faktuell.ch im Gespräch mit Peter Gross, emeritierter Ordinarius für Soziologie an der Universität St. Gallen, Autor und Publizist.
Peter Gross
faktuell.ch: Herr Gross, Sie sind emeritierter Professor und werden 75 Jahre alt – leben Sie mit Ihrer grosszügigen Altersvorsorge auf Kosten der Jungen?
Peter Gross: Nein, vorläufig gar nicht. Ich zahle weiterhin AHV-Beiträge, ich zahle ebenfalls weiterhin Einkommens- und Vermögenssteuern. Mancher Junge würde staunen, wenn er meine Steuerrechnung sehen könnte.
faktuell.ch: Wie die Statistik der Eidg. Steuerverwaltung zeigt, zahlt ein Rentner in jeder Einkommenskategorie mehr Steuern als ein verheirateter Angestellter ohne Kinder…
Peter Gross: …ja und etwa die Hälfte der AHV fliesst schnurstracks wieder in die Volkwirtschaft zurück und kommt den Jungen und der Ausbildung zugut. Aber wenn ich sage, dass auch die 100-Jährigen noch Steuern zahlen, schauen mich die jungen Leute mit grossen Augen an. Sie haben natürlich ein ganz anderes Bild vom alternden, lang lebenden Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sollten sich aber klar werden, dass ein grosser Teil von dem, was ihre Kindergärten, Schulen und Studienplätze kosten, mitfinanziert wird von jenen, die sie angeblich als ‚Schmarotzer‘ unterstützen müssen.
faktuell.ch: Vielleicht hat diese Haltung auch damit zu tun, dass unser Erbrecht die Eltern finanziell praktisch entmündigt… her mit dem Erbvorbezug -…
Peter Gross: … gut, aber was heisst entmündigen?
faktuell.ch: Dürfen wir der Gegenfrage entnehmen, dass Sie es vorziehen, mit „warmen Händen“ zu geben?
Peter Gross: Ich halte es für richtig, Kindern Vorbezüge zu geben, am besten mit monatlichem Dauerauftrag an die Bank. Denn heute erben die Jungen nicht mehr von den Alten, sondern die Betagten von den Hochbetagten. Deshalb sollten Eltern ihren Kindern unbedingt etwas überlassen, bevor sie es nicht mehr brauchen, weil sie sonst beim Erben selbst schon 60 oder 70 sind.
faktuell.ch: Um die 10 Milliarden Franken ist die Gratisarbeit wert, die die Alten mit der Betreuung ihrer Enkel leisten.
Peter Gