plätze. Da kann es sein, dass aufs Mal zehn Kinder im gleichen Jahrgang sind, was dann eine zusätzliche Klasse erfordert, für die wir Raum, Schulbücher, Pulte, Stühle und Lehrer bezahlen müssen. In dieser Hinsicht werden wir als Gemeinde vom Kanton allein gelassen.

 

faktuell.ch: Die Kantone erhalten vom Bund im Schnitt je Flüchtling und Monat pauschal rund 1500 Franken, als ca. 50 Franken pro Tag. Davon erhalten die Gemeinden etwas mehr als 30 Franken – für Unterbringung, Sozialhilfe und Betreuung. Reicht das bei Ihnen nicht?

 

Martina Bircher: Nein. Der Bund zahlt immer Pauschalbeträge, die er regional nach den unterschiedlichen Wohnkosten berechnet und die reichen selten aus.

 

faktuell.ch: Was kommt hinzu?

 

Martina Bircher: Deutschkurse – viele müssen zuerst das Alphabet lernen –, Kinder, Fremdplatzierungen, Familienbegleitung etc. Die Differenz bezahlt bei uns die ersten 5/7 Jahren der Kanton und dann die Wohngemeinde. Neu müssen wir als Gemeinde ab dem nächsten Jahr die Sozialhilfe zunächst voll selber bezahlen. Die Ausgaben fliessen dann in die Berechnung ein, wieviel uns aus dem kantonalen Finanzausgleich zusteht. Gegenwärtig ist es so, dass wir als Gemeinde mit vergleichsweise extrem hohen Sozialhilfe-Lasten fast 50 Prozent der Kosten vom Kanton zurückerhalten. Gemeinden, die weniger Sozialhilfebezüger haben, erhalten keine Rückvergütungen.

 

faktuell.ch: Klingt alles heillos kompliziert. Wann kommen die Ansätze gemäss den sogenannten Skos-Richtlinien hinzu?

 

Martina Bircher: Wer anerkannter oder vorläufig aufgenommener Flüchtling ist, hat innerhalb des Kantons freie Wohnungswahl. Er meldet sich an, bezieht eine Wohnung und ab diesem Zeitpunkt ist er jedem Schweizer in Sachen Sozialansprüche gleichgestellt. Er erhält nicht mehr wie in der Asylunterkunft 7 bis 9 Franken pro Tag, sondern 1000 Franken pro Monat nach Skos-Richtlinien. Und jetzt finanziert ihm der Bund via Kanton eine einmalige Integrationspauschale von 6500 Franken.

 

faktuell.ch: Damit die Integration Fortschritte machen kann, fordert die Skos eine Verdreifachung der Integrationspauschale. Darüber können Sie sich freuen.

 

Martina Bircher: Alle wissen, dass die meisten Flüchtlinge mit grösster Wahrscheinlichkeit in der Schweiz bleiben werden. Deshalb sollen die Integrationsbemühungen verstärkt werden. Daran ist soweit nichts auszusetzen. Das Problem sehe ich in der hohen Anerkennungsquote. Das Staatsekretariat für Migration anerkennt rund 60 Prozent der Asylbewerber als vorläufig aufgenommene Flüchtlinge oder als Flüchtlinge. Und weitere 20 Prozent erhalten den Status als vorläufig aufgenommene Ausländer. Aber auch die werden nicht in ihre Heimat zurückgehen.

 

faktuell.ch: Was hält „den Flüchtling“ davon ab?

 

Martina Bircher: Der anerkannte Flüchtling bleibt, weil er relativ schnell eine Niederlassungsbewilligung erhält, der vorläufig aufgenommene Flüchtling kann nach fünf Jahren in der Schweiz das Gesuch stellen, als Flüchtling anerkannt zu werden, und bleibt also auch. Der vorläufig aufgenommene Ausländer kann nach 5 Jahren ein Härtefallgesuch stellen und dann wird auch er als Flüchtling anerkannt.

faktuell.ch: Sind die unterschiedlichen Ausweise folglich gar sinnlos?

 

Martina Bircher: Sehr speziell finde ich, dass die Eritreer als Flüchtlinge anerkannt werden und den B-Ausweis erhalten. Die Begründung lautet, dass jeder von ihnen persönlich an Leib und Leben bedroht ist. Syrer sind vorläufig aufgenommene Flüchtlinge mit F-Ausweis. Diesen Status sieht der Bund für Leute aus Kriegsgebieten vor, die bis Kriegsende hier in Sicherheit leben und sich dann in der Heimat am Wiederaufbau beteiligen können. Iraker und Afghanen sind vorläufig aufgenommene Ausländer, ebenfalls mit F-Ausweis, die man nicht zurückschicken kann, weil sie das Land nicht mehr aufnimmt...

 

faktuell.ch: … und wie wirkt sich das auf Ihre Gemeinde aus?

 

Martina Bircher: Beim anerkannten Flüchtling, Status B, ist die Sozialhilfequote am höchsten, weil er auf Familiennachzug Anrecht hat, auch wenn er von der Sozialhilfe lebt. Der vorläufig aufgenommene Flüchtling, Status F, kann nur Familiennachzug (Eltern, Ehepartner, Kinder) geltend machen, wenn er nicht mehr von der Sozialhilfe lebt. Für ihn ist der Anreiz zu arbeiten folglich grösser. Das spüren wir bei uns.

 

faktuell.ch: Wie lang kann Aarburg die Flüchtlingsausgaben noch stemmen?

 

Martina Bircher: Ohne Finanzausgleich wäre Aarburg bereits heute zahlungsunfähig. Wir geben für Sozialhilfe im Jahr durchschnittlich fünf Millionen Franken aus.

 

faktuell.ch: Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

 

Martina Bircher: Die Sozialhilfeausgaben werden steigen. Eritreer stellen am meisten Gesuche und haben die höchste Anerkennungsquote. 2007 wohnte kein einziger eritreischer Flüchtling in Aarburg, heute sind es mit Zuzug und Geburten 170.

 

faktuell.ch: Wie viele von ihnen arbeiten?

 

Martina Bircher: Zehn Prozent. Vorwiegend alleinstehende Männer. 90 Prozent leben von der Sozialhilfe. Angeblich waren sie in Eritrea alle Schafhirten. Es fehlt generell an brauchbaren Qualifikationen. Wer in Eritrea ohne Ausbildung an Motoren rumgeschraubt hat, findet hier in einer Garage keine Arbeit. Unsere Automechaniker sind halbe Informatiker.

 

faktuell.ch: In jüngster Zeit sind die Hilfswerke in die Kritik geraten, die bis zum Wechsel aus der Bundesobhut mit der Betreuung der Asylanten mandatiert werden.

 

Martina Bircher: Hilfswerke sind keine Institutionen, die den Leuten auf die Füsse treten, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Dass die Hilfswerk-Mitarbeitenden immer helfen wollen, ist ja schön und gut, aber gerade bei den Eritreern funktioniert meist nur autoritäres Auftreten, „Könntest du“ und „Würdest du“ funktioniert nicht, weil sie das in Eritrea wohl auch nicht kennen.

 

faktuell.ch: Wenn die Leute von den Hilfswerken übergeben werden, wäre es zielführend, sie wären RAV-fähig.

 

Martina Bircher: Sind sie aber nicht! Beim RAV wird ein gewisses Deutsch-Niveau erwartet. Erst wenn es – zertifiziert – vorhanden ist, kann man jemanden überhaupt erst anmelden. Und solange man jemanden dort nicht anmelden kann, findet er auch keinen Job. Von 172 Eritreern ist bei uns gerade mal einer beim RAV angemeldet. Deshalb macht unser Sozialamt jetzt mit jedem Flüchtling eine Zielvereinbarung. Ein erstes Ziel kann sein, dass der Flüchtling jeden Tag den Deutschkurs besucht. Oder dass er pünktlich ist. Dann hat man ein erstes Feedback und weiss, in welcher Klasse er ist und wann wir ihn beim RAV anmelden können.

 

faktuell.ch: Stichwort „Mentalitätsunterschiede“. Wie sieht es damit zum Beispiel vor dem Hintergrund der Integration in den Arbeitsprozess bei Eritreern und Syrern aus?

 

Martina Bircher: Als wir in Aarburg vor einiger Zeit auf öffentlichem Boden Abfall einsammelten, führte ich eine Gruppe von Eritreern und Syrern aus dem Asylzentrum. Die Syrer arbeiteten und die Eritreer fanden das Ganze eher lustig und hatten einfach den Plausch. Bei den Syrern gibt es dafür andere Probleme: Das Frauenbild. Bei dieser Abfall-Aktion kamen auch Frauen mit. Aber nur die Männer hoben den Abfall mit der Zange auf, die Frauen gingen neben ihnen her.

 

faktuell.ch: Flüchtlinge befinden sich in einer Notsituation. Kann man sie nicht dazu anhalten, den Kinderwunsch etwas zurückzustellen?

 

Martina Bircher: Dreinreden dürfen wir nicht. Immerhin erhalten die Frauen im Kanton Aargau die Pille gratis. Nach der Geburt eines Kindes schicken wir die Eltern in eine Väter- und Mütterberatung, wo Verhütung auch immer ein Thema ist. Es werden auch Schwangerschaftsvorbereitungs-Kurse angeboten – in allen Sprachen. Aber eben, wir haben es mit einer andern Mentalität zu tun. In Afrika sind Kinder statt einer AHV die Altersvorsorge. Hinzu kommt, dass hier in der Schweiz mehr Kinder die Position innerhalb der Sozialhilfe verbessern. Es gibt mehr Geld und man ist vor Sanktionen geschützt. Wenn wir einem Paar mit vier, fünf Kindern die Beiträge kürzen wollen, weil sie sich nicht an die Regeln halten, dann gilt das nicht für die Kinder. Kürzen dürfen wir nur den Erwachsenen.

 

faktuell.ch: Nach den neuen SKOS-Richtlinien wird ab sechs Personen pro Familie nicht mehr linear erhöht.

 

Martina Bircher: Wir haben Familien, in denen Grosseltern, Eltern und vier Kinder leben.

 

faktuell.ch: Damit erhält die Grossfamilie mehr Geld, als sie mit Erwerbstätigkeit der Eltern verdienen könnte.

 

Martina Bircher: Das ist so, ja. Das Problem liegt bei den Zusatzleistungen. Der Betrag, den die Leute auf Sozialhilfe erhalten, ist steuerfrei. Der Zahnarzt wird zusätzlich bezahlt, bei der Krankenkasse werden Franchise und Selbstbehalt bezahlt. Im Gegensatz zum Erwerbstätigen fallen beim Sozialhilfebezüger keine zusätzlichen Kosten an. Wenn der Familienvater 4500 Franken im Monat verdient, überlegt er sich zweimal, ob er sich eine Zahnfüllung für 500 Franken leisten kann. Dieses Problem hat der Sozialhilfeempfänger nicht. 

 

faktuell.ch: Wie setzen sich die Sozialhilfe-Empfänger bei Ihnen in Aarburg zusammen?

 

Martina Bircher: Etwa 25 Prozent sind Schweiz, 30 bis 35 Prozent Ausländer, der Rest ehemalige Asylbewerber. Insgesamt haben wir 400 Sozialhilfeempfänger.

 

faktuell.ch: Spüren sie zwischen jenen, die aus widrigen Umständen in die Sozialhilfe abgerutscht sind, zuvor aber jahrelang in die Sozialversicherungen eingezahlt haben, und Asylanten, die ohne Vorleistungen die gleichen Ansprüche haben, Animositäten?

 

Martina Bircher: Ja, das spüren wir. Ich erhalte auch entsprechende Briefe. Die Schweizer, aber auch die andern Ausländer, die hier leben und gearbeitet haben,  sind gegenüber den Flüchtlingen schlechter gestellt. Sobald einer als Flüchtling anerkannt ist, gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, die besagt, dass ein Flüchtling den Einheimischen gleichgestellt ist, also Anspruch auf Sozialhilfe in derselben Höhe hat. Auch wenn es um Verwandten-Unterstützung geht, ist der Flüchtling bessergestellt, weil der keine Verwandten hat, die für ihn zahlen können; der Schweizer oder ein hier lebender Ausländer meistens aber schon. Zudem muss ein Schweizer oder Ausländer, der wieder einen Job findet, die Sozialhilfeleistungen der Gemeinde zurückzahlen. Bei den Flüchtlingen kann man das vergessen. Sie schaffen es auch nicht ansatzweise, die grossen Beträge zurückzuzahlen.

 

faktuell.ch: Und die Schweizer zahlen tatsächlich zurück?

 

Martina Bircher: Ja. Das muss sein, sonst sind wir unglaubwürdig. Wir haben in Aarburg eine 40-Prozent-Stelle geschaffen, die prüft, wo wieviel Geld als Rückerstattung fällig ist. Es sind 120‘000 bis 150‘000 Franken pro Jahr.

 

faktuell.ch: Die Verpflichtung, die aufgelaufenen Schulden zurückzuzahlen, ist nicht gerade ein Anreiz, wieder zu arbeiten.

 

Martina Bircher: Aber nur weil die Meisten heute eine Anspruchsmentalität haben, eigentlich wäre Sozialhilfe quasi eine vorübergehende Nothilfe.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfekosten für die ganz grossen Flüchtlings-Kontingente der Jahre 2014 bis 2016, rund 45‘000, kommen ab 2019 bis 2021 auf Sie zu. Hat es in Ihrem Budget noch Luft nach oben?

 

Martina Bircher: Wir leben bereits jetzt vom Finanzausgleich. Ich habe Bruttokosten in der sozialen Wohlfahrt von 10,5 Millionen – bei 17 Millionen Steuereinnahmen! Damit habe ich noch keine Schule und auch keine Verwaltung bezahlt. Das Schlimme ist, dass fast 90 Prozent unserer Ausgaben gebundene Ausgaben sind. Das ist das Gesetz, wir müssen bezahlen.

 

faktuell.ch: Wie gross ist der Sozialhilfeanteil an den Kosten der sozialen Wohlfahrt?

 

Martina Bircher: Rund fünf Millionen Franken. Hinzu kommen Fremdplatzierungen und die ganze Palette der bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie Alimentenbevorschussung, Eltern-Beistandshilfe, Sonderschulen etc.  Weil unser Budget derart belastet ist, erhalten wir knapp die Hälfte der 10,5 Millionen vom Kanton wieder zurück.

 

faktuell.ch: Wie kommen die Flüchtlinge, in Aarburg vorwiegend Eritreer mit ihren 1000 Franken Taschengeld pro Monat aus, die sie nach SKOS-Richtlinien erhalten zurecht?

 

Martina Bircher:  Viele sagen mir, dass sie etwa die Hälfte brauchen. Die andere Hälfte schicken sie in ihre Heimat, was eigentlich verboten ist.

 

faktuell.ch: Das setzt aber wohl voraus, dass sich ein paar Asylanten zur Wohngemeinschaft zusammentun.

 

Martina Bircher:  Folgender Fall: In einer Wohnung wohnen fünf anerkannte Flüchtlinge. Jeder macht geltend, er lebe alleine und will 1000 Franken. Das wären 5000 Taschengeld für die ganze WG. Wir sagten ihnen, dass sich in einer WG die Kosten teilen lassen. Sie  beharrten aber auf ihrem Einzeldasein. Also schickten wir einen Sozialdetektiv vor Ort, der einen Eritreer angestellt hat, weil der besser an seine Landsleute rankommt. Ihm erzählten sie ohne Umschweife, dass im Kühlschrank nicht jeder sein eigenes Regal hat, sondern dass man zusammen kocht. Ohne diese Auskunft hätten wir lediglich 10% kürzen können. So aber hat jeder nur ein Taschengeld von 500 Franken.

 

faktuell.ch: Wie erleben sie die Konkurrenz im Niedriglohn-Bereich – von aussen hat man den Eindruck, dass sich die diversen involvierten Sozialstellen von Bund, Hilfswerken, Kantonen und Gemeinden auf den Füssen herumtreten?

 

Martina Bircher: Ich habe ja nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Schweizer und Ausländer ohne Ausbildung, die einen Job brauchen. So viele Angebote, wie nötig wären, gibt es gar nicht.

 

faktuell.ch: Sozialfirmen als Arbeitgeber gibt es hier nicht?

 

Martina Bircher: Doch, aber das kostet. Wenn ich jemanden ins Beschäftigungsprogramm schicke, kostet er die Gemeinde mindestens das Doppelte eines normalen Sozialfalls. Und ich habe keine Garantie, dass er es mit der Sozialfirma schafft aus der Sozialhilfe rauszukommen. Die Erfolgschancen liegen gerade mal bei 20-30%. Deshalb konzentrieren wir uns im Sozialdienst nur auf die „Crème de la Crème“ – diejenigen, die wirklich wollen, von denen wir wissen, dass sie pünktlich und zuverlässig sind. Die schicken wir dann in solche Programme. Alle andern nicht, weil das nichts bringt. 

 

faktuell.ch: Nur junge Schweizer und Ausländer?

 

Martina Bircher: Gelegentlich auch einen Flüchtling, von dem wir annehmen, er könnte es packen. Es gibt solche, die wirklich arbeiten möchten. Aber sie haben völlig falsche Vorstellungen. Uns spielt das eigentlich keine Rolle, jeder den wir von der Sozialhilfe abmelden können, ist ein Erfolg egal welche Nationalität.

 

faktuell.ch: Es leben 34‘000 Eritreer in der Schweiz. Im Schnitt arbeiten 90 Prozent nicht oder kaum. Die Sozialhilfeempfänger erhalten weit über eine halbe Milliarde Franken. In Eritrea wäre diese Summe in Ausbildung und Projekte wohl deutlich nachhaltiger investiert…

 

Martina Bircher: … absolut. Nur was ich feststelle und was in Bundesbern noch nicht angekommen ist: Das heutige Flüchtlingssystem ist für Eritrea ein Geschäftsmodell. Zwar ein kurzfristiges, aber das interessiert die Machthaber dort nicht. Was zählt, ist der kurzfristige Profit. Sie schicken junge Leute, die für die Regierung potenziell gefährlich werden könnten, nach Europa. Hier erhalten sie Geld und schicken davon die Hälfte nach Hause. Eritrea lebt von diesem Geld und hat gar kein Interesse, an dem Geschäftsmodell etwas zu ändern.

 

faktuell.ch: Gibt es eine bessere Lösung?

 

Martina Bircher: Man sollte endlich diese Zahlungen aus Sozialhilfegeld einstellen. Allen Flüchtlingen auf Sozialhilfe ist verboten, die Sozialhilfe zweckentfremdet zu verwenden. Das Geld muss hier verwendet werden, auch für die Integration. Sonst kann man die Sozialhilfe halbieren. Nur für Essen und Trinken braucht man nicht 1000 Franken im Monat.

 

faktuell.ch: Wie erhalten die Flüchtlinge in Aarburg ihr Sozialhilfegeld?

 

Martina Bircher: Wir überweisen das Geld auf das Bankkonto des Sozialhilfebezügers. Was er mit dem Geld macht, dürfen wir nicht wissen. Wenn er 500 Franken vom Bancomat bezieht und sie beim SBB-Schalter via Western Union in die Heimat überweist, dann handelt es sich eigentlich um eine klare Zweckentfremdung. Aber wie wollen wir das nachweisen?

 

fakutell.ch: Was schlagen Sie vor?

 

Marina Bircher: Ich wollte die Guthaben auf eine Karte laden, auf der die Bargeldfunktion gesperrt ist. Gesetzlich würden wir aber so die Leute unter Generalverdacht stellen, ausserdem wurde mit der Gleichstellung argumentiert.

 

faktuell.ch: Die Skos schlägt vor, jedem Asylanten einen persönlichen Coach zur Seite zu stellen, damit die unabdingbare Arbeitsmarktintegration gelingen kann.

 

Martina Bircher: Es wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, die Leute zu integrieren, bleibt aber Utopie. Es ist ganz einfach nicht finanzierbar und es fehlen die geeigneten Fachleute.

 

faktuell.ch: Die Skos hat ihre Richtlinien überarbeitet, die Jungen erhalten weniger und die grossen Familien auch. Vor allem aber hat sie die Sanktionsmöglichkeiten verschärft. Zufrieden?

 

Martina Bircher: Im Kanton Aargau haben wir die Sozialleistungen schon immer um 30 Prozent gekürzt, wenn sich die Bezüger nicht an die Abmachungen halten.

 

faktuell.ch: Na und – wo liegt das Problem?

 

Martina Bircher: Wenn wir bei Sozialhilfebezüger genau hinschauen wollen, dann müsste ich einen Mitarbeiter nur für diese Aufgabe einstellen. Der Effekt wäre aber gleich null. Zuerst müssen wir eine Verwarnung aussprechen, dann dem Bezüger das rechtliche Gehör geben und anschliessend das Ganze dokumentieren. Um dem Sozialhilfeempfänger, der sich nicht an die Richtlinien hält, das rechtliche Gehör zu geben, müssen wir ihn einladen, damit er Rede und Antwort stehen kann. Da haben wir schon zwei Gespräche geführt, und eingeschriebene Briefe versandt, die er nicht abholt…

faktuell.ch: ...also Griff zum Rotstift: kürzen oder gar streichen …

 

Martina Bircher: … ja, aber dann beginnt das Ganze von vorn. Wir müssen dem Bezüger die Chance geben, alles richtig zu machen. Wenn er dies nicht tut, gibt man ihm wieder das rechtliche Gehör. Das kann drei bis vier Mal durchgespielt werden und dann können wir in begründeten Fällen die Sozialhilfe streichen. Das haben wir auch schon getan. Zwei Tage später kommt der Kandidat aber wieder und meldet sich einfach neu an. Wenn Ich mit dem Kanton telefonierte und meinte, der könne nicht im Ernst wieder aufs Sozialamt kommen und Sozialhilfe verlangen, erhielt ich zur Antwort: Juristisch gesehen ist dies ein neuer Fall und wird neu beurteilt.

 

faktuell.ch: Klingt etwas bitter, Frau Bircher?

 

Martina Bircher: Es ist zu sagen, dass viele Sozialhilfeempfänger anständig sind und die Kürzungen akzeptieren. Aber ich sehe, dass Leute, die nicht arbeiten wollen und das System kennen, immer zu ihrem Geld kommen. Wir müssen jede pingelige Bestimmung einhalten und kriegen auf den Deckel, wenn wir dies nicht tun. Aber wir haben keinen Juristen im Sozialamt. Den könnte ich gar nicht bezahlen. Wir haben Sozialarbeiter, die nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten. Wir werden an jedem Wort aufgehängt und der Klient muss nur einen Fresszettel mit drei Wörtern aufschreiben, die man nicht einmal versteht. Da ist rechtsgültig. Und wenn ein Zweifel besteht, wird ihm gratis ein Anwalt zur Seite gestellt.

faktuell.ch: Gut, aber dann wird entschieden.

 

Martina Bircher: Denken sie. Mit einem Sozialhilfeempfänger mussten wir gefühlte zehnmal beim Kanton antraben. Er immer mit Anwalt. Dann wurde es ihm zu dumm. Er zog um. In seiner neuen Wohngemeinde macht er dasselbe.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Februar 2017 statt.)

 

 

Zur Person:

Martina Bircher,

Jahrgang 1984, war zum Zeitpunkt des Gesprächs u.a. im Gemeinderat von Aarburg für das Ressort Soziales, Gesundheit und Jugend verantwortlich - ein Schlüsselressort, da Aarburg die höchste Sozialhilfequote im Kanton Aargau hatte. Seit 2019 ist sie Nationalrätin (SVP).

 


Andreas Dummermuth: "Wir brauchen keine geschleckten Lobbyisten."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Andreas Dummermuth, dem Präsidenten der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen

faktuell.ch: Herr Dummermuth, warum ist für die Ausgleichskassen die vorgeschlagene  Bundeskompetenz für die Einführung von IT-Mindeststandards im Bereich der 1. Säule gleichsam des Teufels?

 

Andreas Dummermuth: Es ist nicht Aufgabe der Aufsichtsbehörde, die Durchführung sicherzustellen, sondern den Vollzug der AHV-Gesetzgebung zu überwachen. Eine Aufsicht, welche die IT definiert, wird zur wichtigsten Durchführungsstelle. Das widerspricht allen Governance-Konzepten.

 

faktuell.ch: Die Durchführungsstellen werden verpflichtet, sich an Mindeststandards, insbesondere zur Entwicklung und zum Betrieb von gesamtschweizerisch anwendbaren Informationssystemen, zu halten. Was soll daran so schlimm sein?

 

Andreas Dummermuth: Bundesbeamte haben nie und nimmer unsere IT-Durchführungserfahrung. Die Ausgleichskassen und IV-Stellen haben in den letzten Jahren laufend bewiesen, dass alle Aufträge des Parlamentes innert der Frist professionell umgesetzt wurden. Dieser Erfolg wird mit neuen Kompetenzen für die Bundesverwaltung unnötig torpediert.  

 

faktuell.ch: Apropos Frist: Vieles würde mit der Altersreform 2020 ab 1. Januar 2018 nicht einfacher, sondern komplizierter. Auf die IT-Systeme der Durchführungsstellen wartet eine grosse Aufgabe. Sind sie bereit?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben alles für den ganzen Leistungs- und Beitragsbereich – Flexibilisierung des Altersrücktritts, Bezug aller Renten, Vorbezug, Aufschub – in die Wege geleitet: Völlig neue Merkblätter und Formulare sind verabschiedet, die prognostische Rentenberechnung ist vorhanden. Wir werden zusätzlich ein kostenloses Berechnungstool online anbieten, die Schulungen unserer Mitarbeitenden haben begonnen – das heisst, wir gehen davon aus, dass die Volksabstimmung positiv ausfällt. Alles wird am 1. Januar 2018 laufen. Das kostet auf verschiedenen Ebenen insgesamt einmalig etwa zwanzig Franken pro Rentner, also gegen 50 Millionen Franken. Das ist der Preis der Demokratie. Nota bene haben wir das alles ohne die geplanten IT-Standards der Bundesverwaltung hingekriegt. Die brauchen wir nicht. Tipptoppe Umsetzung ist unser Business.

 

faktuell.ch: Der Gesetzesentwurf sieht durchaus vor, dass die Durchführungsstellen die IT-Mindeststandards entwickeln können, damit sie im Massengeschäft AHV praxistauglich sind. Trotzdem stemmen sich die kantonalen Ausgleichskassen, die IV-Stellen und die Verbandsausgleichskassen der Arbeitgeber wie eine Bank dagegen. Riecht nach grossem Misstrauen gegen Bundesbern.

Andreas Dummermuth: Die Engländer sagen: «If it ain’t broke, don’t fix it.» (etwa flick nichts, das nicht kaputt ist). Was uns ohne Not vorgeschlagen wird, verursacht jährliche Mehrkosten von 21 Millionen Franken und das Produkt AHV wird nicht besser. Im Gegenteil. Die damit angestrebte Wirkungssteuer bedeutet eine Bürokratisierung der AHV sondergleichen. Diese unnötigen Kosten werden die Arbeitgeber und die Kantone tragen müssen. Da machen wir nicht mit.

 

faktuell.ch: Reden wir Klartext. Alle Erfahrungen mit IT-Bundesprojekten bis hin zum teuren «Insieme»-Flop der Eidgenössischen Steuerverwaltung sind schmählich abgestürzt. Spüren die Verantwortlichen der Ausgleichskassen bereits den warmen Atem von experimentierfreudigen IT-Bundesbeamten im Nacken?

 

Andreas Dummermuth: Ich halte es für die grösste Gefährdung der AHV seit 1948, wenn Bundesbeamte in die AHV-Informatik reinpfuschen! Man setzt das Erfolgsmodell AHV unnötig auf’s Spiel.

 

faktuell.ch: Fehlt es den Ausgleichskassen an Lobbyisten unter der Bundeskuppel?

 

Andreas Dummermuth: Wir stehen selber hin! Obschon AHV, IV, EO und EL etwa 40 % des Sozialversicherungskuchens ausmachen, geben wir keinen einzigen Franken für Lobby-Arbeit aus. Die Politik will von uns keine geschleckten Lobbyisten...

 

faktuell.ch: … etwas professioneller Lobbyismus könnte vermutlich auch den Ausgleichskassen nicht schaden, wenn man zum Beispiel sieht, dass die Pensionskassen ein Jahr länger Zeit als die Ausgleichskassen bekommen, um sich auf die Neuerungen der Altersreform einzustellen.

 

Andreas Dummermuth: Wir brauchen und wollen das nicht, auch wenn wir uns nicht unbedingt beliebt machen, weil wir immer klar Stellung beziehen. Wir sagen: Die AHV gehört den Versicherten und der Wirtschaft und nicht der Bundesverwaltung. Bundesbeamte haben keinerlei höhere Legitimation über die AHV zu reden als irgendjemand anderer. Politik hat nicht die Bundesverwaltung zu machen, sondern die gewählten Parlamentarier. Und die gehen wir auch aktiv an.

 

faktuell.ch: Bundesbern und seine Beamten haben es mit Ihnen schwer.

 

Andreas Dummermuth: Ich bin seit 1992 im Sozialversicherungsgeschäft. Ich musste die enormen Probleme der IV miterleben, vor denen ‘Bern’ die Augen damals schloss und noch Mitte der 1990er-Jahre erklärte: „Die IV hat keine Probleme“.  Oder das ganze Drama mit den Ergänzungsleistungen. Da werden jährlich mehrere hundert Millionen Franken völlig überflüssige Ergänzungsleistungen ausgezahlt. Und wiederum: Von Bundesbern kam nichts. Es brauchte vier Vorstösse im Bundesparlament, bis endlich eine EL-Reform an die Hand genommen wurde.

 

faktuell.ch: Stichwort IV. Ende Jahr läuft die siebenjährige Mehrwertsteuer-Aufbauhilfe aus. Das waren jährlich mehr als eine Milliarde Franken. Laut den Verantwortlichen im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wird die IV ab 2018 ohne diese Unterstützung wieder schwarze Zahlen schreiben. Ist das realistisch?

 

Andreas Dummermuth: Nein, das ist das Prinzip Hoffnung. Wir waren ziemlich nah am Sanierungsziel, aber jetzt erfüllt die Politik wieder Zusatzwünsche, die massive Mehrausgaben zur Folge haben – etwa im Bereich von Pflegeleistungen für Kinder, dann im Bereich der Geburtsgebrechen mit Trisomie 21 und aktuell läuft die Vernehmlassung für eine Änderung der Invalidenverordnung – gemischte Methode bei der Invaliditätsbemessung bei Teilzeiterwerbstätigen.

Dummermuth: Entweder man sagt, es ist uns egal, wenn das in zwei Volksabstimmungen versprochene Sanierungsziel aufgegeben wird – das fände ich aber heikel – oder man schaut trotzdem, wie man eben unnötige Ausgaben verhindern kann. Das Hauptproblem der IV ist heute, dass wir weiterhin 40 % IV-Neurentner mit psychischen Problemen haben. Das ist ein gesellschaftliches Desaster. Wenn die Schweiz Menschen mit psychischen Problemen nichts anderes anbieten kann, als eine Rente, entspricht das nicht dem, was man von einem der reichsten Länder der Welt erwarten könnte.

 

faktuell.ch: Klingt aber auch nach Mehrkosten. Was empfehlen Sie?

 

Andreas Dummermuth: Arbeitsmarktintegration! Wir müssen vor allem an der Schwelle am Ende der schulischen Ausbildung, beim Eintritt ins Arbeitsleben, dafür sorgen, dass diese Schwelle nicht zum Stolperstein wird. Es gilt, allen jungen Menschen, auch solchen, die nur Teilzeit arbeiten können, eine berufliche Ausbildung zu geben.

 

faktuell.ch: Wie soll das gehen, ohne ebenfalls zum Prinzip Hoffnung zu mutieren?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben heute in der Schweiz ein sehr gutes System der Arbeitslosenversicherung (ALV). Ein Erfolgsmodell! Um die rund 140'000 Arbeitslosen kümmern sich 5000 Personen – die ALV ist damit personell doppelt so gut «motorisiert» wie die IV. Bei der IV erhalten wir zwar Instrumente, aber es fehlen uns leider die Handwerker.

 

faktuell.ch: Und alles wird gut?

 

Andreas Dummermuth: Ja, irgend jemand muss diese Menschen begleiten! Und genau das können die IV-Stellen mit mehr Fachpersonal am besten machen. Die Krankenkassen helfen uns leider nicht. Mit ihren stetig höheren Prämien spiegeln sie nicht bessere Wirkung, sondern nur den explodierenden Medizinalkonsum. Aber keine einzige Krankenkasse weiss, wo Sie und ich arbeiten. Denen ist das völlig egal. Die Krankenkassen haben keinen «back to work»-Auftrag.

 

faktuell.ch: Sie wollen die Krankenkassen einbinden?

 

Andreas Dummermuth: Sämtliche internationalen Untersuchungen zeigen, dass Länder, die gegen Invalidisierung kämpfen, alle Partner in eine «back to work»-Strategie einbinden. Nach dem heutigen System können wir nichts machen. Die Leute sind von der Gesundheitsindustrie auf Psychopharmaka und Therapie ausgerichtet worden. Und wenn einer 19 ist, sagt man, da ist nichts mehr zu machen. Die IV soll sich mit der Rente um ihn kümmern. Darauf muss die Gesellschaft eine entschiedene andere Antwort geben: Jawohl, wenn du krank bist, haben wir ein Interesse daran, dass du gesund wirst. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dass du wieder arbeiten gehst. Und wenn wir das nicht koppeln, werden wir weiterhin einen derart hohen Anteil von Menschen mit psychischen Problemen haben.

 

faktuell.ch: Was soll die Gesellschaft tun, wenn viele Junge offensichtlich nicht im imstande sind, eine Berufslehre durchzustehen?

Andreas Dummermuth: Auf die Frage nach mangelnder Resilienz gibt es zwei Antworten: Die eine lautet mit der Bach-Kantate: «Kommt, ihr Töchter, helft mir

klagen!» Lamentieren ist aber kein Ansatz. Die andere: Wenn wir nicht wollen, dass junge Menschen mit psychischen Problemen wie heute en masse IV-Rente beziehen, müssen wir ihnen zwei-, dreimal eine Chance geben. Klar ist für mich: Junge Menschen bis zum Alter 25 oder 30 brauchen keine IV-Rente, sondern Begleitung.

 

faktuell.ch: Bis 2030 soll die IV ihre Schuld von zuletzt 11,4 Milliarden Franken bei der AHV abgetragen haben. Das macht jährlich 820 Millionen. Wie soll dies ohne Mehrwertsteuer-Bonus gehen?

 

Andreas Dummermuth: Die Sanierung der Invalidenversicherung ist versprochen, von Volk und Ständen abgesegnet. Damit sie die Schuld bei der AHV abbauen kann, muss sie Gewinn machen. Wenn man jetzt aber der IV – wie schon ausgeführt – zusätzliche Leistungen aufbürdet, ist selbst das Sanierungsziel an sich gefährdet.

 

faktuell.ch: Eigentlich sollten die AHV-Renten gemäss Bundesverfassung «angemessen» existenzsichernd sein, sind sie aber nicht.

 

Andreas Dummermuth: Bis 2008 waren die 1966 als Übergangslösung eingeführten Ergänzungsleistungen ein Provisorium. Bereits 1995 hat sich der Bundesrat in seinem 3-Säulen-Bericht der Realität angepasst und erklärt, dass das Ziel der Existenzsicherung durch die drei Säulen und nicht allein durch die erste Säule erreicht wird. Seit dem 1. Januar 2008 sind die Ergänzungsleistungen definitiv. Für diejenigen, die von erster, zweiter und dritter Säule nicht leben können haben wir seither definitiv die EL...

 

faktuell.ch: … die allerdings bedarfsabhängig ausgerichtet wird und nicht als verfassungsrechtlicher Anspruch.

 

Andreas Dummermuth:  Ich halte das Konstrukt für hervorragend. Aber es gibt noch zwei, drei Sachen, die ausgemerzt werden müssen, sonst wird die EL auch ein System für den Mittelstand und das ist nicht mehr finanzierbar. Die ständig wachsenden Kosten für EL bedrängen andere wichtige Politikbereiche.

 

faktuell.ch: Wo liegt der Hund begraben?

 

Andreas Dummermuth: Die Pensionskassen stehlen sich heute nach dem Woody-Allen-Prinzip von «Take the money und run» oft aus ihrer Verantwortung. Da wird das Risiko der Langlebigkeit und das Risiko der Anlage an Leute übergeben, die nicht in der Lage sind, damit umzugehen. Hier wird ein gutes System, um das uns die ganze Welt beneidet, zu Boden geritten. Wenn jeder sein Kapital mit 65 nach Belieben abziehen kann, macht man einen Lastentransfer zulasten der öffentlichen Hand, der nicht mit dem 3-Säulen-System übereinstimmt. Das ist für mich klar verfassungswidrig.

 

faktuell.ch: Offenbar handeln die Leute nach dem Prinzip von «Den Letzten beissen die Hunde». Es fehlt ihnen das Vertrauen in die Langlebigkeit der 2. Säule.

Andreas Dummermuth: Wenn der Bürger die Möglichkeit zum Abzug seiner Gelder hat, nutzt er sie, ohne Rücksicht auf das System. Das ist sein gutes Recht. Aber mich erstaunt, dass die Pensionskassen-Lobby den Kapitalabzug bis an den Bach runter verteidigt. Wenn jeder sein Geld mit 65 rausnimmt, brauchen wir gar keine

Pensionskassen mehr. Dann brauche ich nur noch eine Lebensversicherung für mich und meine Angehörigen und ein Konto bei der Kantonalbank, von dem ich mein Geld beziehen kann. Als Kapitalabfindungs-Institutionen brauchen wir die 3000 Pensionskassen nicht.

 

faktuell.ch: Mit der Möglichkeit des Kapitalabzugs sind die Pensionskassen die Verantwortung los, ihre einst vollmundig geäusserten Versprechen einhalten zu müssen.

 

Andreas Dummermuth: Genau. Aber das führt auch zu einer Erosion der Sicherheit in der Bevölkerung. Sinn und Zweck der sozialen Sicherheit ist es, dass der Bäcker Brot backen und die Krankenschwester ihre Patienten pflegen kann und beide wissen, dass sie mit ihrem normalen Job auch im Alter einigermassen gut werden leben können. Das Versprechen von «decent life», ein anständiges Leben führen zu können, ist ein hohes Versprechen. Aber Sozialversicherungen – und das ist für mich ganz wichtig – muss man als staatliche Infrastruktur betrachten wie das Bahn- und Strassennetz. Dass ein Staat seine Infrastruktur wissentlich verlottern lässt, so wie die Amerikaner ihre Strassen, scheint mir kein Ziel zu sein.

 

faktuell.ch: Wird die grosse Reform der Altersvorsorge angenommen, kehrt keine Ruhe ein. Sie haben bereits einen «Frühlingsputz» angekündigt. Woran denken Sie dabei?

 

Andreas Dummermuth: Wir richten noch Leistungen aus, die 1948 festgelegt wurden und heute nicht mehr so nötig sind. Altersrentner mit minderjährigen Kindern haben pro Kind zusätzlich Anspruch auf 40 % einer Maximalrente. Das sind pro Monat 940 Franken aus der AHV-Kasse, während die normale Kinderzulage eines Arbeitnehmers monatlich 200 bis 250 Franken ausmacht. Auch die Witwen- und Waisenrenten sind in der heutigen Form überholt. Ich votiere nicht dafür, dass man sie gleich auf Null runterfährt, aber man muss sie der gesellschaftlichen Realität anpassen. So gibt es diverse Leistungen in den Sozialversicherungen, die eingestellt oder reduziert werden könnten.

 

faktuell.ch:  Zurück zu den Ergänzungsleistungen im Besonderen. Es gibt eine Dunkelziffer wie bei allen bedarfsabhängigen Sozialleistungen von Bürgern, die aus unterschiedlichen Gründen auf ihren Anspruch verzichten. In einer Nationalfondsstudie von 1998 war von einer Nichtbezugsquote von 33 % die Rede. Die Eidgenössische Finanzkontrolle kam 2010 in einer Untersuchung zum Schluss, dass diese Quote weit übertrieben sei. Wie hoch schätzen Sie die Nichtbezugs-Quote ein?

 

Andreas Dummermuth: Wir können nur messen, was wir einnehmen und auszahlen. Was nicht ausbezahlt wird, können wir nicht messen. Ich schätze aufgrund meiner Schwyzer Erfahrung, dass es etwa 2 % sind.

 

faktuell.ch: Von 33 auf 2 % zurückgegangen - Sie untertreiben.

Andreas Dummermuth: Es gibt eine Faustregel: Wer AHV zuzüglich einer kleinen Pensionskassenrente hat und zuhause lebt, kommt nicht in die EL rein. Sobald aber das Heim ansteht, steigen die Kosten. In Schwyz treffen wir uns regelmässig mit Vertretern des Heim-Verbandes curaviva und unsere Erfahrung zeigt, dass kein

Heimverwalter jemanden in sein Heim aufnimmt, ohne dass die Finanzierung gesichert ist. Wenn die drei Säulen nicht ausreichen, kommt die EL zum Zug. Die Heime selber haben null Interesse, Inkasso-Risiken einzugehen.

 

faktuell.ch: Das Wort Verzicht kommt auch im umgekehrten Sinn vor – dem Vermögensverzicht zuhanden der Nachkommen zum Beispiel. Im Zusammenhang mit der Erbschaftssteuer-Vorlage hatten sich solche Fälle gehäuft. Wie ist der «courant normal» heute?

 

Andreas Dummermuth: Bei der EL ist das wie beim Doktor: Zunge raus und Hosen runter! Wir stellen im Kanton Schwyz im Rahmen unserer Abklärungen bei 20 % der EL-Neuanmeldungen vorherigen Vermögensverzicht fest. Wenn jemand eine Weltreise für 30'000 Franken macht, hat er das Geld ausgegeben und dafür eine Gegenleistung erhalten. Das wirkt sich bei den EL nicht aus. Überträgt aber jemand seinen Kindern sein Haus, das einen Wert von 800'000 Franken hat, und er dafür bloss 200'000 Franken haben will, dann verzichtet er auf 600'000 Franken. Das akzeptieren wir nicht und rechnen es auf. Das ist bei uns in 20 % der Fälle der Fall.

 

faktuell.ch: Die EL-Ausgaben explodieren seit Jahren förmlich. Was sind die wirklichen Gefahren der EL?

 

Andreas Dummermuth: Wir müssen dafür sorgen, dass jede der drei Säulen die Risiken tragen kann, die wir mit der Volksabstimmung im Jahre 1972 gesellschaftlich vereinbart haben: die Risiken von Invalidität, Tod und Versorgung im Alter. In der 2. Säule heisst das aus Sicht der EL, dass möglichst viele Leute einen Anspruch auf eine Rente aus ihren Pensionskassengeldern haben müssen. Technisch ist jeder Franken Pensionkassengeld, das abgezogen wird, ein Franken EL weniger.

 

faktuell.ch: Ist bereits Gefahr in Verzug?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir den angemessenen Existenzbedarf über die EL sichern wollen – und das ist völlig unbestritten –, dann darf man doch nicht Leuten aus Steuergeldern EL zahlen, deren Existenz gar nicht gefährdet ist. Das heutige EL-System gibt Leistungen weit über den Verfassungszweck hinaus.

 

faktuell.ch: AHV und IV zusammen zahlen heute EL für etwas mehr als fünf Milliarden Franken aus. Wo kann gespart werden?

 

Andreas Dummermuth: Meines Erachtens könnte man mit der Einführung einer Vermögensschwelle von 100'000 Franken ca. 400 Millionen Franken im Jahr sparen. Im Kanton Schwyz haben wir ausgerechnet, dass ca. 12 % unserer EL-Leistungen übertrieben sind, da die Existenz sehr wohl gesichert ist. Da sind sogar Millionäre dabei. Das geht einfach nicht.

 

faktuell.ch: Auch die finanziellen Verhältnisse von EL-Beziehenden können sich verändern – zum Guten wie auch zum Schlechten. Was dann?

 

 Andreas Dummermuth: Es gibt eine Meldepflicht. Seit 2008 sind Meldepflichtverletzungen, die man früher als Kavaliersdelikt betrachtete, strafrechtlich relevant. Die Verletzung der Meldepflicht hat eine Strafanzeige zur Folge.

faktuell.ch: Kommen wir noch auf die Unternehmenssteuerreform II zu sprechen. Sie führt zu einer massiven Verschiebung von AHV-pflichtigem Lohnabzug zur Dividenausschüttung. Lässt sich beziffern, was der AHV-Kasse damit an Einnahmen entgeht?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben leider keinen Einblick in die entsprechenden Steuerunterlagen! Aber es ist ein sehr erheblicher Betrag. Im Kanton Schwyz mit seinen 150 000 Einwohnern sind zwischen 2007 und 2011, also innerhalb von fünf Jahren, 3,7 Milliarden Franken in Dividenden ausgezahlt worden, auf die kaum Sozialabgaben zu zahlen sind. Dies entspricht 80 % des gesamten AHV-pflichtigen Einkommens unseres Kantons.

 

faktuell.ch: Es ist nicht verboten, die Steuern zu optimieren – wozu das System einen erst noch einlädt.

 

Andreas Dummermuth: Stimmt. So hat sich mir gegenüber auch ein Mitglied des Bundesgerichts geäussert. Ich habe darauf geantwortet: „Aber die Renten an Ihre Eltern müssen wir jeden Monat auszahlen!“ Sozialversicherer leben vom Vertrauen. Als Leiter einer Ausgleichskasse habe ich Erklärungsnotstand: Einerseits muss ich jedem Hausdienstarbeitgeber wegen der Putzfrau auf die Finger klopfen und klarmachen, dass auch Bagatelleinkommen sauber abrechnet werden; anderseits habe ich die «Optimierer», die sich mit grossen Beträgen legal schadlos halten können. So wird ein System nicht stabilisiert.

 

faktuell.ch: Sie nennen es «Flucht aus der Solidarität».

 

Andreas Dummermuth: Ja, ganz klar. Das klassische Beispiel sind vor allem solche, die stark profitieren von unserem Gesundheitswesen: Ärzte, die sich en masse in AGs und GmbHs ausgliedern. Es geht mir aber nicht um ein Ärzte-Bashing. Ich möchte auch Architekten und Anwälte nennen, die in der Dreifaltigkeit von Aktionär, Verwaltungsrat und Geschäftsführer Ende Jahr mit dem Treuhänder zusammen entscheiden, was sie als AHV-Beitrag rausnehmen und was sie als steuerprivilegierte Dividende der AHV vorenthalten wollen.

 

faktuell.ch: Fassen wir zusammen: Die Reichen optimieren im Bereich der AHV und die Armen im Bereich der EL. Richtig?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir wissentlich und willentlich in beiden Bereichen entweder zu viel ausgeben oder zu wenig einnehmen, dann höhlen wir unnötig die Sozialsysteme aus. Das ist keine verantwortungsbewusste und nachhaltige Sozialpolitik.

 

 Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Juli 2017 statt.)

 


Otto Pfister: "Wenn der Afrikaner ein gewisses Knowhow hat, ist er von sich überzeugt."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Otto Pfister, Jahrgang 1937, der in den letzten 45 Jahren als Cheftrainer zahlreiche Fussball-Nationalmannschaften und Spitzenmannschaften in Afrika und im arabischen Raum betreut hat. Seit 2017 ist er Cheftrainer der afghanischen Fussball-Nationalmannschaft. Er soll die Afghanen in der Qualifikationsgruppe gegen Jordanien, Vietnam und Kambodscha an den Asien-Cup 2019 führen.

faktuell.ch: Herr Pfister, Europa und mit ihm die kleine Schweiz kommen mit der viel gepriesenen Integration von Migranten und Flüchtlingen nicht vom Fleck. Wie sieht umgekehrt die Integration zum Beispiel in den Ländern Afrikas aus, in denen Sie als «Fremder» gearbeitet haben?

 

Otto Pfister: Wer aus eigenem Interesse nach Afrika geht, will Geld verdienen. Ein Handwerker hat dort viel grössere Chancen als hier, wo die Konkurrenz gross ist. Hinzu kommen Auflagen wie Gesetze, Steuern, Versicherungen, Bewilligungen. Das ist in Afrika alles viel einfacher. Ich kenne einen Schweizer, einen Automechaniker, der hat hier die Nase voll gehabt, an der Elfenbeinküste eine Garage aufgemacht und den Regierungsmitgliedern die Luxusautos geflickt. Nach einem halben Jahr machte er schon eine Tankstelle auf und nach einem Jahr war er Millionär.

 

faktuell.ch: Klingt einfach. Gibt’s keine Probleme?

 

Otto Pfister: Selbst in Ländern, wo man noch nicht einmal gelernt hat, sich das Tier nutzbar zu machen, ist alles was aus Europa kommt neu und erstrebenswert. Sie lernen alles von uns, auch das Negative. Wenn du also als Ausländer kommst, musst du dich natürlich richtig verhalten und dich auf die einheimische Mentalität einstellen. Als Fussballtrainer habe ich damit kein Problem. Ich habe einen Auftrag, ein Pflichtenheft und versuche die Mentalitäten unter einen Hut zu bringen, damit ich meinen Job erfüllen kann. Viele scheitern, weil sie dort all das einführen wollen, was wir von der Erziehung her so kennen: Pünktlichkeit, Fleiss, Ehrlichkeit, selbst Tischmanieren…

 

faktuell.ch: … Tischmanieren?

 

Otto Pfister: Ich habe einen Trainer gekannt, der sah im «First Class»-Hotel mit Entsetzen, wie seine afrikanischen Spieler Poulet, Reis und Sauce mit blossen Händen gegessen haben. Das ist in Afrika auch in gehobenen Kreisen üblich. Aber mein Bekannter hatte kein Einsehen. Er baute sich vor dem Spielertisch auf und erklärte: «Alle mal herhören, ab heute wird mit Messer und Gabel gegessen!» Die Spieler erhoben sich und gingen aufs Zimmer. Damit war er als Trainer «tot».

 

faktuell.ch: Das heisst im Umkehrschluss, wenn die Migranten und Asylbewerber schon hier sind, dann sollen sie…

 

Otto Pfister: …gefälligst unsere Gewohnheiten annehmen. Am Anfang dürfen sie noch Fehler machen, aber man muss sie darauf aufmerksam machen. Das ist ein Prozess, der geht nicht von heute auf morgen.

 

faktuell.ch: Geht’s überhaupt?

 

Otto Pfister: Wenn einer aus Ruanda kommt, dann hat er erst mal einen Kulturschock. Es gibt Leute, die haben in einem Kaufhaus noch nie eine fahrbare Treppe gesehen. Für einen Mann aus einer zentralafrikanischen Republik ist es unbegreiflich, dass in der Kleiderabteilung Anzüge nach Grössen aufgehängt sind. Da muss er sich erst mal dran gewöhnen. Oder erklären sie einem Afrikaner, was eine Parkbusse ist, warum er beim Parken die Parkuhr füttern muss. Oder die ganzen Pflichten mit Ämtern, in der Schule mit den Kindern – damit haben die Leute Probleme. Das ist klar. Und da muss man sich natürlich drum kümmern. Was man hier aber auch zur Kenntnis nehmen sollte: Viele Afrikaner haben ein unglaubliches technisches Talent. Wenn man in Afrika zum Beispiel mit dem Computer ein Problem hat, findet sich in einer Runde garantiert einer, der einem helfen kann.

 

faktuell.ch: Herr Pfister, Sie haben unter anderen die Nationalmannschaften von Ruanda, von Obervolta (heute Burkina Faso), von Senegal, der Elfenbeinküste, von Zaire (heute Dem. Rep. Kongo) und von Ghana trainiert. Haben sie dabei festgestellt, dass es «den Afrikaner» gibt, von dem wir immer summarisch sprechen?

 

Otto Pfister: Ja, den gibt’s. Das ist primär eine Mentalitätsfrage. Natürlich gibt es ethnische Unterschiede und auch eine unterschiedliche Erziehung. In Ruanda beispielsweise, da war ich noch ein junger Mann, erlebte ich einen totalen Kulturschock. Es gibt dort zwei Bevölkerungsgruppen, die Hutus und die Tutsi. Ich musste gut darauf achten, dass die beiden Gruppen im Team ausgewogen vertreten waren. Die Tutsi haben jahrelang die Hutus unterdrückt. Ich habe den Umsturz erlebt. Die haben eine ganz unterschiedliche Erziehung. Ein Hutu schaut zum Beispiel den andern beim Essen nicht ins Gesicht. Bei den Tutsi dürfen die Kinder beim Geschlechtsverkehr der Eltern zuschauen. Das muss man sich vorstellen, das sind andere Welten. Damit sind sie aber gross geworden. Und jetzt kommen die nach Europa…

 

faktuell.ch: … ebenso wie Menschen aus dem arabischen Raum. Sie haben dort ebenfalls Spitzenmannschaften trainiert, inklusive das Nationalteam von Saudi-Arabien. Was erwartet uns von ihnen?

 

Otto Pfister: Nach Riad war ich auch in Kairo, im Libanon und in Tunesien. Dort ruft der Muezzin in der Moschee mehrmals täglich zum Gebet auf. Dann schliessen jeweils alle Geschäfte für eine Stunde. Das passiert fünfmal am Tag! Wenn sich jetzt hier in der Schweiz ein Araber hinkniet und betet, wundern sich alle, was mit dem los ist…

 

faktuell.ch: ... worauf wollen Sie hinaus?

 

Otto Pfister: Es geht nicht nur darum, diese Leute zu integrieren, sondern erst müssen die Einheimischen mal informiert werden, wer hierherkommt.  

 

faktuell.ch: Das wird in den Aufnahmezentren ja gemacht – mit Übersetzern aus den einzelnen Ländern. Aber es reicht offenbar nicht, um diese Menschen mit unserer Mentalität vertraut zu machen. Warum bringen wir die Integration nicht auf die Reihe?

 

Otto Pfister: Da muss ich grundsätzlich werden. Nicht wenige stellen sich vor, man müsse einfach vor Ort, in den Ländern Afrikas, die Bedingungen mit Entwicklungshilfe verbessern, damit diese Leute nicht mehr zu uns kommen. Das ist fertiger Unsinn. Die kommen trotzdem, weil sich nichts verbessert. Die afrikanischen Länder sind auf dem Papier alles Demokratien, aber sie haben kein Demokratieverständnis. Man muss dort erst politische Bildung betreiben und das Hauptproblem, die Korruption, bekämpfen. Und wenn man Geld gibt, müsste der Geldfluss von jedem Rappen genau kontrolliert werden können. Geht aber nicht, weil die Länder unabhängig sind und sich nicht mehr dreinreden lassen.

 

faktuell.ch: Klingt nicht besonders optimistisch.

 

Otto Pfister: Schuld an der heutigen Lage in Afrika sind die Kolonialländer. Das Drama ist, dass sie nicht in die Pflicht genommen werden. Sie haben jahrzehntelang die Menschen dort ausgenutzt und tun es zum Teil immer noch. Ich war drei Jahre im Kongo, der damals von Mobutu mit seinem Clan regiert wurde. Ein wunderschönes Land, gemessen an seinen Bodenschätzen eines der reichsten Länder der Welt. Die haben Diamanten, Gold, Kobalt, das Basismaterial für Nuklearwaffen. Nichts davon kommt der Bevölkerung zugute. Ich finde, zuerst sollten eigentlich jene zum Handkuss kommen, die diese Länder kolonialisiert und mit geraden Strichen die Grenzen mitten durch ethnische Gruppen gezogen haben…

 

faktuell.ch: … und die Sie beispielsweise in Senegal zu einem Nationalteam formten.

 

Otto Pfister: Ja, in Westafrika gibt es Familiennamen, die auf die gleiche ethnische Gruppe hinweisen, aber über mehrere Länder verteilt sind, mithin über ein Viertel des afrikanischen Kontinents hinweg.

 

faktuell.ch: Sie sagten zwar, dass sich zuerst die ehemaligen Kolonialisten wie Frankreich, Portugal, Spanien, Grossbritannien etc. um die Flüchtlinge kümmern sollten. Die zeigen aber wenig bis keine Neigung dazu, mehr als das Nötigste beizutragen. Damit gilt: Die Migranten sind hier und es kommen absehbar immer mehr. Was raten Sie?

 

Otto Pfister: Zuerst muss man die Bedingungen schaffen, dass sie kommen können. Jeder Kanton sollte eine Analyse machen, wie viele Flüchtlinge er aufnehmen kann. Dann geht es darum, dass der Afrikaner korrekt wohnt und einen Arbeitsplatz hat. Wenn beides nicht gegeben ist, können wir ihm nicht helfen und er muss zurück.

 

faktuell.ch: Denken Sie, dass sie sich bei uns überhaupt integrieren wollen, wenn es möglich wäre?

 

Otto Pfister: Die wollen, ja. Aber es geht nicht, weil wir mit ihnen nicht reden. In Afrika setzt man sich zu Fremden an den Tisch, auch wenn an den meisten anderen Tischen keiner sitzt. Man sucht das Gespräch, den Kontakt. Wenn sich bei uns einer zu einem an den Tisch setzt, ruft der gleich die Bedienung und will wissen, was mit dem andern nicht gut ist. Sehen sie sich mal in Bern oder Zürich im Bahnhof um. Die Afrikaner stehen herum, keiner kümmert sich um sie, keiner will etwas mit ihnen zu tun haben. Und jetzt frage ich mich, wo ist hier die Regierung? Was machen die? Gibt’s hier ein Ministerium oder eine Abteilung, die sich nur um Integration bemüht?

 

faktuell.ch: Welches ist die grösste Barriere für eine erfolgreiche Integration – die Religion oder die Sprache?

 

Otto Pfister: Die Sprache. Das muss zuallererst gemacht werden. Wenn die Bundesliga einen Spieler verpflichtet, hat der jeden Tag morgens vor dem Training Deutschunterricht. Das steht im Vertrag.

 

faktuell.ch: Und das sollte auch für Asylbewerber und Migranten gelten?

 

Otto Pfister: Ja. Jeder der kommt, muss zwingend die Sprache lernen. Das ist die Aufgabe des Staates. Wenn ich das Sagen hätte, wäre es so: Man gibt ihnen ein Minimum mit Auflagen. Dazu gehört Sprache. Nummer eins.

 

faktuell.ch: Sprechen wir vom völkerverbindenden Fussball. Fast jede Mannschaft in Europa hat mittlerweile Afrikaner, bis in die unteren Ligen. Wo kommen die her?

 

Otto Pfister: Das hat mit Sport sehr wenig zu tun. Er ist ein reines Business. Hier ist der Agent A, der geht zu dem Präsidenten B und sagt: «Du, ich habe Dir da einen Mittelfeldspieler, einen Afrikaner, der ist besser als Deine. Ich bring Dir den. Du musst mir dafür aber was geben». Dann geht er zu dem Spieler und sagt: «Du, ich habe Dir einen Klub, aber du musst mir was geben». Dann kassiert er von beiden Seiten.

 

faktuell.ch: Sie sprechen von den Spieleragenten, die ähnlich wie die Schleuser mit ihrer Dienstleistung gross abkassieren?

 

Otto Pfister: In der Schweiz hat es Hunderte, im Internet unter «FIFA agents» gar tausende weltweit.  Ich kenne einen im Tessin, der hat in seinem Mercedes immer zwei, drei Afrikaner hinten drin. Er bietet sie in Ländern wie Tschechien, der Slowakei oder Polen an wie warmes Bier. Wer so einen Spieler vermarktet, macht hier fünftausend, dort dreitausend und wenn er zehnmal dreitausend gemacht hat, hat er auch 30’000. Das ist ein reines Geschäft.

 

faktuell.ch: Moderner Sklavenhandel.

 

Otto Pfister: Sklavenhandel, Menschenhandel. Und dann gibt es viele Agenten, die in Fernsehinterviews sagen, sie schauten auf die Karriere des Spielers. Aber das interessiert die nur in zweiter Linie. In erster Linie wollen sie Geld verdienen.

 

faktuell.ch: Den Migranten wird oft unterstellt, es fehle an der Leistungsbereitschaft…

 

Otto Pfister: … nicht im Fussball, da ist das anders. Die Leistungsbereitschaft der Spieler ist sehr gross. Die kommen zu 99 Prozent von ganz unten. Da steht im Dorf ein Fernseher, der überträgt die Champions League. Dann sitzt das halbe Dorf davor. Und die Buben sehen auch die NBA, die amerikanischen Basketballspiele. Sie sehen ihre schwarzen Brüder spielen – in Farbe am Fernsehen. Und dann haben sie nur ein Ziel: Da will ich hin und da kann ich Geld verdienen.

 

faktuell.ch: Sie sprechen aus Erfahrung?

 

Otto Pfister: Ja, ich habe das erlebt, ich war Juniorenweltmeister mit Ghana. Die Buben waren 17. Da hätte ich ein Training morgens um drei ansetzen können, mitten in der Nacht. Da wäre keiner zu spät gekommen. Machen sie das mal hier. Kommt keiner. Zwei, drei meiner Mannschaft haben es auch geschafft. Einer ist heute mehrfacher Millionär. Der wusste damals nicht was hundert Dollar sind. Geld ist schon ein Anreiz.

 

faktuell.ch: Sie betrachten afrikanische Spieler als mental stark, was Sie auf deren meist schwierige Lebensumstände zurückführen. Sie könnten sich also auch bei uns und überall durchbeissen.

 

Otto Pfister: Ja, wenn ein Afrikaner ein gewisses Knowhow hat, ist er von sich überzeugt. Im Fussball geht das. Da zählt nur die Leistung. Aber selbst wenn einer die richtige Ausbildung mit Leistung verbindet, kann er hier nicht einfach in eine Bank einmarschieren und gleich die Nummer zwei nach dem Direktor werden.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im November 2017 statt.)

 


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Mathias Binswanger: "Über mehr als ein Jahr hinaus kann man eine Wachstumsprognose nicht allzu ernst nehmen.“

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit dem Ökonomen und Publizisten Mathias Binswanger

Mathias Binswanger

 faktuell.ch: Herr Binswanger, ökonomische Prognosen bewahrheiten sich kaum je – das sieht selbst der Laie. Sie erklären dies damit, dass auch in der Wissenschaft der Glaube eine Rolle spielt, nämlich der Glaube an die eigene postulierte Hypothese. Sind Prognosen «fake news»?

 

Mathias Binswanger: Nein. Die Ökonomie ist keine präzise Wissenschaft. Sie kann nicht voraussagen, was in Zukunft passiert. In der Physik geht das noch einigermassen, da sich das Verhalten von Atomen in der grossen Masse mathematisch ziemlich gut beschreiben lässt. In der Ökonomie ist das aber unmöglich, da sich Bedingungen ständig verändern und Haushalte und Unternehmen auf diese Veränderungen reagieren. Dennoch verlangt man von der Ökonomie genau das, was sie am wenigsten kann, nämlich die Zukunft vorauszusehen...

 

faktuell.ch: … einen Blick in die Kristallkugel zu werfen…

 

Mathias Binswanger: …ja genau. Es ist so: In Zeiten, in denen alles normal läuft, kann man relativ gut Prognosen machen, braucht sie aber nicht. In Zeiten, die turbulent sind, braucht man Prognosen, aber dann können auch Ökonomen keine wirklich guten Prognosen für die Zukunft stellen.

 

faktuell.ch: Prognosen, Umfragen und eine Unmenge von Studien gehören inzwischen wie ein Führungsinstrument zum politischen Alltag. Mehr und mehr wirken die publizierten Ergebnisse wie bestellt.

 

Mathias Binswanger: Es gibt viele Institute in der Schweiz, die einen breiten Fächer verschiedener Werte anbieten. Positivere und negativere. Entscheidungsträger suchen nicht unbedingt die richtige Prognose, sondern eine, auf die sie sich abstützen können. Wenn zum Beispiel ein Investitionsentscheid begründet werden muss, dann stützt man sich gerne auf eine möglichst positive Prognose. Sollte es dann schief herauskommen, kann man argumentieren, man habe sich auf eine Prognose eines renommierten Instituts gestützt, womit man die Verantwortung für den Fehlentscheid an die Prognose delegiert. Umgekehrt, wenn Politiker Massnahmen gegen Arbeitslosigkeit fordern, bevorzugen sie eine möglichst pessimistische Prognose, welche die Dringlichkeit der Massnahmen untermauert. In einer Wirtschaft mit einer grossen Produktvielfalt gibt es nicht überraschend auch eine gewisse Prognosevielfalt, so dass für jeden etwas Passendes dabei ist.

 

faktuell.ch: Klingt nach Manipulation. Beispiel Sozialversicherungen, wo teilweise desaströse Prognosen bis ins Jahr 2060 zirkulieren. Positive Entwicklungen – positiver Wanderungssaldo, seit 25 Jahren die höchste Geburtenrate, auf hohem Niveau erstmals seit vielen Jahren gedrosselte Alterung – werden bestenfalls am Rande thematisiert. Wie seriös ist das alles noch?

 

Mathias Binswanger: Schon eine einjährige Prognose für das Bruttoinlandprodukt ist relativ langfristig. Beim demografischen Wachstum kann man die Entwicklung über eine längere Frist voraussehen. Was in der Öffentlichkeit haften bleibt, ist aber oft nicht die Prognose an sich, sondern die mit ihr verbundenen Botschaften. Das dient oft politischen Zwecken. Man kann mit Prognosen Angst schüren oder Zuversicht schaffen. Neutral werden sie selten verwendet.

 

faktuell.ch: Wo bleibt der wissenschaftliche Anspruch – ist es für Ökonomen nicht problematisch, sich in den Dienst von Interessen zu stellen?  

 

Mathias Binswanger: Das heutige Wissenschaftssystem zwingt Wissenschaftler dazu, möglichst viele Drittmittelprojekte zu akquirieren. Damit haben automatisch auch die Interessen der Auftraggeber einen gewissen Einfluss auf die wissenschaftlichen Arbeiten.

 

faktuell.ch: Gekaufte Forschung?

 

Mathias Binswanger: Kein Forscher, den ich kenne, ist direkt käuflich und die wenigsten Wissenschaftler würde Ergebnisse publizieren, die den Fakten widersprechen. Nur sind die Fakten eben nicht immer klar. Durch geeignete Auswahl von Daten oder von statistischen Verfahren, können Ergebnisse beeinflusst werden. Und ein Auftraggeber möchte ja im Normalfall einen bestimmten Nutzen aus einem Forschungsprojekt ziehen. Man kann deshalb nicht erwarten, dass er längere Zeit Geld für Forschung ausgibt, deren Resultate seinen eigenen Interessen widersprechen. Das wäre eine sehr naive Annahme.

 

faktuell.ch: Seit Einführung der obligatorischen Krankenversicherung steigen die Krankenkassenprämien pro Jahr im Schnitt um 4,6 Prozent. Vermag die Ökonomie der Politik eine Handlungsbasis in Form von Szenarien zu geben, bevor sich die Prämien niemand mehr leisten kann?

 

Mathias Binswanger: So wie die Anreize im System gesetzt sind, ist es logisch, dass die Prämien von Jahr zu Jahr steigen. Wer Leistungen bezieht, bezahlt zum grössten Teil nicht selbst dafür, weil diese über die obligatorische Krankenversicherung und Steuern finanziert werden. Zudem besteht eine Informationsasymmetrie auf dem Gesundheitsmarkt: Die Anbieter von medizinischen Leistungen, Medikamenten und Therapien wissen wesentlich besser Bescheid als die Nachfrager, die Patienten. In dieser Kombination haben wir den idealen Wachstumsmarkt. Die Nachfrage lässt sich leicht über das Angebot steuern. In diesem System ist in Wirklichkeit niemand daran interessiert, dass die Kosten nicht steigen. Alle profitieren davon. Die Kosten sollen immer nur bei den andern nicht weiter steigen.

 

faktuell.ch: Das Gesundheitswesen ist gierig und expandiert, die Kosten steigen. Wiegen die neuen Jobs die Kosten auf?

 

Mathias Binswanger: Das Gesundheitswesen wird absehbar zum wichtigsten Arbeitgeber in der Schweiz. Diesen positiven Aspekt muss man auch sehen. Allerdings hat ein immer grösserer Anteil der Arbeit nicht unmittelbar mit ärztlichen oder pflegerischen Leistungen zu tun, sondern mit Administration oder Controlling. Die Fallpauschale hat beispielsweise dazu geführt, dass Spitäler Kodierer anstellen. Auch die Verwaltung und das Management sind viel komplizierter geworden. In den Spitälern muss alles aufeinander abgestimmt und die Qualitätskontrolle flächendeckend sein. Das bedingt sehr viele Arbeitsplätze, die ebenfalls einen erheblichen Teil der Gesundheitsausgaben ausmachen.

 

faktuell.ch: Mehr als anderswo wird das Publikum im Bereich des Gesundheitswesens mit Studien verunsichert, die teils nicht widersprüchlicher sein könnten – mal ist Zucker des Teufels, mal wichtige Energiequelle, usw. Wo bleibt die Seriosität der Forschung?

 

Mathias Binswanger: Man kann die Öffentlichkeit nicht permanent mit falschen Tatsachen zu überzeugen versuchen. Aber man kann steuern, in diese oder jene Richtung, Angst schüren vor gewissen Krankheiten. Das macht es leichter, entsprechende Behandlungsmethoden, Medikamente oder Therapien zu verkaufen. Und dann sind da auch gewisse Forscher, die einfach mit ihren Resultaten auffallen wollen. Und in die Medien gelangt man oft nur, wenn man übertreibt.

 

faktuell.ch: Zurück zur Politik. Die Schweiz hat ein schwerfälliges Politsystem. Bis Entscheide an der Urne gefallen sind, vergehen Jahre. Prognosen, die salopp gesprochen schon überholt sind, bevor die Tinte unter den jeweiligen Forschungsaufträgen trocken ist, passen wie die Faust aufs Auge.

 

Mathias Binswanger: Die Politik verlangt aber Prognosen. Es geht meistens darum, die Verantwortung zu delegieren, so dass ein politischer Entscheid auf eine ökonomische Prognose gestützt werden kann.

 

faktuell.ch:  Also Mutlosigkeit und Absicherung. Was ist die Alternative zur Prognose?

 

Mathias Binswanger: Die meisten Entscheide betreffen die Zukunft. Deshalb muss man auch gewisse Vorstellungen über die Zukunft haben. Es ist oft sinnvoller, mit Szenarien zu argumentieren. Ein Szenario kann einem Entscheid zugrunde gelegt werden, weil es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen wird. Wenn man so argumentiert, ist das realistischer.

 

faktuell.ch: Die Zukunftsszenarien zur Schweiz, die wir vom Bundesamt für Statistik kennen, sind lineare Fortsetzungen des Ist-Zustandes in drei Varianten – tiefe, mittlere, hohe Wahrscheinlichkeit. Reicht das? 

 

Mathias Binswanger: Eine rein lineare Fortsetzung des Ist-Zustands ist auf längere Sicht fast immer falsch. Aber den Bundesämtern fehlt meist der Mut für gewagtere Visionen, weil sie dadurch auch wieder kritisierbar werden. Das Problem in der Ökonomie liegt vor allem auch daran, dass viele der für Prognosen oder Zukunftsszenarien verwendeten Modelle falsch sind.

 

Faktuell.ch: Wie das?

 

Mathias Binswanger: Die Schweizerische Nationalbank beispielsweise arbeitet für Voraussagen über die Inflation permanent mit bestimmten Modellen, die zwar komplex aber unnütz sind. Seit 10 bis 15 Jahren wird deshalb immer vorausgesagt, dass in den nächsten 2 bis 3 Jahren die Inflation ansteigen werde. Dieser Fall ist bis jetzt aber nie eingetreten. Trotzdem arbeitet man weiter mit solchen Modellen, denn die Devise lautet: lieber ein falsches Modell, welches präzis falsche Ergebnisse liefert als eine ungefähr richtige Zukunftsprojektion, die aber nicht modellgestützt ist. Dieser Modellfetischismus ist weit verbreitet.

 

faktuell.ch:  Wenn sich Versicherungen wie bei der 2. Säule mit Prognosen in den Generationenvertrag einmischen, scheint die Interessenlage klar. Aber was bewegt Grossbanken wie UBS und CS, bei Universitätsinstituten Prognosen in Auftrag zu geben, die – wie im Fall der AHV – in der Öffentlichkeit mit Annahmen bis ins Jahr 2060 Angst auslösen?

 

Mathias Binswanger: Die Branche hat tendenziell das Gefühl, dass sich der Staat sonst zu wenig sorgfältig verhält. Aber es geht vermutlich auch um gewisse Interessen. Wenn die AHV als unsicher dargestellt wird, gewinnt die zweite und dritte Säule an Bedeutung und dort mischen die Banken, im Unterschied zur AHV kräftig mit. Die Vorsorge ist letztlich auch ein grosses Business.

 

faktuell.ch:  Die Anreize im Gesundheitssystem sind zu gross, um die Kosten zu dämmen. Dasselbe gilt im übertragenen Sinn auch für die Migration. Sie sind der Meinung, dass die Schweiz die Zustände in den Herkunftsländern nicht ändern kann, also müssten wir die Schweiz als Destination unattraktiv machen. Wie soll das konkret gehen?

 

Mathias Binswanger: Das Problem ist, dass man in der Schweiz nach wie vor von einer Fiktion ausgeht, nämlich von der Fiktion des „politischen Flüchtlings“. Den gibt es aber nur in seltenen Fällen. Zu uns kommen in erster Linie ökonomische Flüchtlinge aus absolut verständlichen Gründen. Sie sind bereit, alles zu riskieren, um ihr Land zu verlassen. Aber nicht, weil sie politisch verfolgt werden, sondern weil die wirtschaftliche Situation in ihrem Land desolat ist. Doch in der Schweiz sind sie dazu gezwungen so zu tun, als ob sie politische Flüchtlinge wären. Diese Tatsache müssten unsere Politiker endlich grundsätzlich anerkennen. Dann würde auch das Theater um die Einstufung einzelner Länder aufhören, aus denen Menschen reingelassen werden und dann plötzlich wieder nicht.

 

faktuell.ch: Sie kritisieren auch die Kommunikation der Behörden, nämlich dass vorgetäuscht werde, Flüchtlinge würden auch abgewiesen…

 

Mathias Binswanger: … wenn sie einmal hier sind, bleiben sie auch. Das ist der Anreiz: zu wissen, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben kann, auch wenn man abgewiesen wird. Sobald diese Menschen hier sind, kann man sie kaum mehr wegweisen. Es ist illusorisch Leute zurückzuschicken, die jahrelang in der Schweiz gelebt haben. Diese vorwiegend jungen Männer sind hier, dürfen aber nicht arbeiten und bekommen wenig Geld. Da ist der Weg in die Kriminalität nicht weit. Wir schaffen damit eine unglückliche Situation.

 

faktuell.ch: Besonders umstritten ist die Aufnahme von Eritreern.

 

Mathias Binswanger: Die grundsätzliche Aufnahme aller Eritreer war ein vorschneller Entscheid, ohne die Situation im Lande wirklich zu kennen. Generell sollten wir die Schweiz jedes Jahr für eine begrenzte Anzahl an Wirtschaftsflüchtlingen öffnen, ohne Eritreer zu bevorzugen. Man kann dann auch Kriterien definieren und Anreize setzen, wer kommen darf. Überlegenswert wäre auch, in den Herkunftsländern Schulen zu eröffnen und den besten Absolventen zu erlauben, sich danach in die Schweiz weiterzubilden und unter Umständen auch dort zu arbeiten. Die Prüfungen in solchen Schulen müssten allerdings von der Schweiz aus durchgeführt werden, da sonst sofort mit Korruption gerechnet werden muss. Es geht also darum, vor Ort in Ländern wie Eritrea Massnahmen zu ergreifen, was zugegebenermaßen nicht immer einfach ist. Aber man sollte zumindest einmal Versuche in diese Richtung unternehmen.

 

faktuell.ch: Forschungsinstitute beziffern die jährlichen Kosten, die eine Million Flüchtlinge in Deutschland verursachen, je nach Institut auf 15, 30 oder gar 50 Milliarden Euro. Gibt es eine annähernd glaubwürdige Kostenberechnung für die Schweiz?

 

Mathias Binswanger: Nein, nicht dass ich wüsste. Das ist aber normal. Egal, ob es sich um die Kosten von Migranten oder die vom Schwerverkehr verursachten Umweltkosten handelt. Man kann je nach Interessenlage sehr hohe oder sehr tiefe Kosten eruieren, weil es schlicht keine exakten Kriterien für die Abgrenzung gibt. Es ist immer die Frage, was man in die Kostenberechnung miteinbezieht. Sind das bei Migranten nur die unmittelbaren Kosten, die sie verursachen oder soll man weiter blicken und Annahmen treffen, wie viele von ihnen später arbeitslos bleiben, oder welche Kosten sie in Zukunft für unser Gesundheitssystem verursachen? Es ist die Frage, wo man da die Grenzen zieht. 

 

faktuell.ch:  Gut, aber eine aktuelle Vollkostenrechnung, wie es sie in anderen Bereichen auch gibt, müsste doch möglich sein. Wo klemmt’s?

 

Mathias Binswanger: Wahrscheinlich will man die Kosten so nicht ausweisen, weil sie sehr hoch sind. Es besteht wohl die Furcht, dass die Vollkostenrechnung die Stimmung in der Schweiz nicht zugunsten der Regierung beeinflussen würde.

 

faktuell.ch: Wäre es nicht ein hehrer Auftrag für Ökonomen, die Kosten für das laufende Jahr zu erheben?  

 

Mathias Binswanger: Das ist schwierig, weil man die Zahlen dazu erhalten müsste. Und die Zahlen erhält man nur, wenn dies politisch auch erwünscht ist. Sonst ist man auf Schätzungen angewiesen. Bei den Migrationskosten geht es auch um Anwaltskosten, Sozialhilfe, Kosten für medizinische Untersuchungen, Kosten für Polizeieinsätze etc.

 

 

Dr. rer.pol. Mathias Binswanger, Ökonom und Publizist, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St.Gallen. Er beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von (Finanz-) Wirtschaft und Gesellschaft, von Glück und Einkommen und dem Wettbewerb in Forschung, Bildung und Gesundheitswesen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Das Gespräch fand im Oktober 2017 statt)

 


Urban Laffer: „In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines.“

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Prof. Urban Laffer, Doyen der Schweizer Chirurgen, über die Kostentreiber im Gesundheitssystem

 faktuell.ch: Herr Prof. Laffer, vom Krankenversicherungsgesetz (KVG) hatte man sich bei der Einführung 1996 kostendämpfende Wirkung versprochen. Wo ist sie geblieben?

 

Urban Laffer: Wer vor 20 Jahren fürs KVG stimmte, wusste nicht, worauf er sich einliess. Die Leute sind mit tieferen Prämien gelockt worden; diese sind aber nicht gesunken. Das hängt allerdings nicht mit dem KVG zusammen, sondern mit der Entwicklung der Medizin, welche die heutigen Behandlungen teurer macht.

 

faktuell.ch: 1996 kamen etwas mehr als 20 Prozent der Versicherten in den Genuss von Prämienverbilligungen durch Steuermittel, heute sind es, je nach Kanton, 30 und mehr Prozent. Ist ein System, das sich nur mit Steuermitteln behaupten kann, ein gutes System?

 

Urban Laffer: Die Prämien sind in der Tat massiv gestiegen und nicht proportional zur Einkommensentwicklung. Insofern ist die Vergünstigung für viele sicher sinnvoll und schlicht auch nötig.

 

faktuell.ch: Wie viel Solidarität jener, die die vollen Prämien bezahlen müssen, ist zumutbar? Wäre es nicht gerechter, die obligatorische Grundversicherung gleich für alle über die Steuern zu finanzieren?

 

Urban Laffer: Im Endeffekt wäre es wieder dasselbe. Wer gut verdient, bezahlt für die anderen. Mich stört nur ein Punkt. Ich habe in meiner Tätigkeit viele Leute kennengelernt, die arbeiten und Steuern bezahlen könnten, dies aus Bequemlichkeit aber einfach nicht tun.

 

faktuell.ch: Was halten Sie vom Vorschlag der Santésuisse, die Minimalfranchise von 300 auf 500 Franken anzuheben, um die Eigenverantwortung zu erhöhen?

 

Urban Laffer: Einen gewissen Effekt hätte die Erhöhung schon. Heute geht man viel schneller zum Arzt als früher. Und der Arzt muss sich jedem annehmen, auch wenn er nur Zeit blockiert, die er für echte Patienten brauchen könnte.

 

faktuell.ch: Wer nur allgemein und erst noch mit Höchstfranchisse von 2500 Franken versichert ist, fährt besser als Zusatzversicherter (halbprivat, privat), wenn er einmal ins Spital muss. Denn mit den eingesparten Prämien kann er sich locker den Komfort eines Einzelzimmers leisten.

 

Urban Laffer: Wenn ein Flugzeug abstürzt, geht es in der ersten und in der Holzklasse allen gleich. Der Pilot kann für die Passagiere erster Klasse nicht besser aufpassen. So ist es auch in der Medizin, mit oder ohne Einzelzimmer. In der Tat ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand jedes Jahr zum Arzt muss, bis etwa 50 gering. Bis dahin kann man sich schon einen gewissen Stock für Spitalkomfort anlegen.

 

faktuell.ch: Bleiben die beiden Vorteile der Zusatzversicherten, den Arzt und das Spital frei wählen zu können.

 

Urban Laffer: Die öffentlichen Spitäler sind Weiterbildungskliniken. Wir bilden den Nachwuchs aus. So gesehen sind das – gerade in der Chirurgie – Lehrlinge. Als Allgemein-Patient nehmen sie in Kauf, dass sie ein Lehrling operiert. Das macht vielen Menschen Angst. Sie kommen ins Spital und es operiert sie irgendwer...

 

faktuell.ch: … der Patient als Versuchskaninchen…

 

Urban Laffer: Neinnein. Wenn ich bei einer Ausbildungsoperation assistierte, passte ich viel besser auf, als wenn ich selber operierte und mir meine grosse Erfahrung zustatten kam.

 

faktuell.ch: Gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwischen öffentlichen und privaten Spitälern?

 

Urban Laffer: Es ist kein eigentlicher Konkurrenzkampf. Die Behandlung im Privatspital ist für die Versicherung teurer. Auch die Honorare der Belegärzte sind höher, weil sie einen Praxisstillstand geltend machen können, was ihnen ausgeglichen wird.

 

faktuell.ch: Kein Kampf um gut betuchte Patienten nach Massgabe von: Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen?

 

Urban Laffer: Das öffentliche Spital muss alle nehmen. Darunter leiden sie zum Teil. In der Cafeteria des öffentlichen Spitals sehen sie die sozialen Probleme einer Gesellschaft. Im privaten Spital haben sie das nicht. Sie können ihre Patienten wählen und andere an die öffentlichen Spitäler verweisen.

 

faktuell.ch: Die Gesundheitskosten in der Schweiz belaufen sich auf rund 70 Milliarden Franken im Jahr, Tendenz steigend. Als besonderer Kostentreiber erweisen sich die Spitäler: von 2011 auf 2012 sind zum Beispiel allein die Spitalausgaben um 2,3 Milliarden oder 9,8 Prozent auf fast 20 Milliarden gestiegen, was rund 2500 Franken pro Einwohner entspricht. Was sind die wichtigsten Gründe dieser Kostenexplosion?

 

Urban Laffer: Allein die Lebenserwartung ist in den letzten 50 Jahren im Durchschnitt um 20 Jahre gestiegen. Dieser Fortschritt hängt mit besseren Medikamenten zusammen, mit generell besserer Gesundheitsversorgung und der Behandlung der Krankheiten. Wenn ich nur die riesigen Fortschritte betrachte, die die Chirurgie in den letzten 20 Jahren gemacht hat…

 

faktuell.ch: ...bis hin zur heutigen Schlüsselloch-Chirurgie…

 

Urban Laffer: …nicht allein wegen der Technik, sondern auch, weil wir daraus viel über die Physiologie gelernt haben, was wir bei andern Operationen anwenden können. Als ich vor 40 Jahren Assistent beim Kantonsspital Basel war, erhielt ein Gallenblasen-Patient mindestens fünf Tage nichts zu essen und musste sicher fünf weitere Tage im Spital bleiben. Heute erhält er nach dem Aufwachen sofort etwas zu essen und ist nach drei bis fünf Tagen wieder zuhause. Als ich vor Jahren meine Arbeit in Biel aufnahm, lag ein Patient im Durchschnitt 13 Tage im Spital, heute sind wir bei 5,5 Tagen.

 

faktuell.ch: Dafür liegt der Patient jetzt länger in der Rehab-Klinik und bezahlt die Sozialindustrie mit Hotelbetrieb statt das Spital.

 

Urban Laffer: Das ist etwas anderes. Früher war der Familienzusammenhalt besser. Der Patient, der nach Hause kam, konnte auf die Pflege in der Familie zählen. Heute muss man für sehr viele – vor allem ältere Patienten – Aufenthaltsorte suchen, weil man weiss, dass sie, auf sich allein gestellt, sich in ihrer Wohnung nicht versorgen können, und sei es nur, dass jemand für sie kochen würde. Das macht das Gesundheitswesen natürlich auch teurer.

 

faktuell.ch: Seit 2012 gilt schweizweit eine neue Spitalfinanzierung: Pauschalfinanzierung dank einheitlicher Zuordnung der Fälle in nach Schweregrad gewichteten Diagnosegruppen („DRG“), multipliziert mit dem verhandelten Preis, der Base Rate.. Im Zeichen von Effizienzsteigerung sollten die Spitäler ihre Leistungen steuern. Wie muss man sich diese Steuerung vorstellen?

 

Urban Laffer: Je grösser eine Operation ist, je mehr Krankheiten der Patient sonst noch hat, desto mehr steigt die Fallschwere bzw. pro Patientengruppe der Case Mix Index  (CMI), bis um das mehrfache der Fallpauschale. Umgekehrt das andere Extrem: Ein Kind, das ja im Prinzip gesund ist, hat beispielsweise bei einem Leistenbruch einen Cost Weight  von etwa 0,3. Das heisst, es steht nur ein Drittel der Fallpauschale zur Verfügung. So wird gesteuert.

 

faktuell.ch: Entscheidend für den Wettbewerb sind aber die schweizweit einheitlichen Fallpauschalen. Sie, Herr Laffer, waren schon bei der Einführung skeptisch, ob die Kantone diese Änderung mittragen würden. War ihre Skepsis berechtigt?

 

Urban Laffer: Grundlage eines fairen Wettbewerbs wäre die freie Spitalwahl. Es ist aber vor der Einführung der neuen Spitalfinanzierung verpasst worden, für alle Spitäler die gleiche Ausgangslage zu schaffen.

 

faktuell.ch: Inwiefern?

 

Urban Laffer: Im Prinzip sollte ein Spital heute nur haben, was es aus der Fallpauschale einnimmt – 45 Prozent zahlen die Versicherungen, 55 Prozent der Kanton. Darüber hinaus sollte der Kanton seine Spitäler eigentlich nicht mehr subventionieren dürfen. Aber das wird hintergangen. Unterschiedliche Fallpauschalen, wobei die Patienten die Differenz selber berappen müssen und nicht ihr Kanton, sind nur das eine; Kantone, die ihre Spitäler mit Steuergeldern „aufrüsten“, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben, das andere. Also kann man die freie Spitalwahl schon wieder vergessen.

 

faktuell.ch: Worin besteht denn der Wettbewerb, wenn die Kosten in allen Spitäler gleich hoch sind – nur in der Reputation?

 

Urban Laffer: Genau. Wir haben in der Schweiz 140 Akutspitäler. 40 würden ausreichen. In den USA, wo ich zwei Jahre gearbeitet habe, nehmen die Patienten Anfahrtswege von einem halben oder einem ganzen Tag auf sich. In der Schweiz hiess es immer, wenn man vom Dach eines Spitals aus nicht das nächste sieht, dann braucht es noch eines. Mit Schliessungen könnte man aber effektiv Kosten sparen.

 

faktuell.ch: Unser hochstehendes Gesundheitssystem zieht betuchte Patienten aus dem Ausland an. Subventionieren wir mit unseren Steuern und Krankenkassenprämien wohlhabende Ausländer?

 

Urban Laffer: Nein. Sie bezahlen die vollen Kosten. Und ihr Ansatz ist so hoch, weil sie sich das auch leisten können. Ein Spital, das sich das entsprechende Renommee aufgebaut hat, muss das auch tun, weil es da um zusätzliche Einnahmen geht.

 

faktuell.ch: Stichwort: Ökonomie. Passen ökonomische Effizienzüberlegungen überhaupt zum Gesundheitsbetrieb, zum Beruf des Arztes, der doch alles in seiner Macht stehende tun sollte, um dem Patienten zu helfen?

 

Urban Laffer: Heute ist der Arzt zu ökonomischen Überlegungen aufgefordert, weil alles, was er macht, unter die Fallpauschale fällt. Also muss er überlegen, ob eine bestimmte Untersuchung wirklich sinnvoll ist. Oder soll er den Patienten nach Hause entlassen und ihm empfehlen, die Untersuchung beim Hausarzt zu machen, was der Kasse wieder verrechnet werden kann.

 

faktuell.ch: Mit andern Worten: Nichts unversucht zu lassen, ist zu teuer; etwas zu unterlassen aber für den Patienten gefährlich – und für den verantwortlichen Arzt unter Umständen teuer?

 

Urban Laffer: Falsch. Ich komme auf die KVG-Abstimmung von 1996 zurück. Der Bevölkerung hat damals kein Mensch erzählt, was mit einer Annahme des neuen KVG auf die Gesunden zukommen würde…

 

faktuell.ch: ...auf die Gesunden?

 

Urban Laffer: Ja, dass sie mit dem ökonomischen Denken in der Medizin Abstriche auf sich nehmen müssen. Dass man beispielsweise einen Arzt nicht mehr einklagen kann, wenn er etwas nicht untersucht. Oder wenn ein Patient noch drei Tage länger im Spital bleiben wollte, weil zuhause sein Badezimmer renoviert wurde, hat man das selbstverständlich erlaubt. Heute geht das nicht mehr. Das sind Dinge, die der Bevölkerung nicht bewusst waren, als sie dem neuen KVG zugestimmt hat.

 

faktuell.ch: Eine OECD-Studie, die die Häufigkeit von 5 Operationen untersucht hat, stellte fest, dass die Schweiz bei den meisten Operationen zur Gruppe der Länder mit einer hohen Rate gehört. Wir bei uns zu viel operiert?

 

Urban Laffer: Zum Teil, ja.

 

faktuell.ch: Erklärt das die gewaltige Zunahme gewisser Operationen – beispielsweise der Knieprothesen-Operationen, die sich innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt haben?

 

Urban Laffer: Die Knieprothese gibt es noch nicht so lange, und sie hatte am Anfang noch ihre „Kinderkrankheiten“. Heute weiss man, dass es gut herauskommt, dass auch computerassistiert navigiert wird, damit die Flächen richtig stimmen. Das erklärt einen Teil der Zunahme. Der andere hat damit zu tun, dass die Menschen älter werden…

 

faktuell.ch: ...dank der medizinischen Fortschritte…

 

Urban Laffer: … und dank den Ansprüchen der Patienten, die sich verändert haben. Ich wuchs in einem Dorf auf. Da sah ich viele Bauern unter Schmerzen aufs Feld humpeln. Als ich schon Arzt war, riet ich ihnen, die Hüfte untersuchen zu lassen. Aber sie meinten, das gehe ganz gut so, wie es sei. Heute sind wir weniger bereit, mit Schmerzen zu leben. Lebensqualität geht vor.

 

fakutell.ch: In der Schweiz kommen auf 8 Millionen Einwohner 900 Orthopäden, in den Niederlanden auf 17 Millionen nur 650. Ist das der Grund, dass bei uns häufiger zum Skalpell gegriffen wird, wie Bernhard Christen sagte, der frühere Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie?

 

Urban Laffer: Das hat schon einen Einfluss. Es geht immer auch ums Überleben.

 

faktuell.ch: Wäre für Sie eine Altersbeschränkung für Operationen vertretbar, wie sie beispielsweise in Grossbritannien diskutiert wird?

 

Urban Laffer: Nein. Ich hoffe sehr, dass wir in der Schweiz nie so weit kommen, dass wir Altersbeschränkungen für medizinische Behandlungen einführen. Bevor wir rationieren, gibt es noch viel zu rationalisieren.

 

faktuell.ch: Klingt nach weniger Komfort?

 

Urban Laffer: Wir sollten uns bewusst sein, wie hochstehend unser Gesundheitswesen ist. Täglich wird geputzt, die Bettwäsche gewechselt, es gibt drei Menus zur Auswahl etc. Da gibt es noch sehr viel Luxus. In Italien bringen die Angehörigen das Mittagessen ins Spital. Komfort hat einen Preis. Wenn gespart werden muss, sollten wir uns in Ruhe überlegen, was sinnvoll ist und was nicht. Mir ist wichtig, dass die Bevölkerung weiss, wie die Konsequenzen von Sparmassnahmen aussehen, und dass man nicht einfach die Leistungserbringer zum Sparen auffordert.

 

faktuell.ch: Vielleicht ist der Leistungskatalog der Krankenkassen zu breit?

 

Urban Laffer: Das beschäftigt mich schon lange. Aber es ist fast nicht möglich, etwas zu ändern. Heute gibt es Bestimmungen, welche Leistungen nicht bezahlt werden. Aber eine Richtlinie oder Verfügung, welche Leistungen bezahlt werden, gibt es nicht. Wir haben eine Negativliste, aber es fehlt eine Positivliste.

 

faktuell.ch: Gehört die Schönheitschirurgie in den Leistungskatalog?

 

Urban Laffer: Nein, nur die Wiederherstellungschirurgie wie Brustimplantate nach Krebsoperationen oder schlecht verheilte Narben nach Verbrennungen.

 

faktuell.ch: Ein Arzt, der reine Schönheitschirurgie macht, ist eigentlich ein Restaurateur. Die mittlerweile zu einiger Prominenz aufgestiegene Daniela Katzenberger bezeichnet sich als lebendes Ersatzteillager. Wo hört der Spass auf?

 

Urban Laffer: Die Person, die so etwas macht, fällt einen persönlichen Entscheid, der die Allgemeinheit nicht belastet. Problematisch, aber kaum anders zu lösen,  ist allerdings, dass die Versicherungen die Komplikationen solcher Eingriffe zahlen müssen, weil sie unter Krankheit laufen.

 

faktuell.ch: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) spielt im schweizerischen Gesundheitssystem eine Schlüsselrolle. Brauchen wir überhaupt einen gesundheitspolitischen Vormund, wie es das BAG für viele darstellt?

 

Urban Laffer: Wir nähern uns in der Gesundheitspolitik tatsächlich einer Planwirtschaft, statt dass wir den Wettbewerb spielen lassen und gewisse Entscheidungen noch selber treffen können. Das BAG mischt sich immer öfter in die Gesundheitsbehandlung ein, die nicht seine Aufgabe ist. Beispielsweise kann es die Qualitätssicherung, für die sich das Amt jetzt stark machen will, ruhig den medizinischen Fachgesellschaften überlassen.

 

faktuell.ch: Befürchten Sie den manchmal fast missionarisch anmutenden Eifer der Gesundheitsbeamten?

 

Urban Laffer: Nein. Prävention kann ich akzeptieren, solange es bei Empfehlungen bleibt. Sie können als Bürger mitmachen oder nicht. All diese Kampagnen im Namen der Volksgesundheit bewirken, dass die Bevölkerung noch älter wird, die Behandlungen noch teurer werden, und dass wir immer mehr Posthospitalisations-Institutionen brauchen, mehr Pflegeheime – das ist der Effekt.

 

faktuell.ch: Wer ist im Seilziehen der wechselnden Interessen zwischen Patienten, Ärzten, Pharmaindustrie, Krankenkassen und Staat, also BAG, Kostentreiber?

 

Urban Laffer: Das sind alle. Unsere Politiker sind sich dessen aber nicht immer bewusst. Ein Beispiel: Die Übernahme von EU-Normen nach dem Rinderwahnsinn hat das Spital Biel 3,5 Millionen gekostet. Früher hatte man ein Instrumentarium, das nach Gebrauch gewaschen, dann sterilisiert und dann wieder gebraucht wurde. Seit dem Rinderwahn ist das nicht mehr ausreichend. Dabei gibt es eine Statistik, die zeigt, dass in England mehr Lastwagenchauffeure beim Abtransport von getöteten Rindern starben, als Patienten an Rinderwahnsinn.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr

 

(Das faktuell.ch-Gespräch mit Prof. Urban Laffer hat im Mai 2015 stattgefunden.)

 

 


Urban Laffer,

Professor für Chirurgie, war von 1995 bis Ende April 2015 Chefarzt der Chirurgischen Klinik am Spitalzentrum Biel. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrere Standesorganisationen präsidiert, so die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie (2002-2004) und den Verband der chirurgisch und invasiv tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz (seit 2004)


Heinz Locher: «Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh.»

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Heinz Locher, Gesundheitsökonom, Unternehmensberater, Publizist und Dozent

 

Heinz Locher

 

faktuell.ch: Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 haben sich die Prämien verdoppelt. Trotz des politischen Versprechens von damals, alles werde billiger. Kostentreiber sind alle Mitspieler im Gesundheitswesen: Ankurbler Wissenschaft / Pharmaindustrie, umsatzinteressierte Krankenkassen, Spitäler und Ärzte, anspruchsvolle Versicherte und eine Politik, die die Exzesse nicht kontrollieren kann. Beginnen wir mit der Wissenschaft. Wie kann man sie bremsen, laufend neue Krankheiten zu finden, Herr Locher?

 

Heinz Locher: Die muss man nicht bremsen. Die Wissenschaft hat ihre eigene Gesetzmässigkeit. Der Wissenschafter muss tun, was es braucht, um in den Peer Review- Zeitschriften publizieren zu können. Peer Review (Gutachten von Gleichrangigen zwecks Qualitätssicherung) erzeugt einen Konformitätsdruck. Ganz originelle Typen haben keine Chance, den Gutachtern zu genügen. Wissenschafter befassen sich mit hoch aktuellen Themen, von denen sie sich eine gewisse Resonanz versprechen. Für gute Resonanz gibt es Forschungsgelder und mit der Forschung den Vorsitz in Beiräten oder die Rolle als Mitherausgeber von wissenschaftliche Publikationen. Diese Gesetzmässigkeit orientiert sich nicht unbedingt nach den Bedürfnissen der Bevölkerung. Das ist ein Problem. Wenn sich ein Wissenschafter diesem Druck entziehen will, muss er es sich finanziell leisten können und bereits ein sehr hohes Prestige haben. Da haben wir eine gewisse Tragik.

 

faktuell.ch: Eine weitere Preis-Ankurblerin ist die Pharmaindustrie.

 

Heinz Locher: Die Pharmaindustrie ist dazu verdammt, ihren Aktionären zu gefallen. Ob die Pharmapreise zu hoch sind, kann man nicht den Pharmapreisen ablesen, sondern am exorbitanten Wert der Firmen bei Fusionen oder Verkäufen. Für mich heisst das: Mehr öffentliche Mittel in die Forschung investieren. Wir, die Bevölkerung, müssen bereit sein, das Geld via Steuern statt via Prämien zu bezahlen. Das wäre für mich ein Korrekturfaktor. Das ist nicht sehr populär, aber entweder wollen wir ein Ergebnis erzielen oder Ideologien folgen.

 

faktuell.ch: Ist nicht endlich eine ethische Diskussion darüber nötig, bis in welches Alter teure Operationen und Medikamente für jedermann sinnvoll sind?

 

Heinz Locher: Das ist eine Frage des Gesichtspunkts. Ist es aus Patientensicht sinnvoll, einer 93jährigen Frau Chemotherapie zu geben, wenn die Lebensverlängerung darin besteht, drei Monate länger an Schläuchen zu hängen. Das ist nicht sinnvoll. Einverstanden. Aber aus Kostensicht muss ich sagen, eine Rationierung brauchen wir wirklich nicht.

 

faktuell.ch: Lebensverlängerung ist das eine. Wie sieht es aus, wenn bei einer schwangeren Frau festgestellt wird, dass der Embryo schwer geschädigt ist, im Leben nur vegetieren und die Gesellschaft viel Geld kosten wird?

 

Heinz Locher: Das soll die Frau entscheiden. Wir verschwenden in der Schweiz derart viel Geld für Unnötiges, da liegt das drin. Von dieser Diskussion sind wir bei unseren jetzigen Gesellschaftsverhältnissen noch weit, weit entfernt.

 

faktuell.ch: Krankenkassen sind gewinnorientiert. Sie möchten möglichst wenig kranke Versicherte und möglichst hohe Prämien.

 

Heinz Locher: Die Krankenkassen sind die grössten Versager im System. Sie machen ihren Job nicht. Krankenkassen interessieren sich – zugegebenermassen etwas zugespitzt und verkürzt gesagt - für die Risikoselektion von Versicherten, für die Optimierung der Maklergebühren, für den Bonus des CEO. Eigentlich sollten sie Treuhänder der Versicherten sein und Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitssystems in deren Sinne tragen aber das kann man vergessen. Sie wären wichtig als Korrektiv zu den anderen Kräften, die auch eine Legitimation haben (Kantone, Leistungserbringer). Aber diese Rolle wollen und können sie nicht wahrnehmen. Totaler Ausfall. Damit fehlt ein Player. Es ist wie ein Parallelogramm, bei dem ein Vektor ausfällt. Dann gibt es Verzerrungen.

 

faktuell.ch: Inwiefern versagen denn Spitäler und Ärzte, die betriebswirtschaftlich denken, ihre Maschinen amortisieren und möglichst viele Operationen durchführen müssen?

 

Heinz Locher: Als Unternehmensberater sehe ich, unter welchem Druck sie stehen: «survival of the fittest», also purer Darwinismus. Dem kann sich keiner entziehen und wird davon angetrieben. Ich sehe die Lösung darin, dass die Regulatoren, also Bund und Kantone, durch eine intelligente Regulierung strukturell Voraussetzungen schaffen für anständige Qualität. Die beginnt nicht beim Ergebnis, sondern beim Festlegen von Auflagen, wer wie qualifiziert sein muss, Mindestmengen – also Qualität schon am Anfang.  

 

faktuell.ch: Damit geht es auch in Richtung integriertes Gesundheitswesen, bei dem zu Medizin und Pflege auch soziale, juristische und finanzielle Beratung und Unterstützung kommen?

 

Heinz Locher: Ja, die integrierte Betreuung müsste hinzukommen. Unser Gesundheitswesen ist immer noch auf eine junge Bevölkerung ausgerichtet. Man hat eine Krankheit, einen Unfall und wird geheilt. Erledigt. Bei einer Bevölkerung mit multimorbiden (an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidenden), chronisch Kranken ist das Ziel nicht heilen, sondern erhalten der Lebensqualität. Wir haben Akutspitaler, Ärzte, Spitex, Pflegeheime. Alle leben nebeneinander her, alle haben ein anderes Finanzierungssystem. Also gibt es keine integrierte Versorgung. Und wer koordiniert, wird dafür nicht bezahlt. Die grosse Veränderung muss da stattfinden.

 

faktuell.ch: Und wie soll die zustande kommen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen grosse Wellen: ein neues Gesundheitsverständnis, eine neue Erwartungshaltung, aber nicht im Sinn von Verzicht, sondern von einer Neustrukturierung des Versorgungssystems. Es muss der Zusammensetzung der Bevölkerung gerecht werden, also auf multimorbide, chronisch Kranke ausgerichtet sein.

 

faktuell.ch: Braucht es eine der – oft umstrittenen – Aufklärungskampagnen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG)?

 

Heinz Locher: Nein, das bringt nichts. Aufklärung, Prävention kann das BAG punktuell machen. Bei HIV beispielsweise war das sinnvoll. Aufklärung ist gut, aber nicht nur Aufgabe der Behörden. Primär muss die Bewegung von unten kommen, «grass root». Es ist in der Schweiz fast revolutionär, wenn man fragt, was denn gut wäre für die Versicherten. Da käme man weit weg von den gängigen Themen in der Gesundheitspolitik.

 

faktuell.ch: Wie am besten vorgehen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen jemanden, der die Interessen der Bevölkerung vertritt. Die Patientenstellen sind zu schwach und haben auch kein Geld. Vielleicht ist die Zeit reif für das Projekt «TCS für Versicherte und Patienten»

 

faktuell.ch: Stellen wir doch noch die politische Verantwortungsfrage: Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 verzeichnen wir vier Vorsteher des Eidg. Departements des Innern: Dreyfuss, Couchepin, Burkhalter und Berset. Weshalb ist es der Gesundheitsministerin Dreyfuss und den drei Gesundheitsministern nicht gelungen, die Kostenexplosion zu stoppen? Sind sie schlecht beraten oder ist das System zu träge?

 

Heinz Locher: Das System ist nicht zu träge. Es geht einfach allen immer noch zu gut.

 

faktuell.ch: Es geht uns zu gut?

 

Heinz Locher: Ja, allen. Jetzt gibt es allerdings erste Erosionserscheinungen. Die schwarze Liste. Oder Leute, die eine Franchise von 2500 Franken wählen und nicht zum Arzt gehen können. 10% der Bevölkerung können die Franchise nicht bezahlen. Das sind Zerfallserscheinungen. Uns bleibt immerhin noch eine Chance. Ich war starker Befürworter des Krankenkassen-Obligatoriums. Krankheit sollte nicht ein Verarmungsgrund sein. 

 

faktuell.ch: Das Problem wird gelöst mit Prämienverbilligungen…

 

Heinz Locher: …oder eben nicht mehr. Ich bin der Meinung, dass man die Belastung der Haushalte deckeln muss, bei etwa 10% des Haushaltbudgets. Alles andere geht zu Lasten der Steuerzahler. Die Steuern sind – im Unterschied zu den Prämien – progressiv. Man muss dafür sorgen, dass das Ventil, nämlich höhere Prämien, gestopft wird, dann gibt es höhere öffentliche Ausgaben. Das ist vordergründig eine blosse Verlagerung der Finanzierung. Hintergründig aber nicht. Denn einer, der sich nicht wehren kann, wird ersetzt durch einen, der sich wehren kann, nämlich durch die Kantone. Die müssen zahlen. Die Kantone können entscheiden, was und wie viel sie sich leisten wollen und damit sind die Ausgaben demokratisch legitimiert. Denn es findet eine Diskussion mit der Bevölkerung darüber statt, wie viel das Gesundheitssystem kosten darf. Was wir für die Gesundheit ausgeben, können wir nicht für die Bildung ausgeben und der Steuerzahler hat das Geld auch nicht mehr im Sack, um damit zu tun, was er will. Diesen demokratisch legitimierten, zwingend informierten Diskurs muss es geben. Vielleicht ist die Bevölkerung bereit, mehr für das Gesundheitswesen auszugeben. Ich bezweifle allerdings, dass man mehr ausgeben kann als heute. Wir geben schon viel zu viel aus für überflüssige Leistungen. Das ist eben nicht wie beim Schwimmer im WC-Spülkasten. Wenn der oben ist, stellt das Wasser ab. So einen Schwimmer haben wir nicht im Gesundheitswesen.

 

faktuell.ch: Geht es da nicht auch um eine ideologische Frage. Wer für Solidarität ist, will Staat, wer Wettbewerb befürwortet, will ihn nicht.  

 

Heinz Locher: Man muss Bund und Kantone bestrafen für ihre Nicht-Tätigkeit. Der Bund bezahlt den Kantonen einen Fixbeitrag an die Kosten, 7,5%. Der Bund hat eine gewisse Verantwortung für die Zulassung von Leistungen und Preisen. Ich bin der Meinung, das muss man verdoppeln. Der Bund muss auch mehr bluten, die Kantone die Hauptlast tragen und den Rest bezahlen. Es muss weh tun. Die Prämie a gogo erhöhen geht nicht. Selbstbehalt und Franchise sind ohnehin schon hoch. Anlässlich der Budgetdebatte in der Kantonsregierung wird es dann heissen, der Gesundheitsdirektor sei ein frecher Kerl. Die Regierung hat 40 Millionen Franken zu verteilen und der hat schon 25 kassiert. Und zwar als gebundene Ausgabe. Nichts zu machen. Also werden die Stimmbürger gefragt, ob sie eine Steuererhöhung wollen. Das ist der Mechanismus, den ich sehe. Die Prämienzahler haben natürlich auch ihren Beitrag zu leisten. Langfristig muss man ihre Erwartungshaltung korrigieren. Das dauert eine halbe Generation. In der Zwischenzeit muss man ihnen den Stoff knapphalten.

 

 faktuell.ch: Sie sagen, wir haben noch genug Geld…

 

Heinz Locher: …schon, aber die Finanzierung ist unsozial. Deshalb muss man das stoppen und es muss denen weh tun, die sich wehren können. Und wenn sie sich nicht wehren wollen, wie beispielsweise in Neuenburg, wo die Bevölkerung zwei Spitäler will, sollte man vielleicht eher die Bevölkerung auswechseln als die Regierung…

 

faktuell.ch: Sie haben auch schon gesagt, das Gesundheitssystem in der Schweiz liege am Boden. Umfragen zeigen aber, dass nur ein Prozent der Versicherten damit unzufrieden ist.

 

Heinz Locher: Gut, das hat natürlich einen anderen Zusammenhang. Wenn man das international vergleicht…

 

faktuell.ch: sind wir super…

 

Heinz Locher: …ja, die Frage ist, wo wir super sind. Super sind wir sicher beim so genannten «access», beim Zugang. Noch! Jetzt haben wir aber die schwarze Liste, auf der immer mehr Leute stehen, die nicht mehr zum Arzt gehen können, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen. Die Frage ist, müssen sie oder ich für 300 Franken Franchise und 700 Selbstbehalt Zugang zu 15'000 Ärzten haben? Könnte man mit dem Grundabonnement den Zugang nicht auf 1000 Ärzte beschränken? Das wäre keine echte Einschränkung. Und wenn ein Versicherter mehr will, muss eine Überweisung stattfinden.

 

faktuell.ch: Weshalb wehren sich die Versicherten nicht gegen die laufende Erhöhung der Prämien?

 

Heinz Locher: Weil sie eben zufrieden sind. Um sie aufzurütteln, müsste man ihnen einen «sense of urgency», ein Gefühl der Dringlichkeit vermitteln.

 

faktuell.ch: Und wie kriegen Sie das hin?

 

Heinz Locher: Es gibt die zynische Variante. Dort ansetzen, wo es weh tut. Das geht nicht. Da gehen die Leute unter. Das zeigt sich jetzt bei der schwarzen Liste. Ich finde das absolut skandalös. Wenn Sie die Prämie nicht mehr bezahlen können, kommen sie auf einen Status zwischen Strafgefangenem und Sans Papier. Es kann doch nicht sein, dass sie ihr Leben lang Prämien bezahlen und wenn sie klamm sind, dann nichts erhalten. Aber das wird knallhart durchgezogen. Da ist die Schwangere, die man im Spital nicht entbinden will, weil sie die Prämien nicht bezahlt hat. Solche Fälle gibt es immer häufiger. Leute im Strafvollzug und Asylbewerber sind obligatorisch versichert. Wenn aber ein ausländischer Dieb in der Schweiz in die Kiste kommt, dann ist er nicht KVG-versichert. Er muss den Arzt selber bezahlen. Er hat aber kein Geld. Konkreter Fall: Ein inhaftierter osteuropäischer Dieb hatte Nierensteine. Das ist sehr schmerzhaft, aber es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr. Da wurde medizinisch nichts unternommen. Das ist das Niveau. Das ist die Realität. Und das weiss kaum jemand.

 

faktuell.ch: Sie wissen was zu tun wäre. Weshalb können sich Gesundheitsökonomen politisch nicht durchsetzen?

 

Heinz Locher: Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh. Ich bin der Meinung, dass die Revolution nicht aus Bomben besteht, sondern dass man das System destabilisieren muss. Konstruktiv. Ein Weg, den ich vorschlage: Die Versorgungsverantwortung, die heute die Kantone haben, muss auf den Bund übergehen. Der will das zwar nicht und die Kantone sind auch nicht einverstanden. Aber immerhin haben wir ab 1848 auch die Schweizer Armee eingeführt, den Schweizer Franken, die SBB. Man fragte sich damals, auf welcher Ebene ein Problem gelöst werden muss und kam zum Schluss, dass die nationale Ebene die richtige ist. Das ist nicht ein Kantonsproblem.

 

faktuell.ch: Was heisst das heute für das Gesundheitswesen?

 

Heinz Locher: Wenn man das Gesundheitswesen neu auf Bundesebene ansiedeln würde, dann müssten sich sämtliche Akteure neu bewerben. Die Vögel würden auffliegen vom Telefondraht und man könnte mit Interesse zusehen, wo sie landen. Man müsste nicht alles, wie beispielsweise die Spitalplanung, eins zu eins von den Kantonen auf den Bund übertragen, sondern nur die Regulierungsebene ändern. Der gegenwärtige Gesundheitsminister Alain Berset hat hohen Respekt vor den Kantonen. Das ist realpolitisch vernünftig. Aber von der Sache her überhaupt nicht. Mit den Kantonen will der Bund nicht Krach haben, was heisst, dass keiner für etwas verantwortlich ist. Kollektive Verantwortungslosigkeit. Jeder macht, was er will, keiner was er soll und alle machen mit. Das System bleibt wie es ist, solange nicht eine Katastrophe passiert. Eine Katastrophe scheinen mir allerdings schon die 1000 bis 3000 Toten pro Jahr zu sei, die man vermeiden könnte. Das Gesundheitswesen ist wie Zivilluftfahrt eine Risikoindustrie. Und 20 bis 30 Jahre im Hintertreffen. In den 1990er-Jahren gab es viele Flugunfälle wegen der Hierarchie im Cockpit. Der Kopilot sieht den Fehler, wagt sich aber nicht, den Captain darauf hinzuweisen. Er muss jeden Captain kennen, um zu wissen wie weit er gehen kann, ohne dass seine Karriere im Eimer ist. Genauso ist es heute noch im Operationssaal. Die  assistierende Pflegefachfrau kann nicht einfach sagen, die Blutgruppe sei B, wenn der Herr Professor behauptet, es handle sich um A. Das ist die Hierarchie.

 

faktuell.ch: Es gibt Versicherte, die den Arzt regelmässig aus purer Langeweile oder Ängstlichkeit besuchen. Ist es denkbar, sie für überflüssige Konsultationen bezahlen zu lassen?

 

Heinz Locher: Ja, aber das macht den Braten nicht fett. Schlimm sind die Franchisen. Wer sagt, eine hohe Franchise sei Ausdruck der Selbstverantwortung, der erzählt völligen Nonsens. Eine hohe Franchise sollten – wenn schon - diejenigen wählen, die sie problemlos zahlen können. Leider wird sie aber von denen gewählt, die weder gesund sind, noch sie sich leisten können. Dann liegen sie finanziell am Boden. Solche Dinge muss man aufdecken. Ich bin der Einzige, der Bundesrat Berset, der gegen zu hohe Rabatte für hohe Franchisen war, öffentlich unterstützt hat. Es dürfte eigentlich gar keine höhere Wahlfranchise geben. Wer das Glück hat, gesund zu sein und Geld zu haben, der soll die Prämie bezahlen. Denn wegen der Rabatte fehlt Geld, mit dem man den Kranken helfen könnte. Es muss eine vermehrte Solidarität gesund – krank geben.

 

faktuell.ch:  Die Probleme liegen ausgebreitet vor uns. Woran hapert es politisch und wie lautet Ihr Appell an die grosse Politik, National- und Ständerat?

 

Heinz Locher: Für Gesundheitspolitik braucht es eine enorme Sachkenntnis.  Sonst macht man Blödsinn. Wir brauchen eine neue Generation von verantwortungsbewussten, kompromissbereiten Politikerinnen und Politikern, wie man sie in andern Politikbereichen findet. Steuerreformen und AHV-Revisionen kamen so zustande. Dort übernahmen Parlamentarier Verantwortung und stärkten damit natürlich auch den Bundesrat. Mein Appell: Übernehmt Verantwortung, zeigt Euch, ihr neuen Gesundheitspolitiker! Aber eben: Jeder, der in die Gesundheitskommission kommt, hat am nächsten Tag schon fünf Beirat- und Verwaltungsratssitze. Oder umgekehrt. Die schlimmste Lobby ist nicht die der Krankenkassen, sondern der Pharma. Wenn man den Beiräten der Krankenkassen einen Leistungslohn bezahlen würde, dann müssten die noch Geld herausgeben – bei dem was sie bewirken.

 

faktuell.ch: Also geht es nicht darum, Kosten zu dämmen, sondern das System zu ändern.

 

Heinz Locher: Es geht um Zugang und Qualität. In der Qualität sind wir nicht Weltmeister. Das wird einfach immer behauptet. Wir sind nicht schlecht, aber liegen nur etwa im oberen Drittel. Wir haben aber beispielsweise keine systematischen Qualitätsmessungen im ambulanten Bereich. Und wenn man nichts misst, kann man alles behaupten. Wir sind weit weg vom Idealzustand, insbesondere vom künftigen Idealzustand. Die eine Frage ist, kann die Volkswirtschaft die Kosten bezahlen. Die Antwort lautet ja. Die andere Frage lautet, ob die Finanzierung sozial ist. Die Antwort ist ein deutliches nein. Dort muss man stoppen. Die Betroffenen sollen sich wehren können.

 

Gesprächsführung: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses faktuell.ch-Gespräch hat im Juni 2018 stattgefunden.)

 


Monika Bütler: "Teuer sind nicht die Armen. Teuer ist der Mittelstand, der sich selber finanzieren könnte und es nicht tut."

 

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Monika Bütler, Professorin für Volkswirtschaftslehre und Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen

 

faktuell.ch: Frau Prof. Bütler, Sie sprechen in einer Kolumne von einer „tickenden Anstandsbombe“, wenn von der Finanzierbarkeit des schweizerischen Sozialstaates die Rede ist. Was meinen Sie damit konkret?

 

Monika Bütler: Jedes unserer Sozialsysteme – vielleicht mit Ausnahme der Altersversicherung, in der das Alter zweifelsfrei messbar ist – ist auf einen gewissen Anstand angewiesen, sonst funktioniert es nicht. Mit der Urbanisierung und Globalisierung nehmen die Hemmungen aber ab, Leistungen zu beanspruchen. Bedenklich ist es dann, wenn Leute Leistungen beziehen, die sich selber finanzieren könnten.

 

faktuell.ch: Müsste man jene bestrafen, die Leistungen unkontrolliert abgeben?

 

Monika Bütler: Missbrauch lässt sich nie verhindern. Zudem ist ein Grossteil der Fälle in der Grauzone. Sie sehen einem Menschen nicht an, ob er wirklich nicht arbeiten kann. Empirisch belegt ist allerdings: Je höher die Leistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unberechtigte Leistungen beantragen  – und, gerade weil es oft nicht eindeutig ist. diese Leistungen auch erhalten. Das Problem nur mit Kontrollen zu lösen, ist illusorisch.

 

faktuell.ch: Verschiedene Untersuchungen kommen zum Schluss, dass in der Schweiz auf jeden Sozialhilfebeziehenden mindestens zwei Personen kommen, welche berechtigte Unterstützungsleistungen nicht beanspruchen…

 

Monika Bütler: …da muss man unterscheiden. Es gibt eine grosse Gruppe von Leuten, denen Leistungen auf dem Papier zustehen, die aber nicht wirklich bedürftig sind. Ein Student, der in St. Gallen wohnt, gilt mangels Einkommen auf dem Papier als bedürftig, ist es aber natürlich nicht. Eine zweite Gruppe von Menschen bezieht die Leistungen aus Stolz oder anderen Gründen nicht, obschon sie wenig Geld hat. Viele AHV-Bezüger haben auch das Gefühl, Ergänzungsleistungen seien nur für Leute, die wirklich gar nichts haben, und nicht für solche, die bereits eine AHV-Rente haben. Eine dritte Gruppe kennt die ihnen zustehenden Leistungen nicht.

 

faktuell.ch: Hätte man da nicht die Pflicht, diese Leute auf ihre Ansprüche aufmerksam zu machen?

 

Monika Bütler: Die letzte Gruppe ja. Aber man muss nicht gerade den Schuhlöffel hinhalten Ein gutes Beispiel für mich: Die Stadt Luzern hat Betreuungsgutscheine für Krippen eingeführt. Jetzt zeigt sich, dass plötzlich viele Leute subventionierter Betreuung nachfragen, weil sie endlich wissen, wie sie zu einem subventionierten Platz kommen. Vorher war es so, dass jene, die den subventionierten Platz am meisten brauchten, keinen hatten.

 

faktuell.ch:Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat bekräftigt, dass sie an Leistungen mit Anreizcharakter festhalten will. Warum braucht es Anreize, damit sich jemand Mühe gibt, seine Lage zu verbessern?

 

Monika Bütler: Ich finde das Anreizsystem in der Sozialhilfe eine totale Fehlkonstruktion. Der Unterschied zwischen der Sozialhilfe und einem Erwerbseinkommen müsste den Anreiz bieten zu arbeiten. Offenbar tut sie dies nicht, weil sie zu grosszügig ist – gerade für Junge. Für einen 55-jährigen Ausgesteuerten gilt dies natürlich nicht. Zusätzliche Leistungen zu einer Sozialhilfe, die ohnehin mit dem sozialen Existenzminimum viel mehr als das Existenzminimum abdeckt, halte ich für einen teuren Unsinn. Was schlussendlich als Anreiz verkauft wird, ist in den meisten Fällen ein negativer Anreiz – ein Anreiz, ein paar Stunden zu arbeiten und dann wieder aufzuhören. Solche Anreize hindern die Leute eher daran, aus der Sozialhilfe herauszukommen.

 

faktuell.ch:Die Volkswirtschaftslehre erklärt, dass Individuen mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize reagieren. Kurz: Man nimmt, was aus freien Stücken offeriert wird…

 

Monika Bütler: ...und versucht das Beste draus zu machen. Das gilt nicht nur für Sozialhilfeempfänger, sondern auch für Firmen und Steuerzahler. Es wäre im übrigen sinnvoller, Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten in der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen nicht separat abzurechnen. Die Sozialhilfebezüger sollten den gesamten Betrag erhalten, der ihnen zusteht. Dann können sie selber entscheiden, ob sie mehr für eine Wohnung bezahlen oder ihre Zähne flicken lassen wollen. Das Aufschlüsseln der Leistungen führt eher zu Überkonsum. Gerade der Mietzinswucher in Zürich ist ein gutes Beispiel. Wenn die Sozialhilfeempfänger die Wohnungsmiete von 1100 Franken aus ihren Bezügen selber bezahlen müssten, würden viele ein solches Loch für ihr Geld nicht akzeptieren. Zahlt hingegen der Staat, nimmt man es hin. Gibt man den Leuten das Geld in die Hand, kann jeder damit das Beste für sich machen. Nehmen wir zum Beispiel die Ergänzungsleistungen: Weshalb soll ein alter Mann, der bescheiden in einem ganz kleinen Zimmer wohnt, und dafür jeden Tag sein „Zweierli“ trinken geht, weniger erhalten, als jemand, der Wohn- und Gesundheitskosten ausreizt? Ich finde das nicht besonders liberal. Die Anreize gehen in die falsche Richtung.

 

faktuell.ch: Die Leistungsbezüger sollen selber mehr Verantwortung übernehmen können?

 

Monika Bütler: Genau. Natürlich gibt es Menschen, die das nicht können, ihnen soll man helfen. Die meisten würden aber lernen, einzuteilen.

 

faktuell.ch: Mancherorts verspricht man sich viel vom Einsatz von Sozialinspektoren als Kontrolleure der Anspruchsberechtigung. Was halten Sie davon?

 

Monika Bütler: Ohne Kontrolle geht es nicht. Man kann auf zwei Arten dafür sorgen, dass die Leute sich an die Regeln halten: Entweder man kontrolliert oder man kontrolliert etwas weniger und wer erwischt wird, wird bestraft. Diesen Zielkonflikt gibt es überall, nicht nur in der Sozialhilfe, sondern auch bei den Steuern. Der Anstand der Leistungsbezüger und die Moral der Steuerzahler bilden ein Gleichgewicht, das die Schweiz so lange ausgezeichnet hat. Sinkt der Anstand, leidet die Steuermoral und der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar.

 

faktuell.ch: Auch zehn Jahre nach Einführung der Leistungen mit Anreizcharakter in der Sozialhilfe vermag die SKOS gemäss einer von ihr veranlassten Untersuchung keine „nachhaltige Wirkung“ nachzuweisen.

 

Monika Bütler: Das überrascht niemanden. Bei diesen offensichtlich falschen Anreizen brauche ich keine Studie.

 

faktuell.ch: Zum ersten Mal hat sich die SKOS entschlossen, in ihren Richtlinien Leistungskürzungen zu empfehlen – bisher wurden die Leistungen stets ausgebaut, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration zu fördern. Ab 2016 erhalten Junge und Grossfamilien ab sechs Personen von der Sozialhilfe weniger.

 

Monika Bütler: Die Sozialhilfe ist für mich für Junge immer noch zu hoch. Und sie ist in dieser Form weiterhin ein Hindernis für junge Leute, eine Lehre zu machen. Auch für Familien ist die Sozialhilfe zu hoch. Ich sehe selbst in meinem Bekanntenkreis, dass einige Familien nach den Steuern nicht mehr Geld zur Verfügung haben als eine Sozialhilfefamilie. Da stimmt etwas nicht.

 

faktuell.ch: Darf sich die Sozialhilfe in die Familienplanung einer Grossfamilie einmischen?

 

Monika Bütler: Furchtbar! Das wiederspricht völlig meiner liberalen Ansicht …

 

faktuell.ch: ... auch wenn sie es im Wissen tun, dass sie mit ihrem Verhalten der Allgemeinheit zur Last fallen?

 

Monika Bütler: Die Leute zu bevormunden – das funktioniert einfach nicht. Ich bin eher der Meinung, man sollte die Leistungen knapper ansetzen. Und man könnte auch den Müttern zutrauen zu arbeiten wenn es die Väter nicht tun.  

 

faktuell.ch: Thema Ausländerintegration: Bereits vor dem neuen, grossen Flüchtlingsstrom hat sich gezeigt, dass Arbeitsbeschaffung und Integration der Flüchtlinge ausserordentlich schwierig zu bewerkstelligen sind. Selbst 10 Jahre nach der Einwanderung sind um die 40 Prozent vollständig von der Sozialhilfe abhängig. Sind die Leistungen zu grosszügig?

 

Monika Bütler: Sie sind wirklich zu hoch – ausser für ältere Leute, die den Einstieg nicht mehr schaffen, da sind sie eher zu knapp. Das Problem mit den unqualifizierten Migranten ist, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nie so viel verdienen, um sich ein Leben wie in der Sozialhilfe leisten zu können. Bei Jungen und bei Familien kann man kürzen.

 

faktuell.ch: Die Krankenkasse ist in der Schweiz obligatorisch. 40 Prozent können sie nicht bezahlen und erhalten dafür Prämienverbilligungen. Weshalb können die Gesundheitskosten nicht einfach über die Steuern laufen?

 

Monika Bütler: Trotz aller Kosten ist die obligatorische Krankenkasse  mit Kopfprämie und Subventionen für Geringverdiener letztlich ein Erfolgsmodell. Werden die Gesundheitskosten über die Steuern bezahlt, dann sinkt auch der Druck zu Reformen, weil es für die einzelnen gar nicht mehr ehrsichtlich ist, wie teuer das Gesundheitssystem ist.

 

faktuell.ch: 2,2 Millionen von 8 Millionen Menschen in diesem Land leiden unter psychischen Krankheiten, heisst es im jüngst unbeachtet publizierten Nationalen Gesundheitsbericht. Woran liegt es, dass in einem reichen, vom Wohlstand begünstigten Land wie der Schweiz jeder vierte psychisch angeknackst ist?

 

Monika Bütler: Es gibt heute mehr Diagnosen. Das ist nicht nur schlecht, weil man so gewisse Krankheiten frühzeitig erfassen und behandeln kann. Schizophrenie ist ein sehr gutes Beispiel, weil die Betroffenen heute viel eher beruflich und sozial voll integriert sind. Wenn ein Kind ADHS hat, sind eine frühe Diagnose und damit eine rechtzeitige Therapie sinnvoll. Damit wird dem Kind ein möglichst normales Leben ermöglicht. Aber mehr Diagnosen heisst auch, dass Leute, die vorher ganz zufrieden waren, plötzlich eine Diagnose kriegen. Das ist heikler. Es ist ein Wohlstandsphänomen. Je mehr Wissen und Mittel vorhanden sind, desto mehr wird diagnostiziert. Das ist auch bei körperlichen Krankheiten so. Neurodermitis, Allergien…. alles hat zugenommen.

 

faktuell.ch: 1,4 Mio. Menschen in der Schweiz sind über 65-jährig. Die 800‘000 Babyboomer kommen seit 10 Jahren ins Pensionsalter. Diese sogenannte. Generation Gold, die sich fitter als frühere Generationen fühlt und oft Jugend- und Gesundheitswahn vereint, wird absehbar auch einmal pflegebedürftig. Damit steigen die Gesundheitskosten – eine Studie der Uni St. Gallen rechnet mit 4 Milliarden Franken Zusatzbelastung für die Krankenkassen bis 2030. Was sind die Konsequenzen?

 

Monika Bütler: Das wird uns ziemlich viel kosten. Die Ergänzungsleistungen (EL) sind heute die implizite Pflegeversicherung. Das ist bei niedrigen Einkommen sinnvoll. Die hohen Einkommen zahlen ohnehin selber. Für den ganzen Mittelstand – sicher die Hälfte der Bevölkerung – generiert die Finanzierung über EL falsche Anreize. Erstens kauft niemand eine Pflegeversicherung. Das würde ich wohl auch nicht tun: Jeder Franken aus der Versicherung reduziert die Leistungen aus der EL um einen Franken. Die Versicherung lohnt sich einfach nicht. Und zweitens besteht ein Anreiz, möglichst wenig Vermögen zu haben und möglichst alles Geld auszugeben, damit man möglichst wenig zahlen muss, wenn die finanzielle Notlage eintritt. Teuer sind nicht die Armen. Sie müssen wir immer unterstützen. Teuer ist der Mittelstand, der sich eigentlich selber finanzieren könnte und es nicht tut.

 

faktuell.ch: Also weg mit dem ganzen Anreizsystem?

 

Monika Bütler: Ganz weg davon kommt man nicht. Eine Idee wäre, dass vom Kapital in der zweiten Säule ein Anteil zur Seite gelegt wird für die Pflege. Das bedeutet zwar weniger Rente oder Kapital. Aber es ist ein relativ einfacher Weg, eine Pflegeversicherung einzuführen. Wer 600‘000 Franken Kapital hat bei der Pensionierung, muss beispielsweise 200‘000 davon für eine Pflegeversicherung zur Seite gelegt haben.

 

faktuell.ch: Wie grosszügig ist unser Sozialstaat im internationalen Vergleich?

 

Monika Bütler: Extrem grosszügig! Er ist nur finanzierbar, weil wir erstens einen sehr guten Arbeitsmarkt haben, der so flexibel ist, dass fast alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten können. Der zweite Grund ist, dass die Menschen in der Schweiz immer noch ein Arbeitsethos haben. Allerdings: Wenn die Sozialleistungen zu grosszügig sind, darf man sich nicht wundern, wenn die Arbeitstätigen mehr und mehr frustriert sind, weil ihnen immer weniger bleibt.

 

faktuell.ch: Letzte Frage. Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie an die Zukunft der sozialen Sicherheit in der Schweiz denken?

 

 

Monika Bütler: Wir müssen die Absicherung des Sozialstaates vom traditionellen Familienmodell lösen und an die Vielfalt der Familienmuster anpassen. Persönlich finde ich wichtig, dass wir die Jungen nicht vergessen. Das heisst in erster Linie: Nicht die „Kreditkarte“ der Jungen belasten, sie nicht bezahlen lassen für allzu grosszügige Leistungen. Was man oft vergisst: Die Alten sind nicht so homogen wie es den Anschein macht. Die über 80-jährigen haben selber noch nicht viel gehabt und meist neben den eigenen Kindern noch die Eltern unterstützt. Aber die Babyboom-Neurentner mit zusätzlichen 70 Franken AHV zu alimentieren, ist absurd. Hier geht es um eine Generation, die alles hatte. Die meisten hätten genug sparen können,um sich selber zu finanzieren. Und jetzt hat man plötzlich das Gefühl, man müsse ihnen – zu denen ich selber gehöre – den Übergang in den dritten Lebensabschnitt noch versüssen…

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

(Dieses Gespräch fand im Oktober 2015 statt)


Die Kriegsverkäufer: Die Medien im Krieg - am Beispiel der USA

 

Im Krieg werden auch in Demokratien Presse- und Meinungsfreiheit zugunsten der

nationalen Sicherheit eingeschränkt. Nach welchem Muster Regierung und Militär in den USA die öffentliche Meinung vom Ersten Weltkrieg bis zum Irakkrieg lenkten und weshalb sich Medien selbst zensieren, analysiert der deutsche Journalist und promovierte Historiker Andreas Elter nach mehrmonatigen Recherchen in US-Archiven in seinem bis heute aktuellen Buch von 2005 (dritte Auflage: 2015). Schon damals prognostizierte Elter, im Zeitalter des Internets werde die Kriegspropaganda eine weitere Entwicklungsstufe nehmen, wie schon oft in ihrer Geschichte.

 

 

Die USA bieten sich dem Autor als Untersuchungsbeispiel an, weil sie eine Weltmacht sind und alle ihre Kriege mit dem Kampf für Freiheit und Demokratie rechtfertigen. Zudem seien die USA in der Medien- und Kommunikationstechnik führend, ohne die Massenpropaganda gar nicht denkbar wäre. Propaganda werde in allen politischen Systemen betrieben, auch in Demokratien.

 

 

 

Das meinungspolitische «Kreislaufmodell»

 

 

 

Der politische Konsens, stellt der Autor fest, hat stets einen Einfluss darauf, wie eine

 

Regierung ihre Propaganda gestaltet (Werbung oder massive Beeinflussung und Zensur). Dieser Konsens wird von den Medien mitgeprägt, die folglich im Krieg nicht mehr ihre angestammte Rolle als Kontrolleure in der demokratischen Gesellschaft einnehmen können.

 

Elter hat für diese Vernetzung folgendes «Kreislaufmodell» aufgestellt:

 

1. Die Medien transportieren in ihrer Berichterstattung mehr oder weniger kritiklos den von der Regierung vorgegebenen politischen Konsens.

 

2. Die Medien geben den Zuschauern eine Meinungsrichtung vor. Die einen sehen sich bestätigt, die andern passen sich der Meinung der Allgemeinheit an, weil es ihnen an alternativen Informationsquellen oder am Mut zu einer abweichenden Meinung fehlt.

 

3. Meinungsumfragen erhärten die Zustimmung zum nationalen Konsens und klammern aus, dass viele der Befragten nur aus gesellschaftlichem Opportunismus zustimmen.

 

4. Die Regierung fühlt sich durch die Umfrageergebnisse bestätigt und richtet ihr Handeln danach aus.

 

5. Das Handeln der Regierung wird wiederum von den Medien wahrgenommen und resultiert in entsprechender Berichterstattung. Der Kreis schliesst sich und alles beginnt wieder von vorn.

 

 

 

 

Propaganda im ersten Weltkrieg: Bilder, Karikaturen und Reden

 

Der amerikanische Präsident Wilson hielt sich 1914 -1916 aus dem Krieg heraus, bis er den Sieg seiner guten Wirtschaftspartner England und Frankreich gefährdet sah. Es galt, zunächst die öffentliche Meinung auf den Kriegseintritt der USA einzustimmen. Doch diesewar selbst am 6. April 1917, als die Amerikaner eingriffen, noch zu wenig emotionalisiert. Um einen «gerechten Zorn» zu schüren, wurde die erste Propaganda-Behörde auf Bundesebene geschaffen, das Committee on Public Information (CPI).

 

 

«Journalisten sind dem Wechsel der politischen Stimmung und dem Zeitgeist unterworfen und damit einem sozialen Zensurdruck.»

 

 

 

Das CPI finanzierte Hunderttausende Redner, Schriftsteller, Journalisten, Karikaturisten, Werbeagenten und Regierungsbeamte – praktisch die gesamte intellektuelle Elite der USA -,um ein eindringliches Feindbild zu konstruieren: die Deutschen als mordende und Jungfrauen schändende Hunnen mit Pickelhaube. Von Weltformatplakaten herab bedrohten sie die Amerikaner, 75'000 Redner stürmten in den Pausen die Kinos und verbreiteten in vier Minuten die Mär vom preussischen Gorilla, hinter dem sich eine Blutspur zieht: «Darum müssen wir kämpfen.»

 

 

 

«Hätte ich die Wahl zwischen einer Regierung ohne Zeitungen und Zeitungen ohne Regierung, so würde ich nicht zögern, die zweite Möglichkeit zu wählen.»

 

Thomas Jefferson, amerikanischer Gründervater

 

 

 

Bis zum Jahresende 1917 hatten 800 Zeitschriften gemäss Erhebung des Autors dem CPI unentgeltlich Werbefläche angeboten. Die Medien hätten damit ihren ursprünglichen Kurs der Neutralität schneller als die Bevölkerung verlassen. Ein Journalist, der negativ über den Krieg berichtete, wurde vom CPI als Vaterlandsverräter entlarvt. Die meisten Medien unterzogen sich einer freiwilligen Zensur. Obwohl die USA zunächst zögernd in den Krieg eingetreten waren, wurde der nationale Konsens durch Regierung, Presse und Militär so nachhaltig geprägt und umgekehrt, dass die Wirkung über das Ziel des CPI sogar weit hinausschoss. Der Autor zitiert dazu den Publizisten Raymond B. Fosdick: «Wir hassten die Deutschen mit einem gemeinsamen, allgemeinen Hass, der unbeschreiblich war.»

 

 

«Nation at war» – der zweite Weltkrieg: Propaganda mit Film und Radio

 

 

 

Mit der flächendeckenden Propaganda im Ersten Weltkrieg hatte die Wilson-Administration die Bedeutung des Begriffs «nationale Sicherheit» erweitert. Deshalb, meint Elter, gab es im Zweiten Weltkrieg weder bei der Bevölkerung noch den Journalisten einen grossen Widerstand gegen die Zensur. Wenn wir im Krieg sind, eine «nation at war», hat dasSicherheitsinteresse Vorrang. Echte Kriegsbegeisterung habe allerdings zuerst wieder die entsprechende Propaganda, diesmal durch das reich dotierte Office of War Information (OWI) auslösen müssen. Die Medien gingen mit der Regierung und dem Militär eine Liaison ein. Die Propagandisten hatten eine neue Vorgehensweise entdeckt: Fotos von gefallenen amerikanischen Soldaten wurden veröffentlicht mit Bildlegenden wie: «Das passiert alle drei Minuten. Soldat bleib bei der Arbeit und erledige sie, damit wir diese Bilder bald nicht mehr sehen müssen.» Die neue Taktik zeigte ein offensives Vorgehen mit den Möglichkeiten der

 

Medien und reflektierte die Überzeugung, dass die Bevölkerung den Krieg befürwortete.

 

 

 

 

«Was wir geschrieben haben, war absoluter Mist. Wir waren der Propagandaarm der Regierung. Zu Beginn gab es sanften Druck von den Zensoren, aber später waren wir unsere eigenen Zensoren Wir waren eine einzige Jubelmenge. Ich befürchte, zu der damaligen Zeit gab es keine Alternative dazu. Alles war Krieg, totaler Krieg in jedem Lebensbereich.»

 

Charles Lynch, kanadischer Kriegsberichterstatter an der Seite der US-Truppen in Europa imZweiten Weltkrieg

 

 

 

Im Zweiten Weltkrieg kamen mit Radio und Film auch die neuen «Wunderwaffen» der Propaganda zum Zug: Dem Massenmedium Radio, der „Stimme des Krieges“, stellte das OWI Sendematerial zur Verfügung, statt Beiträge zu zensieren. Die Radiosender betrachteten das OWI als neuen, partnerschaftlichen Dienstleister im Kreis der Nachrichtenagenturen. Filmpropaganda überliess die Regierung gar ganz den professionellen Regisseuren Hollywoods. Der Oscar-Preisträger John Ford organisierte 15 Kameracrews, die freiwillig ihr Leben riskierten, um Kampfszenen wie den Angriff der Japaner auf die amerikanische Militärbasis auf den Midway Inseln zu filmen und nach den klassischen Regeln der Kinodramaturgie zu schneiden. «The Battle of Midway» brachte Ford den fünften Oscar ein und das Lob eines tief bewegten Präsidenten Roosevelt, der sagte: «Ich will, dass jede Mutter in Amerika diesen Film sieht.»

 

 

 

Der Vietnamkrieg: Propaganda und Realität via Farbfernseher

 

 

 

Auch im Vietnam-Krieg habe die amerikanische Propaganda-Maschinerie ein «Bild des Bösen» gezeichnet, schreibt Elter. Da es sich aber nicht um einen globalen Konflikt, sondern nur um einen regionalen in Indochina gehandelt habe, konnten die Präsidenten Kennedy, Johnson und Nixon der Bevölkerung ihr Eingreifen von 1961 bis 1973 nur plausibel machen, indem sie die allgemeine Kommunistenangst als Propagandamittel nutzten. John F. Kennedy konnte sich 1961 aber nicht erlauben, die Medien zu zensieren, weil er Vietnam nie den Krieg erklärt, sondern nach offizieller Lesart nur Berater ins verbündete Vietnam entsandt hatte. Kennedy appellierte an die Selbstregulierung der Presse. Im Verlaufe des langen Krieges machten sich allerdings investigative Journalisten ans Werk und deckten Lügen und

 

Falschinformationen der Regierung auf. Johnson und insbesondere Nixon, der an einer Geheimhaltungsobsession litt und die Medien als Feinde betrachtete, verloren an Glaubwürdigkeit. Durch die zunehmend kritische Medienberichterstattung dehnte sich die Kontroverse um den Vietnamkrieg in der Bevölkerung aus.

 

Der Autor weist darauf hin, dass insbesondere das Fernsehen in diesem Krieg eine wichtige Rolle spielte. Es wurden Aufnahmen gezeigt, die in einer ersten Phase auf die Zuschauer ästhetisch und wie ein Abenteuerspiel an einem exotischen Schauplatz wirken mussten: Landende Truppen, im Wind kreisende Rotorenblätter von Helikoptern oder Amphibienfahrzeuge, die martialisch durch Maisfelder rollten. Es war dies eine farbige Inszenierung militärischer Überlegenheit. Im späteren Verlauf des Krieges waren am Fernsehen dann allerdings Aufnahmen zu sehen, die ein fast realistisches Bild vom Krieg zeigten – Bilder von Kriegsverbrechen, Zerstörungen, Niederlagen, mordenden Verbündeten oder flüchtenden Kleinkindern, die angeblich der Feind sein sollten.

 

 

 

 

«Nixon: „Ich würde sogar die Atombombe tatsächlich einsetzen.“

 

Kissinger: „Ich glaube, das ginge zu weit.“

 

Nixon: „Die Atombombe? Hast du etwa Angst davor?“

 

Kissinger: Unverständliches Gemurmel.

 

Nixon: „Mensch, Henry, denk doch mal in grossen Dimensionen.“»

 

Tonband-Aufnahmen aus dem Weissen Haus, freigegeben 2001

 

 

 

Weder Presse noch TV trugen, wie der Autor festhält, die Verantwortung dafür, dass der Vietnamkrieg als Niederlage für die Amerikaner in die Geschichte einging, obschon der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan noch in den 1980er Jahren öffentlich von «...unseren mutigen Jungs, die nicht genug Unterstützung aus der Heimat bekommen haben» sprach. Tatsächlich entstanden im Vietnamkrieg erstmals ernsthafte Spannungen im Verhältnis zwischen Medien und Regierung, die laut Elter zu einer neuen, restriktiven Pressepolitik führen sollten, die in Grenada und Panama getestet und in den Golfkriegen mit aller Konsequenz eingesetzt wurde.

 

 

 

Die Grenada-Invasion: Pressezensur durch Zugangsverweigerung

 

Die Reagan-Administration störte sich am engen Kontakt des karibischen Inselstaates Granada zu Kuba, fürchtete das Entstehen einer sozialistischen Keimzelle und nahm deshalb einen internen Machtkampf in der Regierung Grenadas zum Vorwand, am 25. Oktober 1983 anzugreifen. Die amerikanische Invasion verlief militärisch erfolgreich. Nach drei Tagen war die Insel besetzt. Völlig neu war die Pressepolitik: Das US-Militär verweigerte den amerikanischen Journalisten schlicht den Zugang zur Insel, was einer noch nie da gewesenen indirekten Zensur gleichkam. Die amerikanische Öffentlichkeit wurde über die Vorgänge in der Karibik zuerst gar nicht informiert oder nur spärlich mit Aussagen der Regierung bedacht. Diese Art der Presselenkung überspringt in Andreas Elters «meinungspolitischem Kreislaufmodell» die Medien als kritiklose Transporteure des von der Regierung vorgegebenen politischen Konsenses. Bei der Grenada-Invasion werden die Journalisten ausgeschaltet, indem die Insel für sie hermetisch abgeriegelt wird. Die

 

Regierung bringt ihre Sicht direkt an die Öffentlichkeit, damit sie unwidersprochen als

 

Leitmeinung im Fokus der öffentlichen Debatte steht. Dies wiederum – schreibt Elter – hat Auswirkungen auf die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung, die eine Invasion befürwortet, weil keine Medien da sind, um über die Hintergründe zu berichten. Da 1983 in den USA ein Wahljahr ist, schliesst sich die Opposition der Stimmung der Bevölkerung an, um sich nicht dem Vorwurf des Anti-Patriotismus auszusetzen. Aus dieser Kombination von Ignoranz und Opportunismus entsteht ein neuer nationaler Konsens über die Parteigrenzen hinaus – Motto: «Wehe dem, der dagegen argumentiert.»

 

 

 

Panama: Zensur via «Pressepool»

 

 

Nach Grenada wurde eine Poolregelung eingeführt: Analog der Akkreditierung im Weissen Haus wurden im «Pressepool» nur von der Administration handverlesene Journalisten aufgenommen, die im Ernstfall für die Kriegsberichterstattung zugelassen wären. Elter bezeichnet es als überraschenden Umstand, dass die Medien die Poolregelung ohne grossen Widersspruch hinnahmen - wohl vorwiegend

 

aus Angst, durch einen kritischen Ansatz oder durch Ausschluss vom Geschehen Leser, Zuschauer, und Werbekunden zu verlieren.Im Panama-Konflikt, bei dem es erneut um die Sicherstellung der demokratischen Ordnung ging, wurden die Pressepools allerdings nicht rechtzeitig aktiviert und die Medien waren am 20. Dezember 1989 beim Angriff der US- Streitkräfte erneut nicht dabei. Ein Pool von zwölf Reportern aus Washington traf erst fünf Stunden nach Beginn der Kampfhandlungen in Panama ein und musste zwei weitere Tage warten, bis er einen Kriegsschauplatz zu Gesicht bekam. Begründung des Militärs: Keine Transportmittel. Wie sich nach dem Konflikt herausstellte, hatte Präsident George Bushs Verteidigungsminister Dick Cheney (später Vizepräsident von George Bush jun.) bei der Planung der Pressepolitik die Zügel in die Hand genommen und beschlossen, die Aktivierung des Pressepools zu verzögern und die Medien damit faktisch zu zensieren. Und wiederum, stellt der Autor fest, wurde die Bevölkerung unzureichend informiert. Wenn auch Grenada und Panama militärisch gesehen nur Zwischenspiele waren, dann seien sie doch Meilensteine für die Geschichte der amerikanischen Propaganda und Pressepolitik gewesen.

 

 

 

Propaganda im Fernsehzeitalter: Die Golfkriege 1991 und 2003

 

 

 

In den USA sind fast alle grossen TV-Sender kommerzielle Betriebe. Da bestehe, so Elter, die Gefahr, dass – vor allem in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen – die journalistische Qualität rein ökonomischen Interessen weichen muss. Die Sender versuchen mit möglichst geringem Aufwand einen optimalen «return on investment» einzufahren. Darin würden sie sich nicht von einem Zahnpasta-Produzenten unterscheiden. Problematisch sei aus demokratietheoretischer Perspektive nur, dass Nachrichten und Berichte über einen Krieg eine andere Ware sind als Zahnpasta.

 

 

 

«Wir denken doch immer weniger in den Kategorien Verantwortlichkeit und Integrität, sondern immer mehr nach den Massstäben Geld und Macht.»

 

Dan Rather, CBC-Moderator

 

 

 

Andreas Elter wirft auch einen Blick auf die Propagandasprache, die in den beiden

 

Golfkriegen vom Militär zwecks Verharmlosung von negativen Fakten und einer Glorifizierung positiver Ereignisse gepflegt und von den Medien unkritisch übernommen wurde. Unter eingängige Slogans waren bereits Grenada («urgent fury») und Panama («just cause») gestellt worden, für die Angriffe in den beiden Golfkriegen wurden die Begriffe «Operation Desert Storm» und «Shock and Awe» geprägt. Wie weit der «Warspeak» - in Anlehnung an die Bezeichnung «Doublespeak» aus George Orwells Roman «1984» - ging, zeigt eine Begriffsliste von 1991, die der Autor der dänischen Zeitung «Politikeen» entnommen hat.

 

 

 

Im Sprachgebrauch der US-Militärs hatten...

 

… die Alliierten: Armee, Marine, Luftwaffe – Grundregeln für Journalisten – Pressekonferenzen.

 

Die alliierten Soldaten waren…

 

… professionell – vorsichtig – voller Tapferkeit – loyal – mutig

 

 

Demgegenüber hatten die Iraker eine Kriegsmaschine – Zensur – Propaganda

 

Die irakischen Soldaten waren…

 

… einer Hirnwäsche unterzogen – feige – Kanonenfutter – blind gehorchend – fanatisch

 

 

 

So «engagierten» sich die Koalitionstruppen 1991 im Golf, statt den Feind «anzugreifen». Statt von «Bomben» war von «schwerem Geschütz» die Rede und wenn die Bomben ihr Ziel verfehlten und Zivilisten trafen, entstand «Kollateralschaden», ruft der Autor in Erinnerung.

 

 

 

Berichterstattung im Satellitenzeitalter

 

 

 

Die Berichterstattung erfolgt seit dem ersten Golfkrieg 1991 nach den Gesetzen des

 

Leitmediums Fernsehen.

 

Die Berichte sind

 

. aktuell («breaking news»)

 

Das laufende Programm wird unterbrochen, um Dringlichkeit zu implizieren und die schnelle Reaktion des Senders zu beweisen. Nachrichtenkanäle wie CNN und Fox-

 

News sind hier im Vorteil, weil sie ihre Sendungen unterbrechen können ohne – wie

 

die traditionellen Sender – Werbeeinnahmen von Kunden zu verlieren, die ihren Spot

 

zur vereinbarten Zeit sehen wollen. CNN und Fox sahnten in den Golfkriegen

 

kommerziell ab, die andern Sender hatten zwar höhere Einschaltquoten, sanken aber wirtschaftlich in den roten Bereich.

 

. schnell («instant history»)

 

Die Satellitentechnik macht Nachrichten in «real time» global verfügbar. In den Golfkriegen zeigte sich, dass es den Sendern mehr darum ging, zu zeigen was die

 

Technik hergab, Quoten zu bolzen, persönliche und wirtschaftliche Interessen zu befriedigen, als die Zuschauer zu informieren. Darunter litten Einschätzung,

 

fundiertes Kommentieren und die Überprüfbarkeit der Quellen.

 

. unanalytisch («routinization of news»)

 

Nachrichtenereignisse werden routinemässig behandelt, die Auswahl, redaktionelle

 

Bearbeitung und die Weiterverbreitung erfolgen nach dem immer gleichen Muster.

 

Als Kriterien dienen Aktualität, Gebrauchswert für den Zuschauer, Nähe zum eigenen

 

Geschehen oder die Person/Institution, die eine Nachricht in Umlauf gebracht hat.

 

. mit Agenda-Setting

 

Die «routinization of news» ist ein Teil des Agenda-Settings, also der Auswahl der

 

Themen über die ein Sender berichtet. Andreas Elter konstruiert zur Illustrierung

 

folgendes Beispiel: Ein Krieg im Sudan, der nicht auf die Agenda der Medien kommt,

 

findet im kollektiven Bewusstsein nicht statt. Kurz, worüber nicht berichtet wird, das

 

existiert nicht. Umgekehrt kann ein marginales Ereignis, wie die Scheidung eines

 

prominenten Schauspielers zum Top-Nachrichtenereignis werden, wenn diese

 

Scheidung von genügend TV-Sendern über mehrere Tage hinweg als Aufmacher

 

präsentiert wird.

 

. visualisiert («cyber war»)

 

Im Irakkrieg 2003 spielte das Internet bereits eine grosse Rolle und wird – so der Autor

 

 

 – zunehmend zur Ergänzung in Sachen «real time»–Berichterstattung der

 

Fernsehsender beitragen. Zugleich bot das Internet 2003 dem Militär einen weiteren

 

Kanal, um seine Sicht der Dinge zu verbreiten.

 

 

 

Aufgrund seiner Recherchen ortete der Autor nach dem Irakkrieg bei den amerikanischen Journalisten ein freiwilliges «mental embedding» und sieht die klassische Journalistenfunktion «sammeln, auswerten und gewichten» aufgrund der elektronischen Medien-Dominanz gefährdet. Im Kriegsfall dürften sich, so sein Fazit, die amerikanischen Journalisten auch künftighin dem Diktat von Regierung und Militär beugen, das lautet: «Was nicht sein darf, kann nicht sein.»

 

 

 

Elisabeth Weyermann

 

 

 

Andreas Elter

 

Die Kriegsverkäufer

 

Geschichte der US-Propaganda 1917 - 2005

 

edition suhrkamp 2415, 2005, 369 Seiten

 

nur noch gebraucht zu bekommen

 

 

 

Die Demografiekeule zeigt erste Abnützungserscheinungen

Die Bevölkerungswissenschaft hat das Potenzial, mit ihren statistischen Prognosen Angst und Schrecken zu verbreiten. Wann immer die künftige Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen debattiert wird, ersetzt der Griff zur „Demografie-Keule“ das pragmatische Denken. Dabei gehen die positiven Entwicklungen im Umfeld der Sozialversicherungspalette gänzlich unter - zum Beispiel, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von Mann und Frau in der Schweiz den Höhepunkt erreicht, vielleicht sogar überschritten haben könnte.

Demografiekeule

Vor nicht allzu langer Zeit hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eingeräumt, dass die „wissenschaftlichen“ Finanzperspektiven der vergangenen Jahre „die finanzielle Lage der AHV in der Tendenz zu pessimistisch einschätzten“. Einer der Gründe: Die AHV-pflichtigen Durchschnittslöhne haben sich stärker entwickelt als der Schweizerische Lohnindex. Ein anderer Grund: Nicht nur die Löhne der vorhandenen Stellen steigen, sondern der Strukturwandel der Wirtschaft führt auch zu produktiveren und besser bezahlten Stellen, was die Einnahmen der Sozialversicherungen ebenfalls verbessert.

 

Selbstverständlich hat auch der Zuzug und Wegzug von Arbeitskräften Auswirkungen auf Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherungen. Ein hoher Wanderungssaldo wirkt dämpfend auf den Altersquotienten, auf das Verhältnis zwischen Rentenberechtigten und Aktiven. Auch hier haben sich die Annahmen der Experten wiederholt als falsch herausgestellt: Erst liessen sie sich von der Annahme leiten, dass sich der Wanderungssaldo bis im Jahr 2030 auf der Höhe von 15‘000 Personen einpendeln würde. Dann, aufgrund der Entwicklung in den Jahren 2000 bis 2009 mit einem Wanderungssaldo von durchschnittlich 52‘000 Personen, hat das BSV seine Annahme korrigiert – neu soll sich der Wanderungssaldo bis 2030 bei jährlich 40‘000 einpendeln. Doch die Bilanz der ständigen Wohnbevölkerung des Bundesamtes für Statistik (BFS) zeigt ein anderes Bild: Von 2009 bis 2014 betrug der Wanderungssaldo durchschnittlich 74‘000 Personen – gegen 25‘000 mehr als erwartet, mithin ein für die Einnahmen der AHV günstiges Signal.

 

Nur am Rande sei vermerkt, dass der positive Wanderungssaldo leicht getrübt wird, weil in den letzten sechs Jahren die Schweizer zahlreicher ausgewandert als wieder zurückgekommen sind. Der negative Wanderungssaldo der Schweiz macht in den Jahren 2009 bis 2014 jährlich rund 4000 Personen aus. Betrachtet man die Staatsangehörigkeit der auf 8,2 Millionen Personen gewachsenen Schweiz, so hat daneben nur ein Land, nämlich Kroatien, einen negativen Wanderungssaldo ausgewiesen (2010 und 2013).

 

Und auch der Nachwuchs stellt sich wieder zahlreicher ein: Mit 86‘559 Lebendgeborenen verzeichnen die Geburtenabteilungen 2015 eines der besten Ergebnisse in den letzten 45 Jahren, genauer: nur fünfmal gab es mehr Lebendgeburten. Dabei hat sich das Verhältnis zwischen Schweizer und ausländischem Nachwuchs nicht gross verändert: Auf drei Schweizer Babys kommt ein ausländisches.

 

Dem „Geburtenboom“ steht eine in den letzten Jahren mit 62-63‘000 Toten fast unveränderte Sterblichkeit gegenüber, was im Jahr 2014 einen rekordhohen „Geburtenüberschuss“ von 21‘349 ergab. 2015 ist sowohl die Zahl der Geburten gestiegen (86'559) wie auch jene der Todesfälle (67'606), der "Geburtenüberschuss" unter dem Strich mithin etwas kleiner  (18'953) als vor Jahresfrist.

 

Bemerkenswert ist auch, wie kräftig sich das Durchschnittsalter der Mütter in den letzten 45 Jahren verändert hat. 2015 ist es erneut um einen Zehntel auf 31,8 Jahre gestiegen.  Und der Trend zu "alten" Müttern bestätigt sich weiter: Im vergangenen Jahr waren 31,2 Prozent der Frauen bei der Geburt ihrer Kinder 34jährig oder älter, 38,1 Prozent 30- bis 34jährig. Diese grossen Veränderungen zeichnen sich seit dem Jahr 2000 ab. Damals haben die 30- bis 34jährigen die 25- bis 29jährigen anteilmässig an der Spitze abgelöst . Inzwischen sind selbst die Mütter im Alter von 34 Jahren und mehr deutlich zahlreicher als jene im Alter von 25 bis 29 Jahren. Die Mütter im Alter von 25 Jahren und jünger, die 1970 mit 33,1 Prozent den zweitgrössten Anteil ausmachten, sind 2015 noch auf einen Antei von 7,2 Prozent gekommen.

 

Viele für die nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherungen positiven Nachrichten werden jetzt noch getopt: Das BFS hat – von den Medien weitgehend unbeachtet – zum 14. Mal seine Bildungsperspektiven in drei Szenarien für die Jahre 2015 bis 2025 veröffentlicht. Dabei führte die Aktualisierung des mittleren Szenarios zur Bevölkerungsentwicklung zu einer deutlichen Revision nach oben, und zwar sowohl der Geburtenzahl als auch der Anzahl Kinder, die in den kommenden Jahren ihre Schulzeit beginnen werden.

 

Die neuen Szenarien bestätigen, dass der seit zehn Jahren anhaltende Rückgang der „Lernenden-Bestände“ der gesamten obligatorischen Schule beendet ist und sich für das nächste Jahrzehnt bereits ein Anstieg abzeichnet. Gemäss dem Referenzszenario nimmt die Gesamtzahl der Lernenden der obligatorischen Schule (2013: 704‘000) wieder zu und dürften bis 2024 insgesamt 800‘000 Schüler umfassen. Und aufgrund der Geburtenzunahme in den letzten zehn Jahren, die sich in den nächsten Jahren fortsetzen dürfte, geht das BFS davon aus, dass auf Vorschulstufe die seit 2017 gewachsenen „Bestände“ (2013: 162‘000) weiter zunehmen, von 2014 bis 2024 um 14 Prozent auf 190‘000.

 

Zu guter Letzt kommt auch noch das in der Sozialpolitik oft und gern eingesetzte demografische "Killerargument" ins Wanken, wonach die Menschen immer älter werden: Zum ersten Mal seit über 20 Jahren ist die statistische Lebenserwartung, wie sie das BFS jährlich publiziert, rückläufig: für 2015 geborene Frauen sinkt die Lebenserwartung um 0,3 auf 84,9 Jahre, für 2015 geborene Männer ebenfalls um 0,3 auf 80,7 Jahre.

 

Ähnliches wird aus den USA berichtet. Zum ersten Mal seit 1993 ist 2015 gemäss einer neuen Studie die Lebenserwartung bei der Geburt im Durchschnitt der gesamten Bevölkerung der USA gesunken, berichtete unlängst die "NZZ".

 

Eine Zufälligkeit oder mehr? Ist der Höhepunkt der durchschnittlichen Langlebigkeit erreicht oder gar schon überschritten? Noch scheinen die Gründe für den Rückgang der Lebenserwartung bei der Geburt im letzten Jahr nicht klar. Immerhin müsste all jenen, die in den Gazetten das grosse Wort über die ständig steigende Lebenserwartung führen, etwa zu denken geben: Auffällig ist in der amerikanischen Studie, dass die fallende Kurve der Sterberate bei sämtlichen wichtigen Bevölkerungsgruppe bereits seit einigen Jahren abflacht. (veröffentlicht am 16.12.2016)

 


In der Schweiz ist mindestens jeder vierte chronisch krank

In der Schweiz leben 2,2 Millionen Menschen mit chronischen Krankheiten, wobei ein Fünftel der über 50-Jährigen gleichzeitig an mehreren Krankheiten leidet (Multimorbidität).

Wie aus dem „Nationalen Gesundheitsbericht 2015“ hervorgeht, machen die materiellen Kosten der nicht-übertragbare Krankheiten über 51 Milliarden Franken oder 80 Prozent der direkten Gesundheitskosten der Schweiz aus (rund 65 Milliarden Franken). Die indirekten Kosten, die hauptsächlich durch Erwerbsunterbrüche, Frühpensionierungen und informelle Pflege (Übernahme von Tätigkeiten, die der Pflegebedürftige allein nicht mehr ausüben kann) entstehen, dürften sich in einer Grössenordnung von jährlich 30 bis 40 Milliarden Franken bewegen.

 

Die Risiken, an einer oder mehreren chronischen Krankheiten von Psyche und Körper zu leiden, sind laut Bericht ungleich verteilt. Je geringer die Bildung und die finanziellen Ressourcen und je tiefer der berufliche Status, umso höher ist das Risiko zu erkranken.

 

Die im Bericht verwendeten Zahlenangaben stammen aus Publikationen der Jahre 2011 und 2014.

 

(aufgeschaltet im August 2015)

 


Der Bedarf an Sozialleistungen sprengt in der Schweiz die 20-Milliarden-Marke

Die Nettoausgaben für bedarfsabhängige Sozialleistungen beliefen sich 2016/17 in der Schweiz auf 14,9 Milliarden Franken. Dies ergibt pro Kopf der Bevölkerung und Jahr 1775 Franken – finanziert aus kommunalen, kantonalen und Bundessteuern. Der tatsächliche Bedarf ist aber noch viel grösser!

 

Die steuer- und nicht beitragsfinanzierten Sozialleistungen steigen weiter. Unter bedarfsabhängigen Sozialleistungen werden diejenigen staatlichen Leistungen verstanden, bei welchen der ausbezahlte Betrag von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Bezüger abhängt.

 

Dazu gehören die nachstehenden Bedarfsleistungen (in Klammern die Nettobeträge):

 

Prämienverbilligung (4,3 Mrd.), Sozialhilfe im Asyl-+Flüchtlingsbereich (1,3 Mrd.), Wohnbeihilfen (35 Mio.), Arbeitslosenhilfe (16 Mio.), Kleinkinderbetreuungsbeiträge (33 Mio.), Alimentenbevorschussung (111 Mio.), Familienbeihilfen (182 Mio.), Alters- und Pflegebeihilfen (196 Mio.) , EL zur AHV/IV (4,9 Mrd.), kantonale Beihilfen zu den Ergänzungsleistungen (60 Mio.),  kantonale Ergänzungsleistungen zu AHV/IV/EO (130 Mio.), unentgeltliche Rechtshilfe (150 Mio., geschätzt), Opferhilfe (5,3 Mio.) Ausbildungsbeihilfen (425 Mio.), Alters- und Pflegebeihilfen (450 Mio., geschätzt), Sozialhilfe (2,7 Mrd.). Die Liste könnte noch durch einzelne Leistungen wie Erwerbsersatzleistungen für einkommensschwache Eltern oder Mutterschaftsbeiträge etc. ergänzt werden, aber diese Beträge würden das Gesamtbild nicht gross ändern.

 

Bis 2012 hat das Bundesamt für Statistik (BFS) die hier gelisteten Sozialleistungen als Finanzstatistik der bedarfsabhängigen Sozialleistungen publiziert, übersichtlich aufgeschlüsselt nach Bundes-, Kantons- und Gemeindeausgaben je Kanton. Seither nicht mehr. Zwei der drei wichtigsten bedarfsabhängigen Leistungen wurde gleichsam über Nacht die Bedarfsabhängigkeit abgesprochen – und damit die Nettogesamtausgaben erheblich geschönt: 8,2 statt 14,9 Mrd. bedarfsabhängige Gesamtausgaben und 972 statt 1775 Franken jährliche Nettoausgaben pro Kopf.

 

Würden alle Bürger, die auf bedarfsabhängige Leistungen rechtlich Anspruch haben, davon Gebrauch machen, wäre die Gesamtsumme rund ein Viertel höher. Eine vor zwei Jahren veröffentlichte Studie taxierte den Nichtbezug im Kanton Bern auf 26,3 Prozent. Auf die Schweiz übertragen, ergibt dies für 2016 die Summe von 3,9 Milliarden. Das Anspruchspotenzial für bedarfsabhängige Sozialleistungen beträgt somit 18,8 Milliarden.

 

Doch damit nicht genug. Zu den 18,8 Mrd. kann man getrost geschätzte 3 Milliarden Franken an finanziellen und materiellen Beiträgen dazu rechnen, die nicht gewinnorientierte Organisationen im Bereich der sozialen Sicherheit beisteuern, wie das Büro BASS vor ein paar Jahren vorrechnete. Summa summarum kommt man damit auf einen Bedarf an Sozialleistungen von fast 22 Milliarden Franken!

 


Bedroht das traditionelle Familien-Modell das Niveau der Sozialleistungen?

Die Schweiz ist ein Zweitverdienerinnen-Eldorado. Das schweizerische Sozialsystem privilegiert dabei verheiratete Frauen mit Kindern.

 

Mit 173'990 Euro durchschnittlichem Vermögen pro Kopf der Bevölkerung ist die Schweiz gegenwärtig vor den USA das reichste Land der Welt, schreiben die Ökonomen der deutschen Allianz-Versicherung in ihrem jüngsten «Global Wealth Report». Das ist für Menschen eines Landes, die sich und ihre Werte über ihre Erwerbstätigkeit definieren, gewiss bemerkenswert genug. Aber es könnte mehr sein. Punkto Erwerbstätigkeitsquote ist die Schweiz im OECD-Vergleich zwar absolute Spitze, punkto geleisteter Arbeitsstunden aber nicht einmal Mittelmass.

 

Gewiss nicht nur, aber zu einem guten Teil ist dieses Teilzeit-«Hängemattendasein» den Frauen geschuldet. Aber ihre Arbeitsverweigerung hat viel mit dem zu tun, was die Ökonomen «negative Arbeitsanreize» schimpfen, zusammengefasst im Satz: Je grösser das Nichterwerbseinkommen aus Leistungen der Sozialversicherungen ist, desto tiefer sind die Anreize eine Arbeit anzunehmen.

 

Gut 1,2 Milliarden Franken würden zusätzlich in die AHV-Kasse gespielt, wenn Alter 65 auch für Frauen gelten würde. Vielleicht zwei Milliarden, wenn sie gar ihr volles Erwerbstätigkeitsvolumen ausschöpften – selbstverständlich zu Männer-Löhnen.

 

Aber die Lust ist zurzeit nicht vorhanden. Sie können, aber müssen nicht. Sie tun es nicht, weil mehr Brutto durch erweiterte Erwerbstätigkeit aus steuerlichen Gründen nicht auch mehr Netto bedeuten würde. Und sie tun es nicht, weil sie vom Sozialsystem privilegiert behandelt werden, vor allem von der AHV.

 

Die AHV-Beiträge von verheirateten Nichterwerbstätigen gelten als bezahlt, wenn der Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrages (956 Franken pro Jahr) bezahlt hat. Das während einer Ehe erzielte Einkommen wird beiden Ehegatten je hälftig zugeschrieben, also auch dem nichterwerbstätigen Teil (Splitting). Die Beitragsbefreiung und das vorgenommene Splitting führen dazu führen, dass ein gutverdienender Ehegatte eine volle zweite Rente generieren kann – ohne dass der Ehepartner je erwerbstätig gewesen wäre oder Kinder grossgezogen hätte.

 

Frauen, deren Gatte verstorben ist, haben in unterschiedlichen Konstellationen Anspruch auf eine unbefristete Witwenrente im Umfang von 80 Prozent der Altersrente: Verheiratete, wenn sie ein oder mehrere Kinder haben (Alter irrelevant) oder wenn sie über 45 Jahre alt sind und während mindestens fünf Jahren verheiratet waren. Geschiedene, wenn sie Kinder haben und die Ehe mindestens 10 Jahre gedauert hat oder wenn sie zum Zeitpunkt der Scheidung älter als 45 waren und die Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat oder wenn das jüngste Kind nach dem 45. Geburtstag der Mutter das 18. Lebensjahr vollendet hat. Erfüllt eine geschiedene Frau keine dieser Voraussetzungen, hat sie Anspruch auf eine Witwenrente, solange sie minderjährige Kinder hat.

 

Ökonomen führen ins Feld, dass es diese – gerade für kinderlose Frauen – grosszügige Gewährung von Witwenrenten ist, die bei ihnen wenig Neigung aufkommen lässt, ihr Erwerbspotential auszuschöpfen.

 

Die Witwen am Pranger der unerbittlichen ökonomischen «Erbsenzähler»: Sie sind angeblich schuld, weshalb die seit Jahrzehnten durch Bundesgerichtsentscheid belegte «Heiratsstrafe» keine sein soll: Mit 1,6 bis 1,7 Milliarden Franken sind die Ausgaben für rund 150'000 Witwen- und 2000 Witwerrenten offenbar etwas grösser, als die Summe, mit der verheiratete Paar gegenüber Konkubinatspaaren bestraft werden. Kurz: «Heiratsstrafe» stimmt nur, wenn die Witwen und Witwer leer ausgehen würden oder mit geringeren Renten auskommen müssten.

 

Zusammengefasst: Neben dem Steuersystem gehen ungünstige Anreizwirkungen für Zweitverdiener unter anderem von der AHV aus.  Eine zukünftige AHV-Reform könnte deshalb das Splitting auf Paare mit Kindern beschränken und die Erziehungsgutschriften gemäss Kinderzahl abstufen. Ebenso denkbar wäre längerfristig die Einführung einer vom Zivilstand unabhängigen AHV sowie eine grundlegende Reform des Kinder- und Familiensubventionssystems zur verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie (so steht es in einer Studie Seco/Universität Luzern). Ob dies so stimmt, scheint allerdings fraglich.

 

Denn andere helfen mit, dass nicht sein muss, was allenfalls sein kann, nämlich das Erwerbspotenzial zu vergrössern, wo es möglich ist:

 

Berufliche Vorsorge (BV): Die ausgerichteten Ehegattenrenten, die in der Regel an Frauen gehen, machen in der BV annähernd vier Milliarden aus. Aber im Gegensatz zur AHV gelten bei der BV dafür dieselben Voraussetzungen für Witwen und Witwer.

 

Invalidenversicherung (IV): Knapp jeder zweite Rentenbezieher bezieht neben der IV auch noch eine Rente der BV. Ist die Invalidität Folge eines Unfalls, zahlt zudem die Unfallversicherung eine Rente. Gibt es unterhaltspflichtige Kinder, besteht auch Anspruch auf eine IV-Kinderrente von 40 Prozent der Hauptrente sowie eine Kinderrente der BV von 20 Prozent der Hauptrente. Nach Angaben des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) richtete allein die IV 2016 rund 72'400 Kinderrenten im Umfang von monatlich knapp 40 Millionen Franken aus, fast eine halbe Milliarde im Jahr

 

Ergänzungsleistungen (EL) zur IV: Geringe Erwerbsanreize bestehen nicht nur bei der (Wieder)-Eingliederung von Rentenbeziehenden, sondern überdies beim Partner. Grund dafür ist die bei Ehepaaren angewandte gemeinsame Ermittlung der EL. Einkommen des nichtinvaliden Ehegatten werden ebenfalls privilegiert nur zu zwei Dritteln angerechnet.

 

Unfallversicherung (UV): Ähnlich wie bei der AHV sind Witwen gegenüber Witwern bessergestellt. Und der Leistungsumfang von Witwen von Unfallopfern ist bedeutend weiter gefasst als für Witwer.

 

Familienzulagen: Auch Familienzulagen haben einen Einkommenseffekt, der – u.a. in Kumulation mit Leistungen anderer Sozialversicherungen – den Druck auf vollständige Erwerbstätigkeit schmälert und die traditionellen Geschlechterrollen zementiert.

 

Für weltweit 13 Millionen Migrationswillige ist die Schweiz Wunschdestination

Über 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – elfmal mehr Menschen, nämlich 710 Millionen, haben aus ähnlichen Gründen wie die Flüchtigen das Bedürfnis, ihre Heimatländer möglichst bald zu verlassen und auszuwandern. Dies sind Zahlen, die das amerikanische Markt- und Meinungsforschungsinstitut Gallup Organization im Zeitraum 2013 bis 2016 mit 586’806 Interviews in 156 Ländern erhob und hochrechnete.

 

Die Gallup-Analyse hält dazu fest, dass die Einwanderungspolitik eines Landes massgeblich zum Migrationsverhalten bzw. der Wunschdestination beiträgt – mit positiven oder negativen Signalen.

 

Der jüngste Zeitraum der Gallup-Erhebung fällt in die Zeit der europäischen Migrationskrise, die 2015 einsetzte. Von 2013 auf 2016 hat die Zahl der Menschen, die nach Deutschland auswandern möchte, von 28 auf 39 Millionen zugenommen – eine direkte Folge der positiven Signale, die von der sogenannten «Willkommenskultur» Deutschlands ausgingen. Grossbritannien hingegen hat nach der Brexit-Abstimmung deutlich an Anziehungskraft verloren: von 43 auf aber immer noch hohe 35 Millionen.

 

Insgesamt möchten in 31 Ländern und Weltgegenden 30 (Peru, Lesotho) bis 62 Prozent (Sierra Leone) der erwachsenen Bevölkerung permanent auswandern, wobei die nochmalige Steigerung des Höchstwerts von Sierra Leone eine Folge der Ebola-Krankheit sein dürfte. Hier jene Länder, in denen sich seit der letzten Gallup-Erhebung in den Jahren 2010 bis 2012 das Migrationsbedürfnis signifikant vergrössert hat:

 

Sierra Leone: von 51 auf 62 Prozent; Albanien: von 36 auf 56 Prozent; Kongo: von 37 auf 50 Prozent; Honduras: von 41 auf 48 Prozent; Armenien: von 40 auf 47 Prozent; Syrien: von 32 auf 46 Prozent; El Salvador: von 34 auf 46 Prozent; Bosnien und Herzegowina: von 20 auf 36 Prozent; Italien: von 21 auf 32 Prozent; Zypern: von 25 auf 32 Prozent.

 

Bürgerkriege, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und Krankheiten stehen im Vordergrund, wenn die Menschen die Risiken eines Neuanfangs anderswo ins Auge fassen. Aber wohin zieht es die 710 Millionen, die ihre Heimatländer verlassen möchten? Hier ist die Gallup-Erhebung ziemlich sicher nicht mehr auf dem jüngsten Stand, weil in den USA im fraglichen Zeitraum noch Barack Obama und nicht Donald Trump Präsident war. In der Vor-Trump-Ära zog es 147 Millionen weltweit in die USA, einer von fünf Migrationswilligen weltweit. Die Zahl dürfte inzwischen abgenommen haben, aber immer noch mit riesigem Abstand die Wunsch-Destination der meisten Migrationswilligen sein – wie seit zehn Jahren, als erstmals eine entsprechende Gallup-Erhebung durchgeführt wurde.

 

Neben Deutschland und Grossbritannien stehen folgende Länder zuoberst auf der Wunschliste jener Menschen, die fernab ihrer heimischen Wurzeln neu beginnen wollen: Kanada (36 Millionen, löst Grossbritannien auf Platz 2 ab), Frankreich (32 Mio.), Australien (30 Mio.), Saudiarabien (25 Mio), Spanien (20 Mio.), Italien (15 Mio), Schweiz (2 Prozent der Befragten, hochgerechnet 13 Millionen), Japan (12 Mio.), Vereinigte Arabische Emirate (12 Mio.), Singapur (10 Mio.), Südafrika und Schweden (je 8 Mio.), Russland, Neuseeland und China (je 7 Mio.), Holland und Brasilien (je 6 Mio.) sowie Türkei und Südkorea (je 5 Mio.).

 

Die Zunahme der Migrationswilligen unterliegt starken Veränderungen. Im Zeitraum 2007 bis 2009 waren es gar 16 Prozent, die aus unterschiedlichen Gründen das Bedürfnis nach Auswanderung hatten – deutlich hinterliess hier die globale Wirtschaftskrise von 2008 ihre Spuren.

Die Gallup-Befragung belegt das weltweite Migrationspotenzial. Von den Ländern, die im Erhebungszeitraum  in der Schweiz am meisten Asylgesuche stellten (Eritrea, Afghanistan, Syrien) ist nur Syrien explizit erwähnt - mit der bürgerkriegsbedingten starken Zunahme an Migrationswilligen.

 


Wem nützt das "frisierte" Inventar der bedarfsabhängigen Sozialleistungen?

Die im Inventar der bedarfsabhängigen Sozialleistungen 2015 ausgewiesenen Kosten sind unter den Stand von 2003 (!) gefallen. Was ist passiert?

 

Bei den «Sozialtransfers» handelt es sich um bedarfsabhängige Sozialleistungen. Es geht um Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV, Verbilligung der Krankenkassenprämien, Familienbeihilfen, Alters- und Pflegebeihilfen, Opferhilfe, Ausbildungshilfe, (unentgeltliche) Rechtshilfe, Jugendhilfe, Wohnbeihilfe und vorgeschossenen Alimenten. Alles Leistungen, die dem Gang zur eigentlichen Sozialhilfe vorgelagert sind.

Das 1997 eingeführte nationale Inventar der kantonalen bedarfsabhängigen Sozialleistungen basiert auf den Gesetzen und Verordnungen von 26 Kantonen und versucht nach einem einheitlichen Raster zu erfassen, was der Dschungel der   unterschiedlichen kantonalen Leistungen hergibt. 2002 folgt eine erste Aktualisierung und die Bundesstatistiker versprechen: «Grundsätzlich werden Sozialleistungen erfasst, die auf kantonaler Gesetzgebung basieren, bedarfsabhängig, personenbezogen und Geldleistungen sind.» Fortan wurden all die oben erwähnten Leistungen gesamtschweizerisch erfasst, zuzüglich der Kosten der klassischen Sozialhilfe und der Sozialhilfe im Asylbereich.

2012 wurde im nationalen Inventar mit diesen «Abgrenzungskriterien» der Höchststand von 12,7 Milliarden Franken erreicht, publiziert im Sommer 2014 unter dem Titel «Verlangsamtes Wachstum der Ausgaben.» Statt 5,8 Prozent wie 2011 betrug die Zunahme «nur» 3,6 Prozent. Danach gingen die Bundesstatistiker über die Bücher und während das interessierte Publikum auf das 2013er-Inventar wartete, tat sich zunächst gar nichts.

Dass sich etwas tat, konnte allenfalls dem Geschäftsbericht 2014 der Berner Informatik AG entnommen werden. Sie hatte sich beim BFS um einen Auftrag «zu Betrieb, Wartung und Weiterentwicklung der Web-Applikation IBS (Internetplattform des Inventars und der Finanzstatistik der bedarfsabhängigen Sozialleistungen») beworben und schreibt dazu: «In der Submission zu diesem Millionenauftrag setzte sich die Bedag dank dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis gegen nicht weniger als 27 Mitbewerber durch.» Von den Millionen findet sich allerdings weder 2015 noch 2016 in der Staatsrechnung, Abschnitt Bundesamt für Statistik, ein Hinweis.

Item, jedenfalls gab es vor Jahresfrist wieder einmal eine Medienmitteilung zur Sache, und zwar für die Jahre 2013 und 2014, betitelt: «Die Ausgaben steigen nach wie vor an.» Hinter diesem Titel verbarg sich – von den Medien völlig unbeachtet – ein kommunikatives Meisterstück der Faktenverdrehung. Interessierte rieben sich verdutzt die Augen: Die Bundesstatistiker hatten hatzfratz das detaillierte Inventar des Jahres 2012 durch eine Light-Version ersetzt. Abgespeckt wurden: Prämienverbilligung (4 Milliarden), Ausbildungsbeihilfe (300 Millionen), unentgeltliche Rechtspflege (120 Millionen), Zuschüsse Sozialversicherungsbeiträge AHV/IV/EO sowie Opferhilfe (zusammen 20 bis 30 Millionen) und die Sozialhilfe im Asylbereich, inkl. Nothilfe.

Summa summarum schmolz das Inventar 2012 wie Schnee an der Sonne: Aus 12,7 wurden 7,8 Milliarden, immerhin fast 5 Milliarden weniger. Möglich gemacht hat diesen Schnitt ein neu definierter, im Oktober 2017 (!) publizierter «Abgrenzungskatalog», der die News-Branche allerdings so wenig juckte wie der handstreichartige Wechsel zur Light-Version. Wieder sind es diverse im Internet hochgeladene Studien, die durch diesen Wechsel berührt sind, weil sie auf nicht mehr gültiges Zahlenmaterial abstellen. Ähnliches war vor ein paar Monaten mit der Statistik der Gesundheitskosten passiert, deren Zahlenmaterial kurzerhand zurück bis 1960 «korrigiert» wurde.

Neu richtet sich das nationale Inventar der bedarfsabhängigen Sozialleistungen auf folgende Definition aus: «Es muss sich um eine bedarfsabhängige, personenbezogene, kantonalgesetzlich geregelte Geldleistung in Form einer allgemeinen Unterhaltszahlung handeln, die auf die Armutsbekämpfung ausgerichtet ist, und zu welcher der Zugang bei Erfüllung der personenbezogenen Anspruchskriterien gewährleistet ist.»

Genau dies ist bei Ausbildungsbeiträgen der Fall, wie dem fast gleichzeitig von den Bundesstatistikern veröffentlichten Bericht «Kantonale Stipendien und Darlehen 2016» wörtlich entnommen werden kann: «Die Vergabe von Ausbildungsbeiträgen ist eine bedarfsabhängige Leistung, die der Verringerung der sozialen Ungleichheit im Bildungswesen dient.»

Fazit: Packt man die aus dem Raster gefallenen Bedarfsleistungen auf das Total der neuen Light-Version des Jahres 2015 (7,9 Milliarden) ergibt sich – wie nachstehende Zusammenstellung zeigt – schon fast locker die Summe von 14 Milliarden. Rechnet man weiter die Bedarfsunterstützung in Höhe von jährlich rund 3 Milliarden hinzu, die nicht-gewinnorientierte Organisationen im Bereich der sozialen Sicherheit beisteuern, erhöht sich der Betrag auf 17 Milliarden. Und, last but not least, als kleine Spielerei: Fügt man diesen 17 Milliarden keck noch die Summe hinzu, die von Menschen nicht bezogen werden, obschon sie Anspruch auf Bedarfsleistungen hätten, erhöht sich die Summe gar auf 20 bis 25 Milliarden Franken. Natürlich nur, wenn es stimmt, dass 15 bis 60 Prozent der möglichen Bezüger ihren Anspruch nicht nutzen.

 

Die Gesamtkosten und die grossen Einzelposten der Bedarfsleistungen

2003: 8,7 Mrd.; IPV: 3,1Mrd., EL: 2,7 Mrd., SH: 1,2 Mrd., SH Asyl: 599 Mio.

2004: 9,4 Mrd.; IPV: 3,2 Mrd., EL: 2,9 Mrd., SH: 1,5 Mrd., SH Asyl: 674 Mio.

2005: 9,7 Mrd.; IPV: 3,2 Mrd., EL: 3 Mrd., SH: 1,7 Mrd., SH Asyl: 596 Mio.

2006: 10 Mrd.; IPV: 3,3 Mrd., EL: 3,1 Mrd., SH: 1,9 Mrd., SH Asyl: 558 Mio.

2007: 10,2 Mrd.; IPV: 3,4 Mrd., EL: 3,3 Mrd., SH: 1,9 Mrd., SH Asyl: 547 Mio.   

2008: 10,3 Mrd.; IPV: 3,4 Mrd., EL: 3,7 Mrd., SH: 1,8 Mrd., SH Asyl: 337 Mio.

2009: 10,7 Mrd.; IPV: 3,5 Mrd., EL: 3,9 Mrd., SH: 1,8 Mrd., SH Asyl: 416 Mio.

2010: 11,6 Mrd.; IPV 4 Mrd., EL: 4,1 Mrd., SH: 2 Mrd., SH Asyl: 444 Mio.

2011: 12,3 Mrd., IPV 4,3 Mrd., EL: 4,4 Mrd., SH: 2,1 Mrd., SH Asyl: 471 Mio.

2012: neu 7,2 Mrd. (nach bisherigen Kriterien: 12,7 Mrd.); IPV: 3,908 Mrd., EL: 4,4 Mrd., SH: 2,4 Mrd., SH Asyl: 616 Mio.

2013: 7,5 Mrd.; IPV:  4 Mrd., EL: 4,5 Mrd., SH: 2,4 Mrd., SH Asylbereich: 601 Mio.

2014: 7,8 Mrd.; IPV: 4 Mrd.; EL: 4,7 Mrd., SH: 2,6 Mrd., SH Asylbereich 767 Mio.

2015: 8 Mrd.; IPV: 4 Mrd. (gesch) EL: 4,9 Mrd., SH: 2,6 Mrd., SH Asylbereich: 968 Mio.  

 

*) Im Kanton Bern wird seit 2012 nicht mehr der vollständige Beitrag zur Krankenkassenprämie von EL-Bezügern und Sozialhilfeempfängern als Prämienverbilligung betrachtet. Dadurch sind die Zahlen ab 2012 nur noch eingeschränkt mit den Zahlen vorangehender Jahre vergleichbar.

IPV = individuelle Prämienverbilligung

EL = Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV

SH Asyl = Sozialhilfe Asylbereich während fünf (anerkannte Flüchtlinge) und sieben (vorläufig Aufgenommene)

Quellen: BSV-Auftragsstudien, BFS-Statistiken, SEM/Staatsrechnung

 


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Asyl: Wie gross ist der Alphabetisierungsbedarf wirklich?

Das Tor zur sozialen und beruflichen Integration anerkannter Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommener (VA) führt über die Sprache – trotzdem gibt es in der Schweiz keine Zahlen zu ihren Sprachkenntnissen bei der Aufnahme in der Schweiz. Was fehlt ist ein Einstufungsverfahren, das nicht nur über den Stand der sprachlichen Kenntnisse Auskunft gibt, sondern auch Informationen zu den Bildungsvoraussetzungen ermöglicht.

 

Gefragt sind bedarfsgerechte Sprachförderungsprogramme

Alle am Asylprozess beteiligten scheinen zu wissen, was in die Schweiz geflüchtete Eritreer, Afghanen, Somalier, Syrer etc. zwingend brauchen, um nicht dauerhaft von der Sozialhilfe abhängig zu bleiben: Sprachniveau A2 (schriftlich) und B1 (mündlich) gemäss dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER), der sechs Stufen unterscheidet – von A1 (Anfänger) bis C2 (Experte). Die Sozialhilfekonferenz fügt diesem Anspruch für den Beginn einer gedeihlichen Asyl-Zukunft noch das Wort «mindestens» bei

 

 

Doch weder das Staatssekretariat für Migration (SEM) noch das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) wissen, auf welchem sprachlichen Niveau die anerkannten Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommenen (VA) in der Schweiz in die Sprachförderungsprogramme einsteigen können. Wie gross beispielsweise ihr Alphabetisierungsbedarf ist, erfasst keine der zahllosen Statistiken im Land.

 

 

Dass keinerlei statistische Unterlagen zur Verfügung stehen, erstaunt umso mehr, als sowohl das neue Ausländergesetz wie auch die Verordnung über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern der Sprachförderung und dem beruflichen Fortkommen einen zentralen Stellenwert geben. Deshalb wird von fremdsprachigen Ausländerinnen und Ausländern erwartet, dass «sie sich in der am Wohnort gesprochenen Landessprache verständigen können oder durch ihre Anmeldung zu einem Sprachförderungsangebot ihren Willen bekunden, diese Landessprache zu erlernen».

 

 

55 bis 60 % der Asylsuchenden seit 2014 sind jünger als 25 Jahre alt. Ihnen gilt heute das Hauptinteresse. Die Erfahrung lehrt: Je jünger eine Person ist, desto besser die Arbeitsmarktintegration. Bei den unter 35-Jährigen findet rund jede zweite Person eine Stelle in den ersten zehn Jahren. Bei den über 35-Jährigen sind es deutlich weniger.

 

Nach wie vor strittig ist der «Königsweg»: Die einen sprechen sich für eine möglichst rasche Erwerbstätigkeit aus, die andern setzen der Schwerpunkt in der Bildung. Für beides gilt: An der Sprache und damit an der Sprachförderung führt kein Weg vorbei.

 

 

Mangels exakter Daten hat die Konferenz der Kantonsregierungen am Beispiel der Jahre 2014 und 2015 von allen 26 Kantonen schätzen lassen, wie es um den Sprachförderbedarf der FL/VA im Asylprozess steht. Ergebnis: Knapp die Hälfte wird den beiden Gruppen «Analphabeten, Zweitschriftlernende» und «Schulungewohnte» zugeteilt. Der Unterstützungsbedarf in diesen beiden Gruppen ist in jüngster Zeit noch grösser geworden, so dass das Angebot vielerorts ausgebaut werden musste.

 

 

Weil nicht überall Alphakurse zur Verfügung stehen, landen immer wieder Menschen mit Alphabetisierungsbedarf in heterogen zusammengesetzten Kursen (Kinder, Akademiker, Analphabeten, Zweitschriftlernende), deren Niveau für Teilnehmende zu tief angesetzt ist. Die Studie der Konferenz der Kantonsregierungen stellt fest, dass der tatsächliche Bedarf an niederschwelligen Einstiegskursen erheblich grösser sein dürfte als das derzeitige Angebot. Grund: Viele Frauen bleiben den Sprachförderprogrammen fern – sei es, weil sie aus Gesellschaften mit traditionellem Rollenverhalten stammen oder weil ein Angebot für Kinderbetreuung fehlt.

 

 

Unzweifelhaft ist: Die individuelle Zuweisung zu einem bedarfsgerechten Sprachkurs sollte in jedem Fall im Rahmen eines Einstufungsverfahrens geklärt werden, das nicht nur eine Einschätzung zum Sprachstand erlaubt, sondern auch Informationen zu Bildungshintergrund resp. den Bildungsvoraussetzungen ermöglicht. Dies ist gemeinsame Aufgabe von SEM und SECO, solange der Bund die Verantwortung von FL und VA hat, also in den ersten fünf (FL) bis sieben (VA) Jahren.

 

 

Und ebenso unzweifelhaft bleibt: «Ohne B wie Ausweis B für Aufenthaltsbewilligung keine Arbeit (= keine Berufserfahrung, keine ausreichenden Sprachkenntnisse), ohne Arbeit (= Berufserfahrung, ausreichende Sprachkenntnisse) kein B.»

 

Fazit: Irgendwann – Gemeinden und Kantone hoffen möglichst rasch – wird sich zeigen müssen, ob die Behauptung einer vom SEM bemühten Experten-Gruppe stimmt oder nicht, wonach 70 Prozent der im Asylbereich zugewanderten Personen das Potenzial für einen Bildungsabschluss Sekundarstufe II haben – es ist auch die Nagelprobe für die Konferenz der Erziehungsdirektoren, die ohne Bildungszwang zum Ziel erklärt haben: 95 % aller 25-Jährigen verfügen über einen Abschluss auf Sekundarstufe II (Lehrabschluss mit Eidgenössischem Fähigkeitsausweis) – auch für die Zielgruppe der spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

 


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Was geächtete Produkte zum Wohle von AHV und IV beitragen

Fast ein Drittel der Einnahmen, die aus der Bundeskasse 2015 an AHV und IV gingen, waren im Kern vom Bundesamt für Gesundheit geächtete Einnahmen. Es handelt sich im Wesentlichen um die zweckgebundenen Einnahmen aus Alkohol-, Tabak- und Spielcasinokonsum.

Alkohol, Tabak und Spielcasinos finanzieren 75'650 maximale AHV-Paarrenten oder 113'475 maximale AHV-Einzelrenten

Die Beiträge des Bundes an AHV (8,2 Mrd.) und IV (3,5 Mrd.) beliefen sich auf total 11,7 Milliarden Franken. Davon machen die für AHV und IV zweckgebunden erhobenen Einnahmen rund 3,2 Milliarden Franken aus: Tabak 2,2 Mrd., Alkohol 223 Mio., Spielcasinos 309 Mio. sowie 472 Mio. aus dem 17-Prozent-Anteil des Bundes am MWSt-Demografie-Prozent der AHV. Diese zweckgebundenen Einnahmen entsprechen 27,4 Prozent der Beiträge des Bundes an AHV und IV bzw. 24 Prozent, wenn man noch die Bundesbeiträge an die Ergänzungsleistungen (1,5 Mrd.) und die vom Bund getragenen IV-Zinsen an die AHV-Schuld (160 Mio.) mitrechnet.

 

Bei den zweckgebundenen Einnahmen handelt es sich zur Hauptsache um Finanzquellen, die das Bundesamt für Gesundheit mit staatlichen Präventionskampagnen zu reduzieren trachtet, teilweise aus den Einnahmen der Tabaksteuer finanziert. 2015 sind die Einnahmen aus der Tabaksteuer um 2,6 Prozent oder 57,2 Millionen Franken und aus der Alkoholsteuer um 2,6 Prozent oder 6,9 Millionen Franken gesunken.

 

Mit 3,2 Milliarden Franken reichen zur Finanzierung von 75'650 maximalen AHV-Ehepaarrenten oder 113'475  maximalen AHV-Einzelrenten.

 


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Administration: Was kostet unser Sozialversicherungssystem wirklich?

Die Schweiz hat das vielleicht beste Sozialversicherungssystem der Welt. Es ist hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg während der lange Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs auf- und ausgebaut worden. Eher mysteriös nehmen sich noch immer die Verwaltungskosten aus. Es wird viel geschätzt und wenig belegt. Der Mangel an Datensicherheit hat einen Preis: Was die Verwaltungskosten anbelangt, kann mehr oder weniger jeder behaupten, was er will.  Ganz so wie es der Wirtschaftswissenschafter Antonin Wagner 1985 in seinem Werk «Wohlfahrtsstaat Schweiz. Eine problemorientierte Einführung in die Sozialpolitik» zu Papier gebracht hat: «Oft ist im gegenwärtigen Finanzierungssystem nicht mehr erkennbar, wer wessen Hände in wessen Hosentaschen hält.»

2015 haben die neun Pfeiler des Schweizer Sozialversicherungssystems rund 135 Milliarden Franken ausgerichtet. Der Verwaltungs- und Durchführungsaufwand beliefen sich offiziell auf 8,7 Milliarden Franken, inklusive geschätzte 70 Millionen für die in der Bundesstatistik offen gelassenen Kosten für die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV.

Als besonders effizient geführt gilt die 1. Säule (AHV, IV und EO), die nach Strukturen funktioniert wie sie aus der im Zweiten Weltkrieg errichteten Lohn- und Verdienstersatzordnung (LVEO) hervorgingen. Die AHV (1948) wie später auch die EO (1953) und die IV (1966) übernahmen das Umlageverfahren und das System der Ausgleichskassen zur Abwicklung der Beitrags- und Rentenzahlungen.

 

Haupteinnahmequelle der Ausgleichskassen sind die Gebühren, die bei den Beitragspflichtigen (Arbeitgeber und Selbständigerwerbende) in Prozent der geschuldeten AHV/IV/EO-Beträge erhoben werden. Je nach Struktur der Beitragspflichtigen einer Ausgleichskasse ergeben sich unterschiedliche Verwaltungskostensätze. Das AHV-Gesetz steckt nur den Rahmen ab – zwischen maximal 0,8 Prozent (AHV-Jahresbeiträge von 300'000 Franken und mehr) und maximal 5 Prozent (AHV-Jahresbeiträge bis 5000 Franken).

 

Wieviel sich solcherart an Gebühren summiert, ist wie ein Buch mit sieben Siegeln. In den Betriebsrechnungen AHV/IV/EO sind die Gebühren nicht separat ausgewiesen. Sind es rund eine Milliarde Franken, nämlich so viel, wie für AHV (202 Mio.), IV (698 Mio.) und EO (3 Mio.) plus EL (70 Mio.) zusammen offiziell als Verwaltungs- und Durchführungskosten ausgewiesen werden, inklusive Kosten der Vermögensverwaltung? Eine Spurensuche.

 

Andreas Dummermuth, Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen und Geschäftsleiter Ausgleichskasse/IV-Stelle Schwyz, schrieb gleichsam als «Sprachrohr» der kantonalen Kassen in einem Beitrag der Zeitschrift «Schweizer Personalvorsorge» zu den offiziellen Verwaltungs- und Durchführungskosten: «In diesen Zahlen sind sämtliche Aufwendungen aller Ausgleichskassen, aller IV-Stellen, der Zentralen Ausgleichsstelle und des Fonds enthalten – konkret also alle Kosten vom Fachpersonal über die Informatik bis zum Porto.» Nicht enthalten seien die betriebsinternen Administrativkosten der Arbeitgeber und die Kosten der Bundesaufsichtsbehörden.

 

Was die betriebsinternen Administrativkosten der Arbeitgeber anbelangt, hilft eine Ende 2013 im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) verfasste Studie des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) zu den Regulierungskosten der 1. Säule weiter: Die Kosten, die «in den Unternehmen selbst entstehen», fallen mit 95,8 Millionen Franken offenbar vergleichsweise gering aus. Geschätzt wird, dass der Arbeitsaufwand für die Einhaltung der Regulierungsauflagen weniger als 800 Vollzeitstellen pro Jahr beansprucht. Gut zwei Drittel der Regulierungskosten entfallen auf die vier Regulierungsauflagen «Beitragszahlung» (21,6 Mio.; 22.5 Prozent), «Abrechnung & Ausgleich» (16,1 Mio.;16,8 Prozent), «EO-Anmeldung Militär/Zivildienst» (14,4 Mio.; 15,1 Prozent) und «Lohndeklaration» (13 Mio.; 13.5 Prozent)

 

Noch bemerkenswerter ist eine andere Zahl: Arbeitgeber (für sich und ihre Arbeitnehmer) und Selbständigerwerbende zusammen schätzen die Gebühren (Verwaltungskostenbeiträge), die mit den AHV/IV/EO-Rechnungen geschuldet werden, auf nur rund 360 Millionen Franken/Jahr. Unterschätzen die Schweizer Arbeitgeber ihre Gebührenkosten? Wie erklärt sich die Differenz von einer Milliarden Franken zu bloss 360 Millionen Franken? Was stimmt da nicht?

 

Offiziell belegt ist, dass die Verwaltungs- und Durchführungskosten in den letzten 25 Jahren stets zugenommen haben, allerdings ist der Kostenanstieg bei der 1. Säule mit Ausnahme der IV vergleichsweise klein. Die Verwaltungs- und Durchführungskosten aller Zweige der Sozialen Sicherheit wurden 1990 mit 2,7 Milliarden Franken beziffert, jene der 1. Säule allein mit rund 190 Millionen Franken. Gesucht wird der Digitalisierungsgewinn, mithin der Gewinn der sich durch den Sprung vom Fichen- ins Computer-Zeitalter ergeben müsste.

 

Was an Einsparungen möglich scheint, zeigen die 2016 eingeführten Verwaltungskostenansätze der grössten Ausgleichskasse der Schweiz, der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich. Sie gibt nach Selbstdarstellung «Kundinnen und Kunden Einsparungen weiter, die wir durch optimierte Geschäftsprozesse haben erzielen können». Einsparungen bis zu 80 Prozent! Und das geht so: «Angenommen, eine Firma kommt 2016 auf eine AHV/IV/EO-Beitragssumme von CHF 50'000. Dies entspricht einer AHV-pflichtigen Bruttojahreslohnsumme von gegen CHF 490'000. Bei unserer Ausgleichskasse bezahlt die Firma auf diese CHF 50'000 einen Verwaltungskostenbeitrag von 0,8 Prozent (bisher 1,5 Prozent). Entscheidet sich die Firma für den elektronischen Datenaustausch, reduziert sich der Satz auf 0,6 Prozent. Wählt sie statt der elektronischen Services das Lastschriftverfahren, ist der Satz 0,5 Prozent. Kombiniert sie Datenaustausch und Lastschriftverfahren, sind es noch 0,3 Prozent. Gegenüber heute spart sie bis zu 80 Prozent.»

 

Die BASS-Studie hat punkto Regulierungskosten lediglich ein Einsparungspotenzial von 25,8 Millionen Franken ausgemacht. Das sind 5,7 Prozent der gesamten Regulierungskosten oder 26,9 Prozent der Kosten in den Unternehmen selbst.

Zusammengefasst gilt immer noch, was der «Beobachter» nach einer ähnlichen Spurensuche 2010 schrieb: «Was die AHV-Verwaltung uns wirklich kostet, weiss niemand. Ein Skandal.» Das BSV sieht es weniger dramatisch. Als Fazit der BASS-Studie hält das Amt fest: «Die effiziente Durchführung der 1. Säule gewährleistet gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Das heisst auch, dass von den Unternehmen kein Druck auf eine Anpassung bzw. Reduktion der Regulierungen in der 1. Säule ausgeht.»


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Bald 20 Milliarden für bedarfsabhängige Sozialunterstützung in der Schweiz?

Die in der Schweiz beanspruchen bedarfsabhängige Sozialleistungen, zusammengesetzt aus der Sozialhilfe im engeren und jener im weiteren Sinne, nehmen weiter zu. Alles in allem macht die schweizweite staatliche Unterstützung mittlerweile rund 14 Milliarden Franken aus. Rechnet man die private Hilfe im Bereich der sozialen Sicherheit hinzu, erhöhen sich die bedarfsabhängigen Ausgaben auf 17 bis 18 Milliarden Franken. Das sind, gemessen an den Leistungen aller Sozialversicherungen von 153 Milliarden Franken, deutlich mehr als 10 Prozent.

 

bedarfsabhängige Sozialleistungen

Die letzte Finanzstatistik des Bundesamtes für Statistik der bedarfsabhängigen Sozialleistungen, publiziert im Sommer 2014, betraf das Jahr 2012 und verhiess Erleichterung: «Verlangsamtes Wachstum der Ausgaben», lautete der Titel der Medienmitteilung. Tatsächlich hatten die bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Vergleich mit dem Vorjahr «nur» um 3,6 Prozent oder um eine halbe Milliarde Franken zugenommen – auf 12,7 Milliarden Franken. 2011 hatte die Zunahme 5,8 Prozent, 2010 gar 8,2 Prozent betragen.

 

Im Juni 2016 begehrte die SVP-Fraktion mit der Stimme von Neo-Nationalrätin Barbara Steinmann zu wissen: «Weshalb ist ein personell und finanziell derart gut ausgestattetes Bundesamt nicht in der Lage, aktuelle Zahlen benutzergerecht und unbürokratisch aufzubereiten und zu liefern?» Tatsächlich wartete man seit geraumer Zeit auf die Daten zu den bedarfsabhängigen Sozialleistungen der Jahre 2013 und 2014.

 

«Seit der Einführung der Finanzstatistik der bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Jahr 2003», antwortete der Bundesrat ungewöhnlich rasch, «werden laufend Massnahmen zur Verbesserung der Qualität und Reduktion des Erhebungsaufwandes umgesetzt.» Und: «Diese Optimierungsarbeiten haben zur Folge, dass die Ergebnisse der Jahre 2013 und 2014 erst im Oktober 2016 veröffentlicht werden können.»

 

Tatsächlich, Anfang Oktober war es soweit: «Die Ausgaben steigen nach wie vor an», titelte das BFS über seine Medienmitteilung. Aber – o Wunder – aus den 12,7 Milliarden Franken waren 7,9 Milliarden Franken geworden. Hatten sich zwischen 2012 und 2014 rund 5 Milliarden Franken in Luft aufgelöst? Des Rätsels Lösung: Im Dschungel der bedarfsabhängigen Sozialleistungen ist den Bundesstatistikern quasi die Luft ausgegangen, ihre langjährige Finanzstatistik der bedarfsabhängigen Sozialleistungen ist kommentarlos zur «Light»-Version mutiert – zur «Finanzstatistik der Sozialhilfe im weiteren Sinne». Allerdings, gemäss «Wörterbuch der Sozialpolitik», würde zu dieser Version mehr gehören. Sie lässt sich nämlich in drei Gruppen gliedern:

  •  Die bedarfsabhängigen Sozialleistungen zur Sicherung der allgemeinen Grundversorgung umfassen Ausbildungsbeihilfen, die Opferhilfe, die Rechtshilfe (unentgeltliche Rechtspflege3) und Zuschüsse an Sozialversicherungsbeiträge der AHV/IV/EO und der Krankenkasse (Prämienübernahme, Prämienverbilligung).
  • Die bedarfsabhängigen Sozialleistungen, welche ungenügende oder erschöpfte Sozialversicherungsleistungen ergänzen; sie reichen von den Beihilfen und Zuschüssen zur AHV/IV und EL (inklusive Beihilfen und individueller Zuschüsse für Heimunterbringung, die sogenannten ausserordentlichen Ergänzungsleistungen) über die Arbeitslosenhilfen, die Geburtshilfen, die Mutterschaftsbeihilfen, die Unterhaltszuschüsse für Familien mit Kindern bis zu den Beihilfen und Zuschüssen für Suchttherapien, bei Krankheit und häuslicher Pflege.
  • Die bedarfsabhängigen Sozialleistungen, zu denen in Ergänzung mangelnder privater Sicherung auch die Alimentenbevorschussung und individuelle Wohnkostenzuschüsse bzw. -beihilfen zählen.

 

Der Katalog, den das BFS für seine «Light»-Version zusammengestellt hat, umfasst: Ergänzungsleistungen zur AHV/IV (4,7 Mrd. Fr.), Alters- und Invaliditätsbeihilfen (200 Mio. Fr.), Arbeitslosenhilfen (30 Mio. Fr.), Familienbeihilfen (200 Mio. Fr.), Alimentenbevorschussung (120 Mio. Fr.), Wohnbeihilfen (30 Mio. Fr.) und die klassische Sozialhilfe im engeren Sinne (2,6 Mrd. Fr.), – summa summarum: 7,9 Milliarden Franken.

 

Gegenüber 2012 weggefallen sind im Umfang von 6,3 Milliarden Franken (ohne Gewähr auf Vollständigkeit):

  • Krankenkassenprämienverbilligungen/Prämienübernahme: davon profitierten 2014 rund 2,2 Mio. Versicherte im Umfang von über 4 Milliarden Franken.
  • Alters- und Pflegebeihilfen (2012: knapp 400 Millionen Franken)
  • Sozialhilfe im Asylbereich, Sozialhilfe im Flüchtlingsbereich, Asyl-Nothilfe (2012: rund 600 Millionen Franken, 2014: geschätzte 1,4 Milliarden Franken = 80'000 Asylpersonen à je 20'000 Fr./Jahr).
  • Unentgeltliche Rechtspflege (2012: knapp 115 Millionen Franken).
  • Ausbildungsbeihilfen (2012: leicht über 300 Millionen Franken).
  • Jugendhilfe (2012: 40 Millionen Franken).
  • Opferhilfe (2012:  3,5 Mio.).

Die bedarfsabhängigen Sozialleistungen 2014, gerechnet nach dem 2012er-Katalog, betrugen somit 14,2 Milliarden Franken. Dies entspricht einer Zunahme um 12 Prozent. Darin nicht erfasst sind die von nicht gewinnorientierten, privaten Organisationen erbrachten Sozialleistungen. Das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) hat vor drei Jahren für das BFS hochgerechnet, wie hoch der finanzielle und materielle Beitrag dieser Hilfe zu beziffern ist: 2,9 Milliarden Franken. Erfasst wurden dabei nur jene Organisationen, die klar definiert im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind. Daneben gibt es aber noch Tausende von privaten Organisationen, die in der Schweiz irgendwie helfend Menschen beistehen. Fazit: Für bedarfsabhängige soziale Leistungen dürften 2014 in der Schweiz zwischen 17 und 18 Milliarden Franken ausgegeben worden sein.   

 


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Annemarie Lanker: "Vor 30 Jahren wäre in der Sozialhilfe niemand auf die Idee gekommen, man müsse einen Klienten zur Arbeit 'anreizen'."

faktuell-ch im Gespräch mit Annemarie Lanker, Sozialexpertin mit fast 40 Jahren Berufserfahrung im Bereich der Sozialarbeit

Annemarie Lanker

faktuell.ch: Frau Lanker, vor allem kleine Gemeinden scheinen durch die Migrationskosten finanziell bereits überfordert, obschon ihnen die grosse Welle der Unterstützungsfälle ja noch bevorsteht. Sie haben in den letzten Jahren Hunderte von Migranten-Dossiers eingesehen. Wo liegt das Problem?

 

Annemarie Lanker: Das sind die teuren Dossiers. Es handelt sich sehr oft um Familien mit mehreren Kindern. Die Klienten sind seit fünf oder sieben Jahren hier. Das sind Leute, die sich hier schon ‘eingerichtet’ haben…

 

faktuell.ch: ... mit dem Anspruch auf Sozialhilfe-Leistungen?

 

Annemarie Lanker: Ja, auf jeden Fall. Die meisten, die ich sehe, sind schlecht oder überhaupt nicht integriert. Sie haben noch nie gearbeitet und können sich mangels Sprachkenntnissen kaum verständigen.

 

faktuell.ch: Was kostet eine solche Familie?

 

Annemarie Lanker: Sie werden gleich behandelt wie eine Schweizer Familie in Notlage. Mit Miete, Krankenkasse, Anschaffungen und Gesundheitskosten, die nicht klein sind, kostet das schnell mal 6000 Franken im Monat - steuerfrei. Und die Chance, dass eine Integration noch gelingt, ist gering.

 

faktuell.ch: Also lebenslange Rente?

 

Annemarie Lanker: Ja. Das ist das Hauptproblem. Das sind teure Dossiers, weil die Familien grösser sind. Ich habe Dossiers gesehen, bei denen die Kosten in wenigen Jahren auf 400'000 bis 600'000 Franken aufgelaufen sind...

 

faktuell.ch: … inklusive die Kosten aus der Zuständigkeit des Bundes, also den ersten fünf Jahren für anerkannte Flüchtlinge bzw. sieben für vorläufig Aufgenommene?

 

Annemarie Lanker: Nein, nur die Schuld, die eine Familie gegenüber dem Sozialamt hat. Es gibt also keine Kostenwahrheit. Und wenn jemand den Kanton wechselt, beginnt dort die Auflistung der Schuld wieder von vorn. Das alles wird wie ein Tabu behandelt. Ich habe kürzlich in einer grösseren Berner Gemeinde eine Untersuchung gemacht, wo bereits heute fast 15 Prozent von allen Sozialhilfebezügern Asylanten und Asylsuchende sind.

 

faktuell.ch: Trotzdem stimmen die Berner Gemeinden zumindest öffentlich bisher noch nicht allzu sehr in das Klagelied etwa der Zürcher ein.

 

Annemarie Lanker: Das hat mit dem Lastenausgleich zu tun. Die Gemeinden können dem Kanton Bern – mit über einer Milliarde Franken der grösste Nehmer-Kanton im Nationalen Finanzausgleich (die Red.) – die Rechnung schicken. Es hat also niemand ein Interesse zu sparen. In Kantonen ohne Lastenausgleich müssen die Gemeinden mit ein paar solchen Familien die Steuern erhöhen. Und die grossen Wellen kommen erst noch. Bereits 2017 wechseln jene rund 50'000 Personen, die 2012 eine Bleiberecht erhalten haben, in die finanzielle Zuständigkeit der Kantone und Gemeinden.

 

faktuell.ch: Wie muss man sich Ihre Überprüfung der Dossiers vorstellen – beraten Sie, wo Einsparungen möglich sind?

 

Annemarie Lanker: In der Regel ist es eine methodische Dossier-Kontrolle, keine Finanzkontrolle. Ich prüfe den Integrationsstatus und gebe individuell pro Dossier Empfehlungen ab. Gewöhnlich erhalte ich für eine bestimmte Klientengruppe einen Auftrag. Meisten sind es solche Fälle, die besonders auf die Kosten drücken –  langjährige Fälle, die schon sehr viel gekostet haben – und eben Migranten.  Die Kosten für Migranten steigen im Moment besonders steil an. Das wird absehbar zu einem heisseren Thema werden als seinerzeit die Sozialhilfe-Missbräuche. Da bin ich sicher.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfequote stagniert seit ein paar Jahren zwischen 2,5 und 2,7 Prozent. Es gibt zwar mehr Fälle, aber sie wachsen proportional zur Bevölkerung.

 

Annemarie Lanker: Wenn wir pro Jahr 100'000 Leute auf den Arbeitsmarkt schleusen – und das sind nicht nur hoch Qualifizierte – hätte im Normalzustand in den letzten Jahren bei dieser guten Beschäftigungslage und bei diesem Bedarf die Sozialhilfequote sinken müssen, und zwar massiv.

 

faktuell.ch: Was halten Sie von Finanzminister Maurers Idee, die Migration über die Finanzen zu entschärfen?

 

Annemarie Lanker:  Er spricht damit die ersten fünf bis sieben Jahre, also die Zeit der Bundeszuständigkeit an. Da sind wir im Vergleich mit Deutschland – Hartz IV – sehr grosszügig.

 

faktuell.ch: Ex-FDP- Chef Müller schlägt vor, die asylsuchenden Migranten nach fünf bzw. sieben Jahren nicht in die Zuständigkeit der Sozialdienste der Kantone und Gemeinden zu geben, sondern bei den Hilfswerken zu belassen, weiter finanziert aus der direkten Bundessteuer. Ist das eine gute Idee?

 

 Annemarie Lanker: Es ist vor allem eine politische Idee. Die Kantone wären sicher nicht dagegen, dass der Bund bezahlt. Ich habe da aber ein Fragezeichen.

 

faktuell.ch: Warum?

 

Annemarie Lanker: Bei den Hilfswerken müsste sich zuerst einiges ändern. Man müsste wohl andere Leute rekrutieren – Leute, die entsprechend ausgebildet sind und konsequent fordern können. Wenn ich die Übertragungsberichte an die  Gemeinden sehe und einen miserablen Stand der Integration nach fünf oder sieben Jahren in der Schweiz feststellen muss, dann…

 

faktuell.ch: … worum geht es da?

 

Annemarie Lanker: In einem solchen Bericht sollte mindestens stehen, was bisher in Sachen Integration unternommen worden ist, was erreicht wurde und was nicht, und was der letzte Stand ist.

 

faktuell.ch: Was läuft falsch?

 

Annemarie Lanker: Wenn jemand fünf oder sieben Jahre in der Schweiz lebt, noch nie gearbeitet hat, keine Landessprache spricht, dann ist er abgeschottet in seinem Kulturkreis. Da kann von Fördern und Fordern keine Rede sein. Wenn jemand aus einem Land wie Somalia oder Eritrea hierherkommt und mit grosszügigen Leistungen der öffentlichen Hand rechnen kann, dann richtet er sich langfristig darauf ein, nicht selten mit dem ganzen Familienclan. Das kann man ihm nicht einmal verübeln; die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat ist in der ganzen Gesellschaft gewachsen, denken wir nur an die Landwirtschaft und den Tourismus; sogar die Chefs der Grossbanken rechnen bei selbstverursachten Krisen mit der Hilfe des Staates.  

 

faktuell.ch: Müssen wir als Gastgeber unsere Integrationsbemühungen verbessern – und wie?

 

Annemarie Lanker:  Integration ist nicht einfach Sache des Gastlandes, sondern auch der Migranten. Es gibt Leute, die wollen sich anstrengen. Sie können sich in relativ kurzer Zeit in einer unserer Sprachen verständigen. Daraus lässt sich der Wille zur Integration ableiten. Aber das ist leider lange nicht immer der Fall, weshalb man den individuellen Integrationsstand regelmässig überprüfen muss.

 

faktuell.ch: Wann soll damit begonnen werden?

 

Annemarie Lanker: Zwei bis drei Jahre nach der Einreise sollte man wissen, wo die Leute stehen. Was haben sie gemacht. Wie stark haben sie sich bewegt. Und dann müsste man den Aufenthaltsstatus ansehen ...

 

faktuell.ch: ... und Betroffene je nach dem nach Hause schicken?

 

Annemarie Lanker: Ja, und zwar mit der Begründung: kein Integrationswille, keine Integrationsbemühungen. Ich mag mich aus meiner Zeit als Leiterin des Sozialdienstes der Stadt Bern daran erinnern, wie wir den Leuten Deutschkurse finanzierten und sie nicht einmal hingingen. Wenn man will und fünf Jahre in der Schweiz ist, dann sollte man die Sprache auch ohne Deutschkurs sprechen können. Das liegt in der Eigenverantwortung.

 

faktuell.ch: Es gibt auch Beispiele, wie Eigenverantwortung erst gar nicht aufkommen kann, wie eine Untersuchung der Luzerner Fachhochschule für Sozialarbeit zeigt. Da werden Leute zu Kursen genötigt, die ihnen nichts bringen. Akademiker und Analphabeten werden durch den gleichen Kurs geschleust, und niemand wird gefragt, welche beruflichen Kenntnisse – beispielsweise als Bauer oder Wildhüter in Afrika – er mitbringt. Sie werden einfach in all diese Billigjobs geschickt mit der Begründung, es gelte die Leute möglichst schnell auf den Arbeitsmarkt zu bringen.

 

Annemarie Lanker: Das ist dumm und darf nicht passieren. Die Problematik ist aber im System angelegt: das Gastland muss etwas tun. Wir haben immer ein schlechtes Gewissen. Das ist unsere Sichtweise. Ich finde aber, dass mindestens 50 Prozent der Anstrengungen von den Betroffenen kommen müssen.

 

faktuell.ch: In Zürich gibt es den «Riesco»-Lehrgang, in dem Leute für die Gastronomie geschult werden. Ein kleines, aber höchst erfolgreiches Projekt: 80 Prozent finden danach eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt...

 

Annemarie Lanker: …ja, das ist eine gute Sache. Aber der Projektleiter sagt den Leuten auch: «Merken Sie sich, auf Sie hat hier niemand gewartet». Das ist so und muss ihnen wirklich gesagt werden. Sie müssen sich anstrengen, ‘s Füdle lüpfe’. Sie können ihre Frau nicht zuhause einschliessen und wenn mehrere Kinder da sind, muss auch die Frau einer Arbeit nachgehen.

 

faktuell.ch: Was nützt es, die Leute möglichst schnell in Billigjobs unterzubringen, sie bleiben ja trotzdem abhängig von der Sozialhilfe?

 

Annemarie Lanker: Das ist eines dieser typischen Killerargumente, die immer wieder kommen. Darauf gibt es zwei Antworten: erstens, sie kosten weniger, als wenn sie nichts tun; zweitens, sie gewöhnen sich im Arbeitsprozess an klare Strukturen und lernen erst noch unsere Sprache.

 

faktuell.ch: Sozialhilfe-Bezüger aus dem Ausland wissen oft höchstens, dass «die Gemeinde» für sie aufkommt, aber nicht, woher das Geld und die Leistungen kommen, die sie beziehen.

 

Annemarie Lanker: Das erinnert mich an einen Klienten aus Algerien, einen faulen Kerl, der nie arbeitete. Er sagte mir eines Tages, er heirate jetzt, die Familie schicke ihm eine Frau. Ich fand, das komme überhaupt nicht in Frage. Wie er sich denn das finanziell vorstelle. Darauf erklärte er, das habe ihn seine Zukünftige am Telefon auch gefragt. Und er habe gesagt: «Das ist kein Problem. In der Schweiz kommt Geld vom Büro.» Das ist die typische Wahrnehmung.

 

faktuell.ch: Schweden überprüft neu die Altersangaben der jugendlichen Migranten, die bevorzugt behandelt werden mit besserer Ausbildung und Unterkunft, wenn sie noch minderjährig sind.

 

Annemarie Lanker: Ich finde es richtig, Alterstests zu machen. Unser System ist nicht clever. Wir sollten uns auf clevere Leute einstellen. Und wir sollten die Entwicklungshilfe an die Bedingung koppeln, dass die betroffenen Länder bereit sind, ihre Landsleute zurückzunehmen, wenn sie bei uns keinen Asylstatus erlangen.  

 

faktuell.ch: Was heisst in der heutigen Zeit „bedroht“? Lebt sich zum Beispiel in Eritrea weniger sicher als in der Türkei?

 

Annemarie Lanker: Nur schon darüber zu reden, scheint auch ein Tabu zu sein. Das zeigte die Reise der Parlamentariergruppe nach Eritrea in diesem Frühling. Natürlich ist Eritrea ein armes Land. Ein Eritreer auf Sozialhilfe in der Schweiz schickt locker ab und zu hundert Franken nach Hause und finanziert die ganze Familie.

 

faktuell.ch: Wer freiwillig zurückgeht, erhält eine finanzielle Rückkehr- und Wiedereingliederungshilfe, 500 Franken pro erwachsene und 250 Franken pro minderjährige Person. In Härtefällen kann eine materielle Zusatzhilfe von maximal 3000 Franken gewährt werden.

 

Annemarie Lanker: Ich halte diese Rückkehrhilfen für fragwürdig, weil sie eine neue Ungerechtigkeit schaffen. Nach Europa kommen ohnehin nur Leute, die das Geld dafür haben, und die werden zusätzlich belohnt.

 

faktuell.ch: Sie sprachen, als Skandalfälle wie jener mit «Carlos» die Medien beschäftigten, von fehlendem Augenmass in der Sozialhilfe. Inzwischen sind die Migranten und nicht mehr solche Einzelfälle das grosse Thema. Haben Sie den Eindruck, dass jetzt mehr Augenmass vorhanden ist?

 

Annemarie Lanker: Die SKOS hat sich bewegt. Allerdings nicht stark. Das war auch nicht zu erwarten. Aber immerhin.

 

faktuell.ch: Schon fast in aller Stille hat die SKOS «Empfehlungen» zur Vermeidung des Schwelleneffekts in der Sozialhilfe erlassen, die ab 2017 in Kraft treten. Kernsatz: «Schwelleneffekte werden vermieden, wenn die Leistungen so lange gewährt werden, bis das Erwerbs- oder Renteneinkommen über dem verfügbaren Einkommen liegt, das ein Haushalt mit Sozialhilfe erzielt.» Kurz: Die Ungerechtigkeit im Vergleich mit Haushalten in bescheidenen Verhältnissen, die sich ohne Sozialhilfe durchschlagen, bleibt bestehen. Gibt es keine Chance für eine gerechtere Lösung?

 

Annemarie Lanker: Ich kann auch kein Rezept aus dem Ärmel schütteln. Heute heisst es «soziale Teilhabe». Man muss zuhause einen Fernseher haben und einen Computer. Vor dreissig Jahren war man der Auffassung, es gehe nicht an, dass ein Sozialhilfeempfänger ein Auto habe. Heute haben sehr viele ein Auto, auch die Migranten. Für mich ist «soziale Teilhabe» ein Synonym für «Rente» geworden.

 

faktuell.ch: Man will mit der Selbstverwaltung des Grundbeitrags die Selbständigkeit fördern.

 

Annemarie Lanker: Unsinn. Man leistet sich einen Wagen und entscheidet selbständig, die Rechnungen nicht zu bezahlen. Die Sozialhilfe wird es schon richten.

 

faktuell.ch: Hört sich ziemlich verärgert an...

 

Annemarie Lanker: … die SKOS spricht nach wie vor immer nur von den Grundkosten und lässt all die vielen Anschaffungen, die Gesundheits- und Wohnkosten, die Krankenversicherung inkl. Selbstbehalt etc., die den Leuten bezahlt werden, aussen vor. Ich habe noch nie ein Budget gesehen, in dem alles drin ist, was wirklich bezahlt wird. Die Sozialhilfe ist so ausgebaut worden – auch mit den Anreizen - , dass sich Sozialhilfeempfänger sagen, mehr arbeite ich nicht, sonst falle ich raus und muss plötzlich alle Selbstbehalte und die Steuern selber bezahlen. Wir brauchen ein radikal anderes System.

 

faktuell.ch: Wo müsste man ansetzen?

 

Annemarie Lanker: Die Sozialhilfe sollte wieder zurückbuchstabieren und nicht Rundum-Versorgung bieten, sondern nur Unterstützung für Leute, die wirklich darauf angewiesen sind und nicht arbeiten können. Vor dreissig Jahren wäre in der Sozialhilfe niemand auf die Idee gekommen, man müsse einen Klienten zur Arbeitssuche ‘anreizen’. Schon das ist eine schräge Geschichte. Sozialhilfe war ursprünglich eine reine Überbrückungshilfe. Was muss man da ‘anreizen’? Aber wir gehen heute schon gar nicht mehr davon aus, dass es eine vorübergehende Nothilfe ist und sonst eigentlich jeder für sich selber sorgen muss.

 

faktuell.ch: Also kürzen, kürzen, kürzen…

 

Annemarie Lanker: …in gewissen Fällen bis zur reinen Nothilfe. Dann erst spüren die Leute genügend Druck, dass sie selbst etwas machen wollen. Wir haben heute zum Beispiel sehr viele Alleinerziehende in der Sozialhilfe. In der Mittelschicht ist es jedoch selbstverständlich, dass die Frauen arbeiten, auch alleinerziehende. Wenn man eine Frau rundum versorgt, bis ihr Kind fünfjährig ist, dann ist sie raus aus dem Beruf. Und die Symbiose Mutter-Kind ist in der Regel auch nicht förderlich.

 

faktuell.ch: Es gelten die Gleichungen Sprache gleich Arbeit, Arbeit gleich Integration. Der Bund will in den Jahren 2018 bis 2022 über 50 Millionen Franken für die Ausbildung von Flüchtlingen ausgeben und erwartet von den Kantonen, dass sie dieselbe Summe aufbringen. Rentiert das?

 

Annemarie Lanker: Das ist auf jeden Fall gut. Die Leute müssen ausgebildet werden, sonst bleiben sie in der Sozialhilfe hängen und das ist viel teurer. Wenn einer mit 18 schon in der Sozialhilfe ist, kann man’s vergessen. Der arbeitet mit über 20 wohl auch nicht. Man muss die Leute ausbilden, wenn nötig mit Druck und Zwang.

 

faktuell.ch: Wer gesundheitlich dazu in der Lage ist, soll inzwischen auch nach Meinung der SKOS zur Ausbildung gezwungen werden. Zwangsmassnahmen klingen für die SKOS eher ungewöhnlich…

 

Annemarie Lanker: … die kriegen vermutlich auch langsam Angst. Denn was da auf uns zukommt, ist nicht mehr gemütlich. Vor dieser Zeitbombe darf niemand die Augen verschliessen.

 

 

 

Annemarie Lanker,

 

dipl. Sozialarbeiterin und Lehrbeauftragte an Fachhochschulen, von 1991 bis 2009 Leiterin der sozialen Dienste der Stadt Bern, löste 2007 noch als SP-Mitglied mit einem ungewohnt offenen Interview im Berner „Bund“ über Misswirtschaft und Sozialmissbrauch bei der Fürsorge der Stadt Bern im eigenen politischen Lager einen Sturm der Entrüstung aus. Heute ist sie als parteilose Mediatorin und Supervisorin im Bereich Sozialhilfe tätig und kontrolliert u.a. im Auftrag von Gemeinden Sozialhilfe-Dossiers mit Fällen, die finanziell besonders «drücken», in Bezug auf den Integrationsstatus. Vor Jahresfrist hat sie zusammen mit Beat Büschi, ehemaliger Finanzinspektor der Stadt Bern, die prekären Verhältnisse bei der Bieler Sozialfürsorge untersucht, der Schweizer Stadt mit der höchsten Sozialhilfequote.

 

Stellungnahme

Cristina Spagnolo, Leiterin Migration, Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Bern, nimmt zum kritischen Abschnitt, der die Arbeit der Hilfswerke betrifft, wie folgt Stellung:

 

«Frau Lanker sagt im Interview über ihre Sozialhilfe-Erfahrungen aus, dass in den Hilfswerken „andere“ Mitarbeitende angestellt werden sollten, die qualifiziert sein sollten. Diese Aussage können wir als SRK Kanton Bern nicht nachvollziehen.

 

Kontext

 

Das SRK Kanton Bern führt im Auftrag der Gesundheits- und Fürsorgedirektion Kanton Bern einen Sozialdienst für Flüchtlinge. Gemeinsam mit Caritas Bern sind wir im Kanton für anerkannte Flüchtlinge (Ausweis B) und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge (Ausweis F) zuständig. Asylsuchende (Ausweis N) und vorläufig aufgenommene Ausländer (Ausweis F) werden von Organisationen und Hilfswerken der Asylstrukturen begleitet. Für die Begleitung dieser Zielgruppe gelten andere gesetzliche Bestimmungen und sozialhilferechtliche Vorgaben.

 

Qualifizierte, ausgebildete Sozialarbeitende

 

In den Sozialdiensten des SRK Kanton Bern und Caritas Bern beschäftigen wir, entsprechend den Vorgaben des Kantons, ausschliesslich ausgebildete Sozialarbeitende mit einem Abschluss an einer Fachhochschule oder Universität. Unsere Aufgabe ist die Ausrichtung der Sozialhilfe nach Sozialhilfegesetz des Kantons und die Integrationsförderung unserer Klientel. Können vorläufig aufgenommene oder anerkannte Flüchtlinge nicht selber für ihre Bedürfnisse aufkommen, haben sie Anspruch auf Sozialhilfe. Es gilt die Inländergleichbehandlung. Dabei müssen die gleichen Leistungen gewährt werden wie für einheimischen Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern (Art. 3 Abs. 1 AsylV2). Es gelten die Richtlinien der Berner Konferenz für Sozialhilfe (BKSE) und der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Entsprechend gelten auch für unsere Klientel die gleichen Rechten und Pflichten wie für einheimische Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger.

 

Exakte Übergabeberichte

 

Ist ein anerkannter oder vorläufig aufgenommener Flüchtling 5 Jahre nach der Asylgewährung, resp. 7 Jahre nach der Einreise in die Schweiz weiterhin nicht in der Lage, seinen gesamten Lebensunterhalt selbständig zu finanzieren, übergeben wir die Person dem Sozialdienst seines Wohnortes. Zu diesem Zeitpunkt wird ein Übergabebericht verfasst, der über die familiären, finanziellen und gesundheitlichen Verhältnisse Auskunft gibt, die besuchten Massnahmen zur Integrationsförderung beschreibt und über den erreichten Integrationsstand informiert. Mit den grösseren Sozialdiensten, namentlich die der Städte Bern und Biel stehen wir in regelmässigem Kontakt, um die Übergaben professionell und effizient zu gestalten.

Wir weisen deshalb die pauschalen Aussagen von Frau Lanker zurück.»

 



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Thomas Michel: "Wir könnten in der Schweiz vieles optimieren, wenn wir nicht sofort ans nächste System stossen würden, das auch mit einer Schwelle versehen ist.

faktuell.ch im Gespräch mit Thomas Michel, Leiter der Abteilung Soziales der Stadt Biel, und der Bieler Integrationsdelegierten, Tamara Iskra

Thomas Michel, Tamara Iskra

faktuell.ch: Herr Michel, 14 neue Vollstellen oder eine runde Million Mehrkosten in Zeiten von Budgetkürzungen und erst noch in einem Bereich, der mit seinen Kosten in der Dauerkritik steht – wie haben Sie das geschafft?

 

Thomas Michel: Wir betreuen hier 6000 Sozialhilfeempfänger, ein Drittel davon Kinder. Das sind 4000 Fall-Dossiers! Der Gemeinderat von Biel – wie auch der Kanton Bern via Lastenausgleich – haben ein Interesse daran, dass Biel als sozialer „Brennpunkt“ eine Strategie für die Senkung der Sozialhilfequoten und die sozialpolitische Ausrichtung mit Schwerpunkten Bildung und Ausländerintegration vorantreibt. Und wir sollen und wollen mehr Zeit haben für die Betroffenen. Die Abteilung Soziales ist entsprechend reorganisiert worden. Mehr als die Hälfte der neuen Stellen entlasten die Sozialarbeitenden direkt, damit sie mehr Zeit für die Beratung einsetzen können. Weitere werden im Controlling und in verschiedenen Bereichen zur punktuellen Entlastung von Engpässen geschaffen.

 

faktuell.ch: Von wie viel Zeit gehen sie aus?

 

Thomas Michel: Schwer zu sagen. Für ein Sozialhilfe-Dossier ist im Schnitt ein Zeitaufwand von 15 bis 25 Stunden realistisch – im Jahr!

 

faktuell.ch: Macht vier Minuten pro Tag und Fall. Und das soll reichen, um die vor Ihrem Amtsantritt als „katastrophal“ beschriebenen Verhältnisse zu verbessern?

 

Thomas Michel: Das ist nun mal das, was es sich der Schweizer Staat kosten lässt. Biel liegt im schweizerischen Mittel. Wir begleiten Leute bei der Integration, aber die entscheidenden Schritte müssen sie selbst machen. Wir wollen auslösen, anstossen. Deshalb finde ich den Zeitaufwand angemessen. Begleitend zur Sozialhilfe sollten wir auch Zeit im Prekariatsbereich investieren, für Leute die knapp vor oder nach dem Beanspruchen von Sozialhilfe sind.

 

faktuell.ch: Die Fluktuationsrate in Ihrer Abteilung ist mit 25 % überdurchschnittlich hoch – Rekord im Kanton Bern...

 

Thomas Michel: …das hat sich schon gebessert. Wir liegen jetzt bei 18 Prozent - Tendenz sinkend.

 

faktuell.ch: Trotzdem: Was macht es so unattraktiv, im Bieler Sozialdienst zu arbeiten?

 

Thomas Michel: Die Überlastung und das harte Umfeld. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt Biel ist doppelt so hoch wie der kantonale Durchschnitt. Ein Übermass der Bevölkerung lebt in prekären Verhältnissen und damit besteht auch ein Übermass an Konkurrenz auf integrative Massnahmen. Das heisst, wenn in Biel ein  arbeitsloser Sozialhilfeempfänger auf den Arbeitsmarkt will, gibt es eine Riesenkonkurrenz. Das ist für die Sozialarbeitenden frustrierend, auch wenn das Arbeitsklima gut ist.

 

faktuell.ch: Klingt ein bisschen nach Schönreden eines Problems.

 

Thomas Michel: Keineswegs. Die Arbeit in der Sozialhilfe ist heute beruflicher Einstiegsbereich. Unsere Sozialarbeitenden sind relativ jung und die Stadt Biel hat im Vergleich mit den ländlichen Sozialdiensten  keine Polyvalenz (Fächer an Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten), was dazu führt, dass man weniger lang in diesem spezialisierten Bereich tätig ist.

 

faktuell.ch: Wie kommen denn Ihre jungen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit schwierigen oder sogar renitenten Klienten zurecht?

 

Thomas Michel: Natürlich ist das ein Thema. Aber wichtig ist, dass man gerne mit Menschen arbeitet und eine Begabung dazu hat. Man muss den Sozialhilfebeziehenden ja nicht alles vorgeben, sondern mit ihren Ressourcen arbeiten. Erfahrung hilft, dies schnell und zielgerichtet zu tun. Entscheidend ist aber, dass die Sozialarbeitenden vorher an geeigneten Hochschulen und Praktikumsplätzen waren. Ein Manko haben wir in der Konstanz der Beratungen wegen der Fluktuation. Hier kann man mit Organisation und guter Arbeit im Team positiv einwirken.

 

faktuell.ch: 2019 bis 2022 fallen die Kosten für 100 000 anerkannte Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommene (VA) der Jahre 2014 und 2015 beim Bund weg und die meisten von ihnen drücken auf die Budgets von Kantonen und Gemeinden. Vermag das eine ohnehin schon reichlich belastete Stadt wie Biel überhaupt zu stemmen?

 

Thomas Michel: Wir sind in einer Vorphase von 2019-22 und bereiten uns darauf vor, dass wir nachher nicht einfach "berenten" müssen. Es muss auf Stufe Bund und Kanton jetzt möglichst viel getan werden.

 

faktuell.ch: Etwa ein Viertel aller FL und VA wird, wie eine 10-Jahres-Studie gezeigt hat, vielleicht nie einer Arbeit nachgehen. Frau Iskra, was ist in der Praxis der Integrationsbemühungen erfolgreich(er): rasch mit einem Billigjob zu beginnen oder zuerst die Bildungsgrundlage für eine anspruchsvollere und damit auch besser bezahlte Arbeit zu schaffen?

 

Tamara Iskra: Beides kann erfolgreich sein. Unser duales Bildungssystem lässt zum Glück auch einen späten Einstieg zu. Gift für die Integration ist nur das Nichtstun. Auch teure Sprachkurse sind nicht nützlich, wenn die Teilnehmenden nur in ihrem eigenen Sprachkreis verkehren.

 

faktuell.ch: Sie widersprechen damit der Behauptung, die da lautet: Wer als Billigjobber beginnt, ist nach abgestempelt und hat nachher Mühe aus dem Tieflohnsegment auszubrechen.

 

Thomas Michel: Das hängt vom Alter ab. Wenn Junge noch keine Arbeitserfahrung haben, scheint mir Ausbildung der richtige Weg zu sein. Wenn die Leute hingegen über vierzig sind, erwarten die Arbeitgeber Arbeitserfahrung. Auch ein vierzigjähriger Schweizer, der nur studiert hat, wird kaum eine Stelle finden. Es ist auch nicht realistisch, über fünfzigjährige Asylsuchende, die den grössten Teil ihres Lebens im Ausland verbracht haben, von der Sozialhilfe geradlinig in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Sie müssten schon hoch qualifiziert sein und die Sprache sehr gut beherrschen. Umso mehr müssen wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche auf der richtigen Schiene starten.

 

faktuell.ch: In der Öffentlichkeit hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass viele junge Leute gar nicht bereit sind zu arbeiten, die Lehre abbrechen oder psychische Gebresten für eine IV geltend machen. Stimmt es, dass zunehmend eine Haltung…

 

Thomas Michel: …des Laissez-faire … ja, das kommt schon vor – aber als gesellschaftliches Phänomen und nicht nur innerhalb der sozialen Sicherungssysteme.

 

Tamara Iskra: Experten und Institutionen, mit denen ich arbeite, sehen Angebotslücken für Jugendliche, die aus dem System gefallen sind. Die richtigen Angebote wären aber sehr kostspielig. 

 

faktuell.ch: Ein Problem ganz allgemein scheint die Konkurrenz um Tieflohnjobs zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden und Städten zu sein.

 

Thomas Michel: Ja, natürlich. Es gibt auch im Tieflohnsegment eine Konkurrenzsituation und die Anzahl der Stellen ist beschränkt. Zum Teil verschwinden die Arbeitsplätze auch. Und der zweite Arbeitsmarkt schafft es nicht, sich von einer staatlichen Finanzierung zu lösen. Das ist allerdings das Problem aller, die in diesem Teillohnbereich etwas aufbauen wollen: IV, ALV, Asyl- und Flüchtlingsbereich und wir von der Sozialhilfe. Wir sitzen alle im gleichen Boot.

 

faktuell.ch: Biel hat einen hohen Ausländeranteil. Arbeit finden die Leute erst, wenn sie sprachlich dazu in der Lage sind, die Ausbildung ausreicht und sie nicht nur ihre Rechte, sondern auch Pflichten kennen, mit anderen Worten: integriert sind. Frau Iskra, wann können Sie sagen, eine Integration sei gelungen?

 

Tamara Iskra: So wie es der Gemeinderat von Biel im neuen Integrationskonzept definiert. Migrantinnen und Migranten müssen wissen, was von ihnen erwartet wird, wenn sie hier leben wollen. Nur so können sie den Erwartungen auch gerecht werden. Sie sollen die lokalen Sprachen verstehen und sprechen, wirtschaftlich möglichst rasch unabhängig vom Staat werden, andere Lebensformen respektieren und Aspekte ihrer eigenen Kultur – wie das Frauenbild – hinterfragen. Darin sehe ich das Herzstück der Integration. Kinder von Ausländern, die hier aufwachsen, sind für mich Bielerinnen und Bieler. Die sind hier zuhause, nirgendwo sonst.   

 

faktuell.ch: Aber stimmt denn der Satz nicht mehr, dass Integration über Arbeit stattfindet?

 

Tamara Iskra: Das ist für mich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Hausfrauen sind doch auch integriert. Wichtig ist wirtschaftliche Unabhängigkeit. Ob die durch Arbeit,Erbschaft oder anderswie gegeben ist.

 

Thomas Michel: Wir haben auch in der Sozialhilfe Leute, die zwar nicht beruflich, aber sozial integriert sind. 2015 hatten wir in der Stadt Biel 109 Nationalitäten in den 4000 Haushalt-Dossiers der Sozialhilfe. Den grössten Anteil machen die Schweizer aus, gefolgt von Türken und Italienern. Aber wer aus der Türkei und aus Italien schon in der dritten oder vierten Generation im Tieflohnbereich arbeitet, lebt in der Prekarität und ist oft bildungsfern. Das wächst sich nicht in einer Generation heraus. 

 

faktuell.ch: Wenn Menschen darauf verzichten, eine besser bezahlte Arbeit zu übernehmen, weil die Einbusse bei den Sozialleistungen grösser ist als der Mehrverdienst, spricht man von negativen Anreizen. Wie stark behindern solche Schwelleneffekte die Sozialhilfe beim Versuch, Menschen ins Erwerbsleben zurückzuführen?

 

Thomas Michel: Wir könnten in der Schweiz vieles optimieren, wenn wir nicht sofort ans nächste System stossen würden, das auch mit einer Schwelle versehen ist. Das führt letztlich zu einem Stau und löst die Angst aus, dass die Leute stecken bleiben und sich nicht weiterbewegen. Aber ich bin überzeugt, dass ein Mensch, dem wir eine Chance aufzeigen, diese auch ergreifen wird, wenn wir hinter die Schwellen, die zu überwinden sind, Perspektiven setzen. Wer bei Arbeitsantritt ein Jahr lang ein oder zwei wegen den Steuern hundert Franken weniger im Portemonnaie hat, als er vom Sozialamt erhielt, sieht, dass sich ein Job auf zehn Jahre gesehen fünfmal mehr lohnt. So gesehen leidet die Sozialhilfe aus meiner Sicht weniger am Schwelleneffekt, als allgemein moniert wird.

 

fakutell.ch: Bleibt das Problem der fehlenden Arbeitsplätze…

 

Thomas Michel: …die noch mehr behindern als Schwelleneffekte. Ich bin allen extrem dankbar, die dazu beitragen, dass in der Schweiz einfache Jobs nicht wegrationalisiert, sondern erhalten und gar geschaffen werden. Was wir brauchen, sind Jobs, in denen man auch ohne tertiäre Ausbildung arbeiten kann. Menschen, die nicht in Zukunftsfeldern arbeiten, müssen Wertschätzung erfahren und Teil der tätigen Gesellschaft sein können. Wir brauchen nicht 14 weitere Stellen, sondern ein paar hundert Stellen auf dem Arbeitsmarkt für die Bieler Sozialhilfeempfänger.

 

fakutell.ch: Bis Ende Jahr will die SKOS in der zweiten Etappe der Revision ihrer Richtlinien Empfehlungen im Hinblick auf Schwelleneffekte herausgeben. Was will sie noch ändern bzw. gibt es überhaupt etwas zu ändern?

 

Thomas Michel: Die Empfehlungen sind sehr allgemein gehalten. Die Kantone regeln national in Schwellenbereichen nur ungern, weil diese kantonal sehr unterschiedlich aussehen.. In die SKOS-Richtlinien wird nur aufgenommen, was absehbar zwei Drittel der Kantone umzusetzen bereit sind. Die Hürde ist in der Organisation der SKOS eingebaut. Über die Hälfte des 50-Personen- Vorstands besteht aus fachlich versierten Kantonsvertretern (meist die Leitungen der Kantonalen Sozialdienste, als "27. Kanton" wirkt das Fürstentum Liechtenstein mit). Jeder Kanton hat ein gewachsenes System in der sozialen Sicherung mit Vorleistungen wie Wohnungszuschüsse in Genf oder höhere Kinderzulagen im Wallis. Es ist deshalb nicht möglich mit einem nationalen System festzuhalten, welche Schwelleneffekte sich auf welche Weise auswirken sollen. So kann die SKOS-Empfehlung nur lauten: Liebe Kantone, versucht, die Schwelleneffekte zu vermeiden. Denn sie sind nicht gut. Und sie sind vor allem auch für die Weiterentwicklung des Systems nicht gut. Weh tun dabei vor allem die verpassten Synergie-Effekte – also Doppelspurigkeiten in der Verwaltung.

 

faktuell.ch: Weshalb setzt man das Anreizsystem nicht einfach ausser Kraft?

 

Thomas Michel: Ich glaube aus dem gleichen Grund, aus dem die Ökonomen das Thema Schwelleneffekt bisher so stiefmütterlich behandelt haben: Weil sie den Gang der Wirtschaft in der Schweiz nicht allein bestimmen. Politik, Gesellschaft und die wählende Öffentlichkeit spielen mit. Zudem ist das Thema hoch technokratisch und nicht leicht zu vermitteln. Und die Systeme bestehen aus einem Flickwerk von sozialer Absicherung, von der Arbeitslosenkasse über die Sozialhilfe, IV, Krankenkasse, Pensionskasse – ein Flickwerk von Versicherungen und Leistungen mit unterschiedlichen Mechanismen, finanziert auf unterschiedlichen Ebenen…

 

faktuell.ch: …die alle für sich allein laufen?

 

Thomas Michel: Sie sind schon ein Stück weit aufeinander gebaut worden, eines nach dem andern. Immer, wenn ein wichtiges Teil fehlte, wurde es eingefügt. Die Finanzkrise hat etwas Wesentliches gezeigt: Am stabilsten bleibt die Wirtschaft, die ein stark ausgebautes Sozialsystem hat. Die Schweiz und auch Deutschland haben ab 2010 sehr stabil reagiert auf die Krise.

 

faktuell.ch: Macht also die vermeintliche Unabhängigkeit der Systeme das ganze Setting stabil?

 

Thomas Michel: Sehr sogar, weil es unglaublich mühsam ist, etwas zu ändern! Ein grosser Wurf wie Hartz IV in Deutschland wäre in der Schweiz zurzeit undenkbar. Das heisst aber auch, dass jeder, der in diesem System eine Rolle spielt – auch die Wirtschaft –, sich sehr verlässlich auf das Bestehende einrichten kann, weil nächstes Jahr nicht plötzlich andere Regeln gelten.

 

faktuell.ch: Schweizweit gibt es seit Jahren Studien, die beziffern, wie hoch der Anteil der nicht beanspruchten Sozialleistungen ist. Zu Beginn der 1990er- Jahre sprach man von 45 bis 65 %, heute geht man von 25 bis 50 % aus, jedenfalls weniger Verzichtende als früher. Hat die professionalisierte Beratung der „Sozialindustrie“ dafür gesorgt, dass bedarfsabhängige Sozialleistungen mehr genutzt werden?

 

Thomas Michel: Ich finde, dass in der Schweiz die Selbstverantwortung noch sehr stark verwurzelt ist. Ich will eine gleich behandelnde, aber nicht eine gleichmachende Sozialhilfe. Ich bin froh, dass nicht alle zu uns kommen, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten. Sie können vieles innerhalb der Familie lösen. Es ist aber auch gut, dass wir heute professionell unterstützen können, wenn die Familie es nicht mehr schafft. Die Sozialhilfe kann als letztes Auffangnetz zum Zug kommen. Dann aber müssen diese Leute vom Staat, den Steuerzahlern auch wieder zurück in die Eigenverantwortung geführt werden. Das hat dann wieder mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt viel zu tun.

     

faktuell.ch: Frau Iskra, die Sprache ist für die Integration wichtig. Sie betreiben in Biel ein Sprachhaus für Kinder im Vorschulalter. Biel ist bilingue, zweisprachig…

 

Tamara Iskra: Die Zweisprachigkeit in Biel ist etwas Wunderbares, aber für die Arbeitsintegration und die Integration der Migranten und Migrantinnen bedeutet sie eine riesige Hürde. Auch bei niederschwelligen Jobs wird viel mehr erwartet. Viele Eltern – nicht nur Migranten – haben das Gefühl, Deutsch biete bessere Chancen. Wir wirken dem etwas entgegen. Denn eine echte Chance in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt hat nur, wer eine Sprache wirklich beherrscht, ob deutsch oder französisch.

 

Thomas Michel: Wer hier im Service oder sogar in einer Restaurant-Küche arbeiten oder im Lebensmittelgeschäft Regale auffüllen will, muss deutsch und französisch sprechen können. Zur hohen Arbeitslosigkeit kommt hinzu, dass Leute, die beide Sprachen beherrschen, in Biel die bessere Ausgangslage haben, einen Job zu finden.

 

Tamara Iskra: Biel ist ein schwieriges Pflaster. Wir pflegen den Bilinguismus, der von Bundes- und Kantonsbehörden nicht extra vergütet wird und real doppelt so viel kostet, wir haben einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Ausländern, Migranten und Leuten aus dem ehemaligen Asylbereich, schlecht bis gar nicht Qualifizierte – das ist eine ganz andere Zusammensetzung als in Bern, Zürich oder Genf. Und trotzdem schaffen wir es in Biel, dass 57‘000 Personen aus weit über 100 Nationen friedlich zusammenleben. Ich betrachte Biel als Vorzeigemodell.

 

faktuell.ch: Die Sozialhilfe, die eigentlich nur eine Nothilfe sein soll, wird für eine zunehmende Zahl von Empfängern zum Dauer-„Einkommen“. Muss die Sozialhilfe neu definiert werden?

 

Thomas Michel: Wenn 15 Prozent der Bevölkerung von einer Entwicklung oder Situation betroffen sind, beginnt die Bevölkerung, sich unruhig und unwohl zu fühlen. Das ist so etwas wie ein Grenzwert. Mit einer Sozialhilfequote von 11,5% liegen wir in Biel bei einer öffentlichen Betroffenheit von über 10 Prozent. Wir sind also schon recht nahe am Grenzwert. Zürich, Basel, Luzern mit ihren 4,5 Prozent können sich noch "entspannt zurücklehnen". Ich will mir gar nicht ausdenken, was es auslösen wird, wenn die Flüchtlingswellen dieses Verhältnis in der Schweiz wesentlich verschärfen. Ich bin aber überzeugt, dass unser Sozialversicherungssystem umgebaut wird, wenn wir in diese Grenzwerte hineinkommen. Vorher kaum. Nicht, solange die Mehrzahl der Kantone und Städte die Situation im Griff hat.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr   

 

 


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Toni Locher: "Die Eritreer sind ein stolzes Volk. Es tut den Älteren sehr weh, wenn die Jungen eine höllische Reise in Kauf nehmen, um nach Europa abzuhauen."

faktuell.ch im Gespräch mit Toni Locher, Honorarkonsul Eritreas in der Schweiz, von Beruf Gynäkologe 

Toni Locher

faktuell.ch: Herr Locher, ein Viertel der Asylgesuche in der Schweiz haben 2015 Eritreer gestellt. Eritrea gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Wie haben sich die 10‘000 Menschen ihre Reise ins Zielland Schweiz finanziert?

 

Toni Locher: Die Migration aus Eritrea in die Schweiz basiert auf Schuldenmachen. Die Jungen haben meistens kein Geld. Begüterte und gut ausgebildete Eritreer gehen nach Angola, da lässt sich gutes Geld machen. Gut ausgebildete Ärzte wählen den Südsudan, Ingenieure die Golfstaaten, Südafrika, Kenia, Ruanda…

 

faktuell.ch: …hält sie ein zu geringer Verdienst davon ab, die Schweiz zu wählen?

 

Toni Locher: Nein, aber ihre Ausbildung wird dort anerkannt und in Dubai dürfte ein eritreischer Ingenieur wirklich viel mehr verdienen als in der Schweiz. Zu uns kommen heute die weniger gut Ausgebildeten, die wenig Geld haben. Sie verschulden sich auf der horrend teuren Reise durch die Hölle von Libyen und wenn sie in der Schweiz ankommen, sind sie bedürftig und leben von der Sozialhilfe.

 

faktuell.ch: Eine Gruppe von Politikerinnen und Politikern ist kürzlich privat nach Eritrea gereist, um vor Ort herauszufinden, ob eritreische Asylbewerber nach Hause geschickt werden könnten. Was hat die Politikerreise aus Ihrer Sicht gebracht?

 

Toni Locher: Es kann etwas Bewegung in die „verhockte“ Politik bringen. Das Staatssekretariat für Migration ist nämlich noch völlig auf Abwehr fixiert. Da habe ich das Gefühl, ich sei im falschen Film. In der EU ist die Flüchtlingskrise ein Dauerthema. Österreich macht die Grenzen zu wie auch Schweden, das die Eritreer bisher grosszügig aufgenommen hat und auch Deutschland wird kippen. Und was passiert? Die Eritreer werden im Frühling wieder in grosser Zahl im Chiasso ankommen. Will man sie dann nach Deutschland durchreichen?

 

faktuell.ch: Gehen wir eine Etage höher: Justizministerin Simonetta Sommaruga bezeichnet Eritrea als Willkür- und Unrechtsstaat. Erschwert sie mit solchen Aussagen ein Rücknahme-Abkommen?

 

Toni Locher: Das ist diplomatisch nicht besonders geschickt. Im Gespräch auf Augenhöhe könnte man die Migrationsproblematik im gegenseitigen Interesse genauer ansehen. Es geht ja nicht um Flucht, sondern um eine Arbeitsmigration aus Perspektivlosigkeit.

 

faktuell.ch: Sollte die Schweiz von sich aus einer gewissen Anzahl Eritreern anbieten, sich in der Schweiz niederlassen zu können…

 

Toni Locher: … vielleicht ein paar hundert, die in der Schweiz eine Berufsausbildung machen können, warum nicht? Oder auch Studenten. Eritrea schickt Stipendianten in die Emirate, nach Südafrika und China. Für diese Leute wäre ein Aufenthalt in der Schweiz auch sinnvoll, weil sie nicht in der Sozialhilfe landen, sondern nach der Ausbildung vielleicht wieder zurückgehen. Unser duales Berufsbildungssystem ist ausserdem der Exportschlager par excellence. Für das, was Eritrea braucht an Ausbildung, wäre die Schweiz optimal aufgestellt. Die EU hat Ende 2015 200 Mio. Euro für Eritrea budgetiert, die sie zum grossen Teil in Solarenergie investieren will, um die schwierige Energiesituation in den Griff zu bekommen und zu vermeiden, dass die Leute vom Land in die Stadt ziehen. Für den Unterhalt könnten wir landesweit ein paar hundert Solar-Techniker ausbilden. Und: Velos sind das wichtigste Verkehrsmittel in Eritrea. "Velafrica" schickt im Auftrag des Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea (SUKE) pro Jahr 2000 Velos dorthin und wir könnten vor Ort Velo-Mechaniker ausbilden, die sie reparieren können. Handwerker braucht das Land. Wir können sie schulen. Ein Gewinn für beide Seiten

 

faktuell.ch: Hat sich Bundesrätin Sommaruga mit Ihnen unterhalten?

 

Toni Locher: Nein, ich bin ja auch nicht ihr Berater. Im SEM gibt es zu Eritrea durchaus Länderexperten. Die gehen im März nach Eritrea. Das ist nicht schlecht. Eigenartig im europäischen Umfeld ist allerdings, dass z.B. Deutschland, Finnland, Italien und Norwegen Leute auf Stufe Minister oder Staatssekretär entsandt haben. Nur die Schweiz, die das grösste Kontingent an Eritreern hat, will jetzt eine niederrangige Beamtendelegation schicken. Das ist diplomatisch ungeschickt. Ebenso ungeschickt ist es, wenn unsere Asylministerin Sommaruga Äthiopien als Bundespräsidentin einen Staatsbesuch abstattet, sich dort mit militärischen Ehren empfangen lässt und ein Gebiet im Osten besucht, das menschenrechtlich höchst umstritten ist. Und Eritrea wird als Diktatur beschimpft. Weshalb ist es nicht möglich, gelassen eine Neueinschätzung der Lage vorzunehmen, statt zu mauern? Frau Sommaruga bezieht sich immer auf Europa und will eine europäische Lösung. Die europäischen Länder gehen einfach hin und reden mit den Eritreern auf Augenhöhe. 

 

faktuell.ch: Sie kennen die eritreische Kultur. Wie integrierbar sind Eritreer bei uns?

 

Toni Locher: Eritreer sind „hard working“, sehr arbeitsam. Man nannte die ältere Generation „die Preussen Afrikas“. Die Jungen haben andere Lebensperspektiven und sind verführt von der westlichen Lebensweise. Es lohnt sich, historisch zu beurteilen, wie die ganze Migration entstanden ist. Die erste Phase der Migration fand während der italienischen Kolonialzeit statt. Viele Italiener wanderten aus und siedelten sich in Asmara an. Schöne Lage, angenehmes Klima. Umgekehrt gingen Eritreer, insbesondere eritreische Frauen, nach Italien, um in herrschaftlichen italienischen Haushalten zu arbeiten. In den 1950er und 1960er Jahren – während der Föderation und der späteren Annexion durch Äthiopien – kam es zu kleineren Migrationswellen, zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges 1961 bis 1991 auch zu Fluchtbewegungen. Diese erste Flüchtlingsgeneration nähert sich unterdessen dem Rentenalter, ist gut integriert und verdient ihr eigenes Geld.

 

faktuell.ch: Und jetzt haben wir es mit einer neuen Generation zu tun…

 

Toni Locher: 2005 erliess die Asylrekurs-Kommission das Urteil, wonach in der Schweiz Dienstverweigerer Asyl erhalten. Das UNHCR anerkannte 2009 alle Eritreer, die das Land verlassen automatisch als Flüchtlinge. Das war ein Blanko-Papier für junge, clevere Eritreer, sich auf den Weg zu machen. Daraus sind ein Pull-Faktor und damit ein gut organisiertes Schlepper-Business entstanden. Diese gegenwärtigen jungen Männer sind nicht mehr gut integrierbar. Ihre Probleme sind mangelnde Bildung und Sprachkenntnisse und wir haben in der Schweiz zu wenige Niedriglohn-Arbeitsplätze. Wir sind mit der langfristigen Integration überfordert und das kann nur schlechter und schlimmer werden. Auch für die jungen Eritreer.

 

faktuell.ch: Was bedeutet dies für den regionalen Konflikt?

 

Toni Locher: Es ist Äthiopiens erklärtes Ziel, Eritrea wieder zu annektieren oder zumindest den Hafen Assab zurückzuerobern. Wenn die Eritreer ihr Land weiter in der jetzigen Frequenz verlassen, könnte dies eine militärische Okkupation überflüssig machen…

 

faktuell.ch: Was erwartet das eritreische Staatsoberhaupt Isayas Afewerki von der Schweizer Regierung?

 

Toni Locher: Es tut Eritrea weh, wenn die Jungen abwandern. Das ist nicht gut für ein kleines Land mit 3,5 Millionen Einwohnern und einer Million Staatsbürgern im Ausland. Eritrea gibt 45 Prozent seines Budgets für Bildung aus – vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule. Der „brain drain“, die Abwanderung gut Ausgebildeter, ist eine Bürde für ein armes Land, das sie im laufenden Prozess des „nation building“ dringend nötig hätte.

 

faktuell.ch: Wenn Eritreer in der Schweiz Asyl erhalten, kann man ihre Geldüberweisungen aus unseren Sozialwerken als Entwicklungshilfe betrachten. Macht sich die Schweiz aber nicht auch der kolonialistischen Ausbeutung schuldig, indem sie dem Land die „Ressource“ Mensch entzieht?

 

Toni Locher: Die Eritreer sind ein sehr stolzes Volk. Es tut den Älteren sehr weh, wenn die Jungen eine höllische Reise in Kauf nehmen, um nach Europa abzuhauen, dort erst mal mit Desinfektionsmitteln abgesprüht werden und merken, dass sie nicht willkommen sind. Das ist nicht gut für ihre Seele. Eritrea kennt eine starke Wertegemeinschaft, die Familie, auf die sich die Jungen in Europa nicht mehr abstützen können. Der Mix von Frustration, Ablehnung und Langeweile führt dazu, dass sie ins soziale Elend abgleiten, sich mit Alkohol betäuben oder gar Suizid begehen. Sie sind wie verlorene Söhne und Töchter. Wir haben zwar ein ausgezeichnetes Sozialnetz. Aber junge Männer, die auf Jahre hinaus auf Sozialhilfe sind – das ist für mich kein Leben in Würde.

 

faktuell.ch: Wie kommt es, dass minderjährige Kinder aus Eritrea bei uns auftauchen?

 

Toni Locher: Die Eltern versuchen, ihre Kinder mit Strenge oder Überzeugungskraft zurückzuhalten, aber diese hauen einfach ab. Die jungen Eritreer sind über Social Media in ihren Peer Groups vernetzt und gut informiert. In Internet- Cafés ist das Hauptthema, wie man gut nach Europa und in das Land mit den besten Bedingungen kommt. Nach 2005 (Dienstverweigerung in Eritrea berechtigt zu Asyl) ist das die Schweiz. Vorher war die eritreische Diaspora in der Schweiz ganz klein. Jetzt ist die Türe offen – daran hat auch die Asylgesetzrevision 2013 nicht viel geändert. Der Sog ist da. Die Diaspora zahlt, wenn ein Minderjähriger gegen den Willen der Eltern abhaut. Es ist für die Verwandten schwierig, finanzielle Hilfe abzulehnen. Der Junge kann auch nicht zurück, weil er sein Gesicht wahren will.

 

faktuell.ch: Und wer Asyl beantragt hat, bleibt vorerst im Aufnahmeland…

 

Toni Locher: …da kommt das internationale Non-refoulement-Prinzip zum Tragen. Das nehmen die Schweiz und Eritrea sehr ernst. Es bleibt also nur die freiwillige Rückkehr. Rückschaffungen könnte man diskutieren im Rahmen eines Rückübernahme- und Migrationsabkommens. Dafür muss der Dialog aufgenommen werden. Gerade weil in Eritrea niemand an Leib und Leben bedroht ist, wäre es eine Win-Win-Situation. Ich plädiere für eine Öffnung von beiden Seiten. Die Schweiz und Eritrea sind beide kleine und gebirgige Länder mit vielen Berührungspunkten.

 

faktuell.ch: Das würde eine ständige Vertretung der Schweiz in Eritrea bedingen. Setzt die Schweiz falsche Prioritäten bei ihren diplomatischen Vertretungen?

 

Toni Locher: Ja natürlich. Wir haben ein derart grosses Eritreer-Problem und der Botschafter sitzt im entfernten Khartum, im Sudan. Weshalb nicht in Eritrea? Dass man die richtigen Schwerpunkte setzen kann, macht die EU vor. Die EU, Deutschland, Italien, Frankreich, Grossbritannien und die USA sind vor Ort vertreten und machen differenzierte Analysen der Lage.

 

faktuell.ch: Asylgrund Nummer eins der Eritreer in der Schweiz ist der „Nationaldienst“ – der obligatorische Militär-und Zivildienst. Ist dieser Nationaldienst mit der schweizerischen Wehrpflicht zu vergleichen, die man von 1950 bis 1960 bis ins hohe Alter von 60 zu erfüllen hatte und dann bis 1995 immerhin noch bis 45?

 

Toni Locher: Der eritreische Nationaldienst hat sogar Elemente des schweizerischen Systems übernommen. Laut Proklamation von 1994 dient der Nationaldienst nicht nur der Verteidigung dieser jungen Nation, sondern auch der Staatsbildung, indem sich alle Volksgruppen und Religionen kennenlernen. Daran hatte damals niemand etwas auszusetzen. In Friedenszeiten dauert der Nationaldienst 18 Monate. Weil Äthiopien die Kriegserklärung von 1998 nicht zurückgenommen hat und regelmässig Drohungen ausspricht, gilt de facto ein Kriegszustand. Das heisst, dass der Nationaldienst verlängert werden kann. Dies entspricht der Mobilmachung in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Das ist eine enorme Belastung für das Land, auch eine ökonomische, weil die Soldaten einen kleinen Lohn erhalten, der seit dem 5. Juli 2015 von 500 auf 2000 Nakfa (133 Franken) erhöht wurde. Für die Jungen ist die Situation natürlich hart und schwierig. Aber für einen jungen und armen Staat ist es wichtig, dass sich jeder engagiert für den Wiederaufbau des Landes. Eritrea braucht die jungen Leute in allen Bereichen. Zu 80 Prozent leisten sie zivilen Dienst und sind in den Ministerien tätig.

 

faktuell.ch: Eritrea ist erst seit 1991 von Äthiopien unabhängig und in Sachen Verteidigung wachsam. Spielen wir uns allzu sehr als Schulmeister in Sachen Demokratie über dieses junge Land auf? Zum Vergleich: Wir – seit der Gründung 1848 von Kriegen verschont – haben vom Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1990er-Jahre rund 10‘000 junge Schweizer Dienstverweigerer durch die Militärjustiz aburteilen lassen und für mehrere Monate bis über ein Jahr hinter Gitter gebracht. Nachdem sie die Strafe abgesessen hatten, wurde viele von ihnen im Beruf diskriminiert und in Einzelfällen sogar Heiratsverbote erlassen…

 

Toni Locher: … es ist praktisch in allen Ländern so, dass Desertion strafrechtlich geahndet wird. Was es in Eritrea bisher nicht gibt, ist das Recht auf Dienstverweigerung. In den letzten zwei Jahren der Öffnung des Landes wird Desertion nicht mehr bestraft, Rückkehrer müssen allenfalls ein paar Monate Nationaldienst nachleisten.

 

faktuell.ch: Inwiefern übt die eritreische Botschaft in Genf Druck auf die Eritreer aus, einen Teil ihrer Einnahmen abzuliefern?

 

Toni Locher: Es gibt seit 1991 das 2-Prozent-Gesetz. Leute, die nicht direkt zur Unabhängigkeit des Landes beitragen, keine Toten und Verletzten zu beklagen haben und im Ausland gut verdienen, tragen 2 Prozent ihres Einkommens zum Aufbau des Landes bei. Diesen Beitrag leisten Eritreer, die mit ihrem Land verbunden sind und auch wieder zurückkehren wollen. Die Jungen zahlen praktisch nie. Die haben andere Sorgen und Bedürfnisse.

 

faktuell.ch: Könnte es für schweizerische Fachkräfte verlockend sein, in Eritrea zu arbeiten oder für Rentner, dort ihren Lebensabend zu verbringen?

 

 

Toni Locher: Die alte Diaspora-Generation kehrt – wie viele Italiener – im Alter wieder in die Heimat zurück. Es ist ihnen hier viel zu kalt und zu neblig. Etwas ausserhalb von Asmara hat es ganze Quartiere mit Neubauten, die von Diaspora-Rückkehrern bewohnt werden. Ich kann mir vorstellen, dass Eritrea auch für Schweizer zu einer beliebten Reise- und Altersdestination werden könnte: Das Klima ist sehr angenehm, alles ist sauber, absolut keine Kriminalität. Rentner müssten keine Angst vor Einbrüchen haben. Eritrea hat weltweit die niedrigste Einbruchsrate. Das hat mit der Kultur, mit den Werten des Landes zu tun. Und wir sollten endlich aufhören mit der Diffamierung dieses kleinen Landes. Dahinter steckt der Konflikt Äthiopien-Eritrea. Die Schweiz, die Millionen an Äthiopien gibt, könnte auch etwas Druck ausüben und ihre guten Dienste anbieten, damit der Konflikt gelöst wird, die Sanktionen aufgehoben werden und das Land wieder atmen kann. Dann werden auch weniger Eritreer in die Schweiz kommen.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann


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Peter Gross: "Warum heben wir die Zwangspensionierung nicht einfach auf?"

faktuell.ch im Gespräch mit Peter Gross, emeritierter Ordinarius für Soziologie an der Universität St. Gallen, Autor und Publizist.

Peter Gross

 

faktuell.ch: Herr Gross, Sie sind emeritierter Professor und werden 75 Jahre alt – leben Sie mit Ihrer grosszügigen Altersvorsorge auf Kosten der Jungen?

 

Peter Gross: Nein, vorläufig gar nicht. Ich zahle weiterhin AHV-Beiträge, ich zahle ebenfalls weiterhin Einkommens- und Vermögenssteuern. Mancher Junge würde staunen, wenn er meine Steuerrechnung sehen könnte.

 

faktuell.ch: Wie die Statistik der Eidg. Steuerverwaltung zeigt, zahlt ein Rentner in jeder Einkommenskategorie mehr Steuern als ein verheirateter Angestellter ohne Kinder…

 

Peter Gross: …ja und etwa die Hälfte der AHV fliesst schnurstracks wieder in die Volkwirtschaft zurück und kommt den Jungen und der Ausbildung zugut. Aber wenn ich sage, dass auch die 100-Jährigen noch Steuern zahlen, schauen mich die jungen Leute mit grossen Augen an. Sie haben natürlich ein ganz anderes Bild vom alternden, lang lebenden Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sollten sich aber klar werden, dass ein grosser Teil von dem, was ihre Kindergärten, Schulen und Studienplätze kosten, mitfinanziert wird von jenen, die sie angeblich als ‚Schmarotzer‘ unterstützen müssen.

 

faktuell.ch: Vielleicht hat diese Haltung auch damit zu tun, dass unser Erbrecht die Eltern finanziell praktisch entmündigt… her mit dem Erbvorbezug -…

 

Peter Gross: … gut, aber was heisst entmündigen?

 

faktuell.ch: Dürfen wir der Gegenfrage entnehmen, dass Sie es vorziehen, mit „warmen Händen“ zu geben?

 

Peter Gross: Ich halte es für richtig, Kindern Vorbezüge zu geben, am besten mit monatlichem Dauerauftrag an die Bank. Denn heute erben die Jungen nicht mehr von den Alten, sondern die Betagten von den Hochbetagten. Deshalb sollten Eltern ihren Kindern unbedingt etwas überlassen, bevor sie es nicht mehr brauchen, weil sie sonst beim Erben selbst schon 60 oder 70 sind.

 

faktuell.ch: Um die 10 Milliarden Franken ist die Gratisarbeit wert, die die Alten mit der Betreuung ihrer Enkel leisten.

 

Peter Gross: Das ist nichts Neues. Grosseltern haben den Eltern schon immer bis zu einem gewissen Grad die Sorge um die Enkel abgenommen. Früher hatte man neun Kinder und die Last der Betreuung verteilte sich auf alle Tanten und Töchter. Bei den heutigen Kleinfamilien wird dies durch den ‚Generationenbaum‘ kompensiert: Es springt nicht nur die Grossmutter ein, sondern allenfalls auch die Urgrossmutter. Die vertikale Hilfeleistung ersetzt bis zu einem gewissen Grad die horizontale, die man früher hatte. Gut so!

 

faktuell.ch: Sie sehen die Alten auch als Ruhestifter, als Retter des Weltfriedens, weil sie Errungenschaften bewahren und nachhaltig bewirtschaften?

 

Peter Gross: Ja. Die hohe Lebenserwartung ist eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste zivilisatorische Errungenschaft der letzten Jahrhunderte. Sie ist keine Gefahr, sondern eine „opportunity“, eine Möglichkeit, unsere Gesellschaft anders anzulegen. Im Maghreb und in arabischen Ländern findet heute eine demografische Inflation statt. Eine junge, aggressive und unruhige Bevölkerung muss im Zügel gehalten werden, weil sie keinen Platz findet in der Gesellschaft, keine Arbeit, keine Heirat. Sie kann zur Gefahr werden. Es staut sich ein Groll auf, der sich immer wieder entlädt, ein „Karneval der Underdogs“, wie der slowenische  Philosoph Slavoj Zizek sagt. Unsere demografische Evolution wird über die zunehmende Alterung und Langlebigkeit zu einer gewissen Beruhigung dieser Situation führen. Wenn man in diesen Ländern die Menschen fragt, welche Bevölkerungsstruktur sie sich wünschen, dann sagen alle: so eine wie bei euch…

 

faktuell.ch: … und wie wollen Sie junge Männer, die, Testosteron getrieben, eine archaische Lust auf Kampf und Auseinandersetzung haben, auf ihre Seite bringen?

 

Peter Gross: Es braucht seine Zeit, bis sich eine aufgeklärte Familiensituation einstellt. Die Entwicklungshilfe muss man nicht mit Hilfsgütern aufstocken, sondern mit Leuten, die Schulen gründen, Bildung vermitteln und den Frauen sagen, dass es eine Möglichkeit gibt, zu entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht, dass es nichts Naturgegebenes und Automatisches ist…

 

faktuell.ch: Argumentieren Sie nicht aus einer rein westlichen, aufgeklärten und damit bequemen Position heraus?

 

Peter Gross: So ist es. Denn die westliche Perspektive von Freiheit ist vorderhand ein unschlagbares Programm! Unser Verständnis von Freiheit und Gleichheit ist vermutlich der letzte grosse westliche Export, den wir bieten können.

 

faktuell.ch: Zurück zu unserer alternden Gesellschaft. Befürworten Sie ein flexibles AHV-Alter?

 

Peter Gross: Als ersten Schritt ja. Aber es gilt, weiterzugehen bis zu einer vollständigen Öffnung der Lebensarbeitszeit nach oben. Diese Option wird in der Schweiz einfach nicht diskutiert. In neuen empirischen Untersuchungen, bei denen Rentner ein Jahr nach ihrer Pensionierung gefragt werden, ob sie noch arbeiten möchten, antworten über 50 Prozent mit Ja! Weshalb riskiert man aufgrund solcher Daten nicht einfach, die Zwangspensionierung aufzuheben? Klar, es würde riesige administrative Umstellungen bedeuten, weil gewissermassen individualisierte Konten geführt werden müssten. Aber im Prinzip ist es unsinnig, in einem freiheitlichen Land festzulegen, ab wann die Leute nicht mehr arbeiten dürfen.

 

faktuell.ch: Heikel dürfte sein, die Grenze zwischen Arbeitswille und Arbeitsfähigkeit zu ziehen.

 

Peter Gross: Die entscheidende Voraussetzung ist nicht, dass jemand weiter arbeiten will, sondern dass er weiter arbeiten kann. Die Assessment-Abteilungen in den künftigen Betrieben werden nicht mehr allein darauf achten müssen, wie man Leute einstellt und entlässt, sondern wie und wo man sie weiter beschäftigt. Sie müssen die Frage klären, was die Leute können und was sie können müssen. Wenn beides übereinstimmt, dann ist eine Weiterbeschäftigung am Platz, der Wille allein genügt nicht.

 

faktuell.ch: Wie verändert sich dadurch das soziale Gefüge?

 

Peter Gross: Denken wir daran, dass auch die Kundschaft immer älter wird. Verwaltungen, Banken, Versicherungen und andere Institutionen müssen mit ihren Kunden auf Augenhöhe kommunizieren können. Das bedingt ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn eine Institution sich rühmt, die Personalstruktur verbessert zu haben, dann heisst dies in der Regel: Verjüngung des Personals. Dabei müsste die Verbesserung der Personalstruktur vielmehr Anpassung an die Kundschaft bedeuten. Nehmen wir die Sozialversicherungsanstalt SVA in St. Gallen. Ihr Personal hat jetzt ein Durchschnittsalter von weniger als 40 Jahren. Die Kundschaft der SVA, die telefoniert und Auskunft will, ist über 70. Hier stimmt die Augenhöhe überhaupt nicht.

 

faktuell.ch: Oft sind es Besitzansprüche und steigende Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge, die der Beschäftigung von Arbeitnehmern über 50 im Wege stehen. Was wäre zu tun, um diesen Stolperstein aus dem Weg zu räumen?

 

Peter Gross: Da könnten wir dem japanischen Beispiel folgen: „Bananenkurve“ des Lohns. Der Lohn steigt bis ungefähr 50, dann geht es mit neuen Titeln, Auszeichnungen und Beförderungen weiter, aber der Lohn bleibt gleich oder verringert sich. Die empirische Grundlage für ein solches Denken ist, dass die meisten Leute ab 50, 55 nicht mehr so viel Geld brauchen wie in jüngeren Jahren.

 

faktuell.ch: Wer im Arbeitsmarkt steht, gehört gesellschaftlich dazu – ja, wir definieren uns über die Arbeit. Oft ist Überforderung im Spiel, Stress, die Leute sind ausgebrannt, gerade auch in Kaderpositionen, wo Macht und Einfluss locken. Der Ausweg heisst nicht selten Frühpensionierung. Macht sich die HSG als Kaderschmiede, als Fabrik für Ehrgeizige, mitschuldig am gesundheitlichen Niedergang solcher Existenzen?

 

Peter Gross: Ich sehe das Problem. Gerade angehende Finanzwissenschaftler, die als Banker „Kohle“ machen wollen, sind in einer sehr unsicheren Situation. Bei Banken gibt es gewaltige Entlassungsschübe. Von daher ist ein „Training“ des Burn-Out durchaus am Platz. Man muss den Studierenden klar machen – auch an der HSG –,dass ein Grossteil von ihnen früher oder später mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Sie sollten tunlichst nicht die Nase rümpfen über Einrichtungen wie die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen. Die sind in einer solchen Situation ganz wichtig.

 

faktuell.ch: Wie viel zählt der Faktor Erfahrung im digitalen Zeitalter noch?

 

Peter Gross: Der Grossteil des Lebens spielt sich nicht am Computer ab, sondern nach wie vor in der Familie, mit Freunden und Nachbarn. Und die Erfahrung spielt dabei eine gewaltige Rolle. Wenn uns gefällt, wie sich jemand gibt und mit Menschen umgeht, dann tun wir das auch.

 

faktuell.ch: Trump, Clinton, Sanders - in den USA sind Rentner in der Politik, aber auch in der Wirtschaft wie eh und je „am Drücker“. In Westeuropa zeigt sich eine gegenläufige Entwicklung – Cameron, Renzi etc. Und bei uns wird ein 55-jähriger Parlamentarier nach zwei Legislaturperioden bereits genervt aufgefordert, jüngeren Kollegen Platz zu machen. Und ein 36-jähriger HSG-Absolvent ohne jegliche Erfahrung kandidiert als Bundesrat. Wie ordnen Sie diesen Kulturunterschied ein?

 

Peter Gross: Jugendwahn! Ich finde, dass der Druck auf ältere Politiker, nicht mehr zu kandidieren, aufhören sollte. Es stimmt nicht, dass Alte alte Politiker wählen. Es ist vermutlich sogar so, dass die älteren Leute eine grössere Empathie für die jungen Parlamentarier haben als die Jungen selber. Zudem ist es in einer repräsentativen Demokratie, auch in einer altersaffinen Arbeitswelt, wichtig, dass auf allen Stufen die Repräsentation und die Mitarbeit da sind. Es ist völlig daneben, dass im Nationalrat nur noch ein Parlamentarier über 70-jährig ist. Die 70-80-Jährigen machen immerhin gegen 10 Prozent der Bevölkerung aus. Sie haben Anspruch auf ihre Interessenvertreter, die ruhig um die 75 sein dürfen.

 

faktuell.ch: Heute leben in einer Familie oft vier Generationen gleichzeitig. Sie sind der Meinung, dass dadurch das kollektive Gedächtnis gestärkt und eine Art Erinnerungskultur geschaffen wird. Wenn man aber sieht, dass die jungen Historiker bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs lieber in Akten gewühlt haben, als sich mit Zeitzeugen zu unterhalten, fragt sich, ob Erinnerungen tatsächlich noch gefragt sind?

 

Peter Gross: Wichtig finde ich, dass wir eine neue Reflexionskultur haben. Ein und dasselbe Ereignis – nehmen wir zum Beispiel die Übergriffe in Köln und anderswo an Sylvester -, wird heute von verschiedenen Generationen und Kulturen diskutiert. Das war früher nicht möglich. Da gab es eine dominante Meinung und der schlossen sich alle an. Das erhöhte Reflexionspotenzial in der heutigen Gesellschaft ist positiv.

 

faktuell.ch: 25 Jahre Kindheit und Ausbildung, 40 bis 50 Jahre produktive Lebenszeit. Was sollen wir mit den letzten 20 Jahren noch Sinnvolles anfangen, ausser über unsere Gebresten zu jammern?

 

Peter Gross: Wer den Sinn nicht mehr sieht, tut sich natürlich sehr schwer und wartet nur noch auf dem „Friedhofbänkli“. Aber über Gebresten jammern ist für ältere Leute wie ein Gesellschaftsspiel. Das macht vielen ziemlich Vergnügen. Sie bieten ungeheuer viel Redestoff. Aber Spass beiseite: Wir sollten nicht nur materielle Güter produzieren, um Geld im Alter zu haben, sondern auch immaterielle, damit wir im Alter einen Sinn finden. Und wer diesen Sinn findet, der wird mit dem Alter auch gut fertig.

 

faktuell.ch: Die letzten Lebensjahre sind meist die teuersten. Sollten wir dem deutschen Beispiel folgen und eine obligatorische Pflegeversicherung einführen, um die Finanzierung der Alterspflege zu sichern?

 

Peter Gross: Wir sollten es zumindest diskutieren. Wir müssen endlich die Vorstellung entzaubern, dass es unbedingt erstrebenswert ist, in den eigenen vier Wänden alt und krank zu werden. Zuhause sterben mit dem Katafalk in der Stube, mit der Spitex, mit den Ärzten, die hin und her rauschen, mit Verwandtschaft und Kindern die da sind … Ich kann nicht verstehen, weshalb die Leute nur das wollen. Die Palliativstation ist eine segensreiche Einrichtung. Sie muss überall wo es geht ausgebaut werden. Das eigene Heim ist nicht der Himmel zum Sterben. Deshalb scheint mir die Diskussion über eine Pflegeversicherung sehr wichtig.

 

faktuell.ch: Was soll einer solchen Diskussion im Wege stehen? Am Interesse der Versicherungen an einem zusätzlichen Obligatorium dürfte es kaum fehlen.

 

Peter Gross: Instruktiv wäre es, wenn man philosophisch über die Chancen der Langlebigkeit diskutieren würde. Langlebigkeit als Hoffnung des 21.sten Jahrhunderts. Die ganzen Fragen von Klima und Nachhaltigkeit nicht über Programme einfordern, sondern über das Nachwachsen einer Bevölkerung, die weniger zahlreich und älter wird. Die Akteure tun dies, ohne einem Programm zu folgen, indem sie einfach älter werden. Wenn ich das an meinem Beispiel zeigen kann: Ich lebe jetzt substanzieller als ich mit 40 oder 50 gelebt habe. Damals wurde alles getan, um das Nachdenken zu verhindern. Jetzt lebe ich anders. Mehr Ruhe, mehr Besinnung, keine Konsumhektik.

 

faktuell.ch: Und worin besteht nun wirklich der Sinn des langen Lebens, Herr Prof. Gross?

 

Peter Gross: Es gibt die – wie ich finde: blöde - Aussage von Brecht in der „Dreigroschenoper“: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Dem entgegne ich: Erst kommt der Sinn, dann kommt das Fressen. Denn ohne Sinn macht auch das Fressen keinen Sinn. Und: Alter beruhigt, birgt Entschleunigung und macht das Leben zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ganz. Anders gesagt: Alter mässigt eine heiss laufende Gesellschaft, die sich selber in jugendlichem Überschwang überfordert und ihre eigenen Lebensgrundlagen verzehrt.

 

Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann

 


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Ein moderner Staat braucht soziale Gerechtigkeit

Im demokratischen Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts ändert sich zunehmend die Aufgabenstellung, die zentralen Funktionen hingegen bleiben die gleichen. So sieht es der renommierte Politikwissenschaftler Arthur Benz in seinem nach wie vor aktuellen Lehrbuch „Der moderne Staat“.

Wichtiger als territoriale Grenzen werden funktionale und soziale Grenzen. Die dominierenden Prozesse, die den modernen Staat im 21. Jahrhundert herausfordern, sind Internationalisierung und Globalisierung:

  • Die Souveränität des Staates wird durch die Globalisierung von Wirtschaftsbeziehungen, die Globalisierung von ökologischen und sozialen Problemen sowie durch neue gebietsunabhängige Organisationsstrukturen immer stärker untergraben. Grenzen fallen zwar nicht generell weg, verlieren aber an Bedeutung.
  • Die weltweiten Wanderungsprozesse: Immer mehr Menschen leben auf Zeit oder auf Dauer als «Ausländer» in einem für sie «fremden» Staat, in dem ihnen die in einem demokratischen Staat notwendigen Rechte und Pflichten eines politisch verantwortlichen Bürgers nicht zustehen.
  • Die demokratischen Institutionen (z.B. Parlamente) büssen durch wichtige - kaum oder nicht beeinflussbare - Entscheidungen auf anderen Ebenen an Legitimationskraft ein.


Unbestritten bleibt für Benz, dass soziale Rechte und soziale Gerechtigkeit für die Stabilisierung einer Gesellschaft notwendig sind.

Zur veränderten Aufgabenstellung: Im modernen Wohlfahrtsstaat zeigt sich eine Entwicklung vom Staat, der selbst produziert und verteilt, hin zum Staat, der notwendige öffentliche Leistungen nur noch gewährleistet (wie zum Beispiel bei der Vergabe von Integrationsprogrammen oder der Organisation und Betreuung von Asylantenheimen etc.). Neu ist dabei nicht die Tatsache, dass der Staat mit privaten Akteuren kooperiert („public private partnership“), neu ist vielmehr das Ausmass der Kooperation. Es ändert sich die Ausübung der Staatsgewalt, wobei Benz einräumt, dass es immer schwerer fällt, zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Leistungserfüllung zu unterscheiden.

Fazit, vereinfacht ausgedrückt: Der Staat gibt Leistungen ab, die andere besser und billiger erfüllen können und konzentriert sich auf die Gewährleistungsfunktion.

 

(aufgeschaltet im März 2015)


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Sozialhilfe: Wie pekuniärer Anreiz zur Motivationsbremse wird

Wer von der Sozialhilfe lebt, soll finanziell nicht besser gestellt sein, als Erwerbstätige mit bescheidenem Einkommen, die ohne Sozialhilfe auskommen. Wer aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe herauskommt, soll nachher nicht weniger Geld zur Verfügung haben als in der Sozialhilfe. Abhilfe soll die Besteuerung der bedarfsabhängigen Sozialleistungen bringen und im Gegenzug die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Die Beseitigung dieser systembedingten Ungerechtigkeiten lässt schon lange auf sich warten – und nach Lage der Dinge wird es noch eine Weile so bleiben.

 

Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) bemühte im Vorfeld ihrer jüngsten Reformbestrebungen die Wissenschaft, aber der Beweis blieb aus: Eine nachhaltige Wirkung konnte den Leistungen mit Anreizcharakter, die 2005 mit der letzten Revision der SKOS-Richtlinien eingeführt wurden, nicht nachgewiesen werden. Hingegen haben Einkommensfreibetrag (EFB), Intergrationszulage (IZU) und Minimale Integrationszulage (MIZ) zu einer Austrittsschwelle geführt, weil sie eine allfällige Rückkehr ins Erwerbsleben aus pekuniären Gründen erschweren können. So hat eine Studie im Kanton Zürich festgestellt, dass mehr als jeder zehnte Sozialhilfefall durch die gesetzten Fehlanreize im Status quo verharrt, weil sich die Aufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit nicht lohnt. Und zwischen ein und zwei Prozent aller Steuerhaushalte mit bescheidenem Einkommen und ohne Sozialhilfeanspruch sind gegenüber vergleichbaren unterstützten Haushalten benachteiligt.

 

Es geht um Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize innerhalb der Systeme der bedarfsabhängigen Sozialleistungen, für die gemäss Bundesamt für Statistik rund 13 Milliarden Franken aufgewendet werden. Noch einmal schätzungsweise rund 3 Milliarden kämen dazu, wenn auch die private finanzielle und materielle Hilfe dazu gerechnet wird.

 

Negative Erwerbsanreize sind systembedingte Ungerechtigkeiten:

  • Sozialleistungsempfänger ohne Arbeit kommen auf ein ähnlich hohes Einkommen wie bei Vollzeitbeschäftigung.
  • Haushalte, welche Sozialleistungen beziehen, können ihr frei verfügbares Einkommen mit der Ausdehnung ihrer Erwerbstätigkeit nicht steigern oder
  • es lohnt sich, kürzer zu treten und die Erwerbstätigkeit zu reduzieren, weil dadurch ein Anspruch auf höhere Unterstützungsleistungen winkt.

 Letztere Variante ist in der Wissenschaft gut dokumentiert: Die Menschen reagieren mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize. Besonders krass sind Schwelleneffekte. Dabei rutschen Betroffene durch geringen Mehrverdienst aus der Anspruchsberechtigung bisheriger Bedarfsleistungen. Ein Franken Mehrverdienst kann so den abrupten Verlust von mehreren tausend Franken zur Folge haben.

 

Ein zusätzliche Hürde haben sich die Sozialpolitiker selber eingebrockt: Zulagen als Anreiz für Sozialhilfebeziehende, die sich um ihre berufliche und soziale Integration bemühen. Einkommensfreibetrag, Integrationszulage und Minimale Integrationszulage sind nicht Teil des sozialen Existenzminimums, sondern eine separate Zugabe. Fallen sie weg, beispielsweise bei einer neuen vollen Erwerbstätigkeit mit bescheidenem Einkommen, bleibt weniger im Portemonnaie als in der Abhängigkeit der Sozialhilfe. Wenn stimmt, dass rund ein Drittel der Sozialhilfeempfänger den Weg zurück in den Arbeitsmarkt findet, sind sie vom Wegfall der Unterstützung mit Anreizcharakter besonders betroffen.

 

Wie kam es zu diesen Anreizen? Sie sind Teil einer neuen Sozialphilosophie, wie sie sich mit der Verwissenschaftlichung der Sozialarbeit entwickelte. Ausgangspunkt sind die 1990er Jahre. Der in 30 Jahren Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute und nachher stets ausgebaute Sozialstaat westlicher Prägung gerät aus den Fugen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen – Langzeitarbeitslosigkeit als neues Phänomen, auch Jugendarbeitslosigkeit, neue Paar- und Familienbeziehungen – belasten die sozialen Sicherungsnetze. Die Demographie als wissenschaftliche Disziplin schüttelt ihre bisherige Mauerblümchen-Reputation ab und rückt in die erste Reihe vor. Auch die Politik wird auf sie aufmerksam.

 

Überalterung, Armutsmigration – in absehbarer Zeit werden Migranten in grossen westeuropäischen Städten die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Mit der Bologna-Reform um die Jahrtausendwende wird der einst bodenständige Beruf des Sozialarbeiters auch in der Schweiz wissenschaftlich aufgemischt, Wissen wird wichtiger als Erfahrung, „Case Management“ ersetzt praktische Begleitung vor Ort.

 

Unter den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen benötigen immer mehr Menschen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse Unterstützungsleistungen. Gefragt sind Alternativen zum Status quo. In den akademischen Debatten innerhalb der Europäischen Union (EU) bildet sich das bis heute massgebende Bild eines „Neuen Wohlfahrtstaates“ heraus, das von der EU bereit 2000 zur Norm erklärt wurde.

 

Auf diesem Pfad haben sich die europäischen Sozialstaaten im Grossen und Ganzen weiterentwickelt, schreibt die SKOS in einem ihrer zahlreichen Grundlagenpapiere.

Zum neuen Sozialstaatsansatz gehört die Aktivierung, was die aktive Hilfe zur sozialen und wirtschaftlichen Integration im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“ anspricht. Die Soziallehre, die dem zugrunde liegt, geht davon aus, dass es oft Prozesse von Integration und Ausschluss sind, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten führen. Und sie hält dafür, etwas frei übersetzt, dass betroffene Personen befähigt werden müssen, für sich selber zu sorgen statt in Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu verkümmern. So fanden die finanziellen Erwerbsanreize Eingang in das System der sozialen Sicherheit, an denen die SKOS und die Konferenz der Fürsorgedirektoren (FDK) festhalten wollen.

 

Vom Weg, den die helvetische Sozialarbeit weiter beschreiten will, erhofft sie sich zweierlei: Erstens eine effizientere Armutsbekämpfung, da Haushalte in sozialstaatlicher Abhängigkeit hin zum Arbeitsmarkt geführt werden; zweitens kann die beunruhigende demographische Entwicklung bekämpft werden, da die Sozialwerke dank der Erhöhung der Erwerbsquote nachhaltig finanziert werden können.

 

Schon früher hat eine Studie auf etwas Drittes hingewiesen: Die Sozialleistungen und Steuern sollten so aufeinander abgestimmt sein, dass sich eine Ausdehnung der Erwerbstätigkeit auch für bescheiden Verdienende immer lohnt. Denn vor allem angelsächsische Länder mit liberalen Arbeitsmärkten und ausgebauten Bedarfsleistungssystemen sahen sich mit unerwünschten Fehlanreizen konfrontiert: Schwelleneffekten und negativen Erwerbsanreizen.

 

Es geht um „horizontale Gerechtigkeit“: steuerliche Gleichstellung von (teil)erwerbstätigen und unterstützten Personen, mithin Gleichbehandlung der Einkünfte aus Erwerb und Sozialtransferleistungen. Damit Menschen, die in Niedriglohnjobs arbeiten, am Ende des Monats nicht weniger frei verfügbares Einkommen zur Verfügung haben, als Menschen, die von der Sozialhilfe leben. Und Menschen, die teilweise oder ganz zurückfinden in den ersten Arbeitsmarkt, sollen nicht weniger Geld im Portemonnaie haben, als vorher ohne Erwerbseinkommen.

 

Vor 20 Jahren hat das Bundesgericht in einem Entscheid das Grundrecht auf Existenzsicherung anerkannt. Gemeint ist das Recht auf Sicherung elementarer menschlicher Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Obdach. Daraus lässt sich aber kein Anspruch auf steuerliche Befreiung im Umgang mit dem Existenzminimum ableiten. Der verfassungsrechtliche Schutz beschränkt sich auf die Garantie, dass niemand durch eine staatliche Abgabeforderung effektiv in seinem Recht auf Existenzsicherung verletzt werden darf.

 

Das Bundesgericht überliess es den kantonalen und eidgenössischen Parlamenten als Gesetzgeber, wie sie dieser Vorgabe genügen wollen: durch die Festlegung eines Steuertarifs, durch Steuerfreibeträge und Abzüge oder durch Steuererlass in Fällen von Bedürftigkeit. In einem Land mit 26 Steuersystemen und fast ebenso vielen Bedarfsleistungssystemen mit zusätzlich unterschiedlicher hierarchischer Reihenfolge für den Bezug der Sozialleistungen ein komplexes Unterfangen.

 

Kommt eine weitere Knacknuss hinzu: Das Existenzminimum ist in der Schweiz nicht einheitlich definiert. Verschiedene Zweige der sozialen Sicherheit haben je eigene Existenzminima und damit entsprechende Armutsgrenzen festgelegt. Mit welchem Betrag ein Haushalt unterstützt wird, hängt also wesentlich davon ab, von welchem Existenzminimum bei der betreffenden Sozialleistung ausgegangen wird. Am meisten werden das betreibungsrechtliche Existenzminimum, das Existenzminimum der Sozialhilfe und das Existenzminimum für Ergänzungsleistungen zur AHV/IV verwendet. Dabei gehen alle drei Existenzminima von unterschiedlichen Kosten für den allgemeinen Lebensunterhalt aus, anerkennen unterschiedliche Ausgabenposten als Teil des Existenzminimums und gewähren unterschiedliche Zusatzleistungen:

 

Beim betreibungsrechtlichen Existenzminimum (Alleinstehende 1230 Franken, Paare 1780 Franken) geht es nicht um Existenzsicherung im eigentlichen Sinn, sondern um den Betrag, den eine verschuldete Person oder Familie für den Lebensunterhalt benötigt und der deshalb nicht gepfändet werden darf.

 

Das Existenzminimum der Sozialhilfe unterscheidet zwischen absolutem und sozialem Existenzminimum. Das absolute Existenzminimum bezieht sich auf die minimale materielle Grundsicherung (eine Person 986 Franken, zwei Personen 1509 Franken). Das soziale Existenzminimum, für das sich die SKOS mit ihren Richtlinien engagiert, umfasst neben der materiellen Grundsicherung auch situationsbedingte Leistungen, die sich aus der besonderen gesundheitlichen, wirtschaftlichen oder familiären Situation der Betroffenen ergeben. Und ausserhalb des sozialen Existenzminimums kommen Leistungen mit Anreizfunktion dazu: die Integrationszulage IZU 100 bis 300 Franken, die minimale Integrationszulage MZU 100 Franken und der Einkommensfreibetrag 400 bis 700 Franken.

 

Die heute steuerfreien Ergänzungsleistungen zur AHV/IV sind so ausgestaltet, dass den Beziehenden nach Bezahlung der Miete (bis zu vorgegebenen Maximalbeträgen) und der Krankenkassenprämie (obligatorische Grundversicherung) der Betrag zur Bestreitung der übrigen Lebenshaltungskosten zur Verfügung steht (Alleinstehende 1607 Franken, Ehepaare 2411 Franken). Dabei ist zu berücksichtigen, dass EL-Beziehende im Gegensatz zur Sozialhilfe keine situationsbedingten Leistungen erhalten. Der etwas höhere Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf soll die Besteuerung der AHV- und IV-Renten ausgleichen sowie Rückstellungen für Unvorhergesehenes ermöglichen.

 

Bei der direkten Bundessteuer – rund 30 Prozent der Steuerpflichtigen zahlen keine direkte Bundessteuer – ist das Existenzminimum bereits nach geltendem Recht faktisch freigestellt, weil kleinere Einkommen durch das Zusammenwirken von Steuertarif und Abzügen von der Steuerpflicht ausgenommen sind, ohne dass dies explizit vorgeschrieben wird. Auch in den kantonalen Steuergesetzen findet sich keine ausdrückliche Regelung, nach welcher das Existenzminimum freizustellen ist.

 

Noch harrt die „horizontale Gerechtigkeit“ schweizweit einer Lösung, wenngleich unisono die Meinung vorherrscht, dass Ungleichbehandlungen und Schwelleneffekte sowie damit verbundene negative Arbeitsanreize auszumerzen sind. Zum Stand der Dinge: Aufgrund einer 2009 eingereichten Standesinitiative des Kantons Bern hatte der Ständerat einer Motion zugestimmt, die die Steuerbarkeit von Unterstützungsleistungen und die steuerliche Entlastung des Existenzminimums zum Ziel hat. Doch die nationalrätliche WAK als vorberatende Kommission des Nationalrates wollte zuletzt in dieser Sommer-Session davon nichts wissen. Sie bezweifelt, dass eine Besteuerung von bedarfsabhängigen Sozialleistungen dieses Problem effektiv beheben kann und glaubt, dass das es durch eine gute Abstimmung von Steuer- und Sozialtransfersystem auf kantonaler Ebene weitgehend behoben werden kann.

 

Tatsächlich sind Lösungen, die zumindest einen Teil der Fehlanreize reduzieren, zur Hand, zumindest auf dem Papier *). So sind sich die Experten einig, dass Bedarfsleistungen anders als heute üblich stufenlos ausgerichtet werden sollten. Eine lineare Ausgestaltung der Sozialleistungen garantiert den allmählichen Rückgang einer Leistung, ohne dass mit zunehmendem Erwerbseinkommen ein abrupter Rückgang in Kauf genommen werden muss.

 

Die Analyse zeigt auch, dass Kantone, die ein einheitliches massgebliches Einkommen für die Bezugsberechtigung von Sozialleistungen kennen und die Reihenfolge für den Bezug solcher Transferleistungen in einem Harmonisierungsgesetz regeln, systembedingte Ungerechtigkeiten eher vermeiden. Diese Erkenntnis wird auch von einer Zürcher Studie **) geteilt, die analysiert hat, dass beim Übergang von der Sozialhilfe in die wirtschaftliche Unabhängigkeit fast bei allen Haushaltstypen bedeutsame Schwelleneffekte auftreten. Sie entstehen, weil Einkommensfreibetrag (EFB), Integrationszulage (IZU), Minimale Integrationszulage und situationsbedingte Leistungen (SIL) beim Eintritt in die Sozialhilfe nicht berücksichtigt werden.

 

Neben Faktoren wie Verbilligung der Krankenkassenprämien, der Alimentenbevorschussung, Kinder- und Familienzulagen, Mietzinsen und Kosten der familienexternen Kinderbetreuung bleibt die Steuerbelastung ein wesentlicher Faktor für das verfügbare Einkommen. Die Steuern (s. faktuell.ch „Die Schweizer Kantonshauptorte im Spiegel ihrer Steuerpolitik“) verursachen im Zusammenspiel mit Bedarfsleistungen, insbesondere bei der Sozialhilfe, in manchen Kantonen erhebliche Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize. Einfach wäre es, Haushalte mit Sozialhilfe und Haushalten mit bescheidenem Einkommen und ohne Sozialhilfe gleichzustellen: Das Existenzminimum müsste über der Anspruchsgrenze der Sozialhilfe und der heute ebenfalls steuerbefreiten Bedarfsgrenze für den Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV liegen.

 

Aus „systemlogischer Sicht“ wäre für die SKOS-Analytiker auch die Besteuerung der Transferleistungen vertretbar, allerdings nur, wenn es nicht zu einem unzulässigen Eingriff ins soziale Existenzminimum kommen würde, was heisst: Die Besteuerung müsste mit einer Erhöhung der Unterstützungsleistungen kompensiert werden. Ein Nullsummen-Spiel.

 

 

*) Schwelleneffekte und negative Anreize bei Transferleistungen, SKOS, 2012

**) Fehlanreize im Steuer- und Sozialsystem des Kantons Zürich, econcept AG, 2012

 

(aufgeschaltet im August 2015)

 

 


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Die bedarfsabhängige Sozialunterstützung in der Schweiz kostet 16 Milliarden

Die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz ist nur eine von verschiedenen bedarfsabhängigen Sozialleistungen im schweizerischen Sozialsystem – und mit knapp 2,5 Milliarden Franken bei weitem nicht die kostspieligste. Alle bedarfsabhängigen Sozialleistungen zusammen bewegen sich in den Grössenordnung von 16 Milliarden Franken.

Im Unterschied zu den Sozialversicherungen, die auf Bundesebene geregelt sind, fallen die bedarfsabhängigen Sozialleistungen in die Zuständigkeit der Kantone und Gemeinden. Die Finanzstatistik der bedarfsabhängigen Sozialleistungen, wie sie das Bundesamt für Statistik (BfS) für das Jahr 2012 (jüngste Erhebung) zusammengestellt hat, zeigt folgendes Bild: Total sind bedarfsabhängige Sozialleistungen im Betrag von 12,7 Mrd. Franken ausbezahlt worden, woran sich der Bund mit 4,12 Mrd., die Kantone mit 5,6 Mrd. und die Gemeinden mit 3 Mrd. beteiligt haben.

 

Die bedarfsabhängigen Sozialleistungen werden vom BfS in vier Kategorien unterteilt:

 

  • Leistungen zur Sicherstellung der Grundversorgung: Stipendien, Opferhilfe, unentgeltliche Rechtshilfe, Zuschüsse an Sozialversicherungsbeiträge, Verbilligung und Übernahme von Prämien der obligatorischen Krankenversicherung. Diese Bedarfsleistungen sind in der Bundesgesetzgebung verankert und finden sich in allen Kantonen.
  • Leistungen in Ergänzung ungenügender oder erschöpfter Sozialversicherungsleistungen: Bestimmte bedarfsabhängige Sozialleistungen setzen dann ein, wenn die Leistungen der Sozialversicherungen den Bedarf nicht abdecken. So werden bedarfsabhängig Geburtsbeihilfen, Mutterschaftsbeihilfen und Familienbeihilfen als Ergänzung zu den Kinderzulagen ausgerichtet. Weitere Leistungen bestehen als Ergänzung zu AHV und IV (seit 2012 zwei getrennte Fonds), zur Arbeitslosenversicherung und zur Krankenversicherung. Diese Leistungen sind primär kantonal geregelt.
  • Leistungen in Ergänzung mangelnder privater Sicherung: Wo keine eigene Rücklagen vorhanden sind oder eine familiäre Unterhaltspflicht nicht geleistet wird, kommen bei Bedarf individuelle Wohnkostenzuschüsse oder die Alimentenbevorschussung zum Zug. Auch diese Leistungen sind primär kantonal geregelt.
  • Bedarfsabhängige Sozialleistungen im Rahmen der öffentlichen Sozialhilfe: Die „klassische“, aus den kantonalen und kommunalen Steuermitteln gespiesene Sozialhilfe als letztes Netz im System der sozialen Sicherheit, wie sie die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) schweizweit definiert. Zu dieser Kategorie gehört auch die hauptsächlich aus Bundesmitteln finanzierte Sozialhilfe im Asyl- und im Flüchtlingsbereich sowie die Asyl-Nothilfe.

 

Die einzelnen Gesamtleistungen im Überblick:

 

  • 4,4 Mrd. Franken für Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV (Bund: 1,3 Mrd., Kantone: 2 Mrd., Gemeinden: 1,1 Mrd.)

 

  • 4,2 Mrd. Franken für Prämienverbilligung oder Übernahme (Bund: 2,2 Mrd., Kantone: 1,8 Mrd., nicht zuteilbar: 0,2 Mrd.).

 

  • 2,4 Mrd. Franken für Sozialhilfe „klassisch“ (Bund: 0,7 Mio., Kantone: 0,93 Mrd., Gemeinden: 1,4 Mrd.).

 

  • 398 Mio. Franken für Alters- und Pflegebeihilfen (Kantone: 263 Mio., Gemeinden: 135 Mio.).

 

  • 374 Mio. Franken für Sozialhilfe im Asylbereich (Bund: alles).

 

  • 302 Mio. Franken für Ausbildungsbeihilfen (Bund: 25 Mio., Kantone: 277 Mio.).

 

  • 154 Mio. Franken für Sozialhilfe im Flüchtlingsbereich (Bund: alles)

 

  • 114 Mio. Franken für unentgeltliche Rechtspflege (Kantone: 114 Mio., Gemeinden: 26‘985 Franken). Bei einem Advokaten-Ansatz von 300 Franken/Std. ergibt dies über 380‘000 Rechtsberatungsstunden.

 

  • 109 Mio. Franken für Familienbeihilfen (Kantone: 63 Mio., Gemeinden: 19 Mio., nichtzuteilbar: 28 Mio.).

 

  • 96 Mio. Franken für Alimentenbevorschussung (Kantone: 28 Mio., Gemeinden 68 Mio.).

 

  • 67 Mio. Franken für Asyl-Nothilfe (Bund: 58 Mio., nicht zuteilbar: 9 Mio.)

 

  • 48 Mio. Franken für Wohnbeihilfen (Kantone: 48 Mio., Gemeinden 0,2 Mio.).

 

  • 39 Mio. Franken für Jugendhilfe (Kantone: alles).

 

  • 20 Mio. Franken Arbeitslosenhilfe (Kantone: 7,2 Mio., Gemeinden: 6 Mio. nicht zuteilbar: 6,4 Mio.).

 

  • 14 Mio. Franken für Zuschüsse Sozialversicherungsbeiträge AHV/IV/EO (Kantone: 10, 7 Mio., Gemeinden: 3,4 Mio.).

 

  • 3,5 Mio. für Opferhilfe (Kantone: 3,5 Mio., Gemeinden: 26‘241 Franken).

 

Zu diesen total 12,7 Mrd. kommen geschätzte 3,1 Mrd. Franken (finanzielle und materielle Beiträge), die nicht gewinnorientierte Organisationen im Bereich der sozialen Sicherheit – es sind landesweit über 15‘000 – beisteuern, wobei es teilweise Überschneidungen geben dürfte (bereits einberechnete Subventionen seitens des Bundes, der Kantone und Gemeinden). Summa summarum: Etwa 16 Milliarden Franken der Gesamtausgaben für das schweizerische System der sozialen Sicherheit in Höhe von 163 Milliarden Franken sind bedarfsabhängige Sozialleistungen. 

 

(aufgeschaltet im März 2015)


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Meilensteine IV

Die Meilensteine in der Geschichte der Invalidenversicherung (IV) seit 1925.

  • 1925: Verfassungsgrundlage für die AHV und die IV
  • 1959 Parlament verabschiedet IVGesetz
  • 1960: Inkraftsetzung des IVGesetzes
  • 1966: Einführung der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV
  • 1968: 1. IVRevision. Ausbau berufliche Eingliederungsmassnahmen und Sonderschulung für Kinder ;Hilfsmittel für Schwerinvalide; Verbesserung Hilflosen-Entschädigung
  • 1987/88: 2. IVRevision. 1. Juli 1987 erste Stufe: Einführung Taggelder für Jugendliche in Ausbildung; 1. Januar 1988 zweite Stufe: Einführung ¼Renten, Erhöhung Beiträge auf 1,2 Lohnprozente
  • 1992: 3. IVRevision. Schaffung von kantonalen IVStellen, Neuverteilung Aufgaben Bund/Kantone
  • 1995: Erhöhung Beitragssatz von 1.2 auf 1.4 Lohnprozente
  • 1998: 2.2 Mrd. Franken aus dem Fonds der Erwerbsersatzordnung (EO) zur IV 
  • 2003: 1.5 Mrd. Franken aus dem Fonds der EO zur IV
  • 2004: 4. IVRevision. Grundstein zur nachhaltigen Sanierung, Einführung regionale ärztliche Dienste (RAD), Anspruch auf Arbeitsvermittlung geschaffen, keine neuen Zusatzrenten mehr, Verdoppelung der Hilflosen-Entschädigung für Volljährige, Aufhebung der Härtefall-Rente
  • 2004: Volk und Stände lehnen 0,8 Prozent Mehrwertsteuer für Sanierung IV ab
  • 2007: Volk stimmt 5. IV Revision zu (59,1 Prozent Ja-Stimmen): Weiterführung der Sanierungsziele, Leitmotiv "Eingliederung vor Rente": Ausbau der Eingliederungsmassnahmen (Früherfassung, Frühintervention, Integrationsmassnahmen für Menschen mit psychischen Problemen) und gleichzeitig verstärkte Prüfung der verbleibenden Erwerbstätigkeit, bevor eine Rente zugesprochen wird; Anreize für Arbeitgeber, Behinderte zu beschäftigen
  • 2008: Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund   und Kantonen (NFA): Finanzierung der Sonderschulung geht von der IV an die Kantone über, ebenso die Bau und Betriebsbeiträge an Eingliederungsstätten, Wohnheime und Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Aufhebung der Kantonsbeiträge an die IV
  • 2009: Volk und Stände stimmen der IV-Zusatzfinanzierung durch eine befristete Mehrwertsteuer-Erhöhung von 0,4 Prozent vom 1.1.2011 bis 31.12.2017 zu; erwartet wird, dass damit der IV zur Sanierung ihrer Finanzen jährlich rund 1,3 Mrd. Franken zufliessen
  • 2010: IV schuldet AHV 14,9 Mrd. Franken
  • 2011: AHV/IV-Fonds wird in zwei eigenständige Fonds geteilt, IV-Fonds erhält von der AHV als Startkapital 5 Milliarden (nicht rückzahlbar), der Bund übernimmt bis Ende 2017 für die IV die Zinsen auf der 15-Milliarden-Schuld bei der AHV, die längstens bis 2030 sukzessive abgebaut werden soll
  • 2012: IVRevision 6a: Wiedereingliederung von Menschen aus der Rente in die Erwerbstätigkeit, Einführung des Assistenzbeitrags zur Förderung einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung von Menschen mit einer Behinderung, Einsparungen als massgeblicher Beitrag zur finanziellen Konsolidierung der IV, Weiterführung des Sanierungsziele

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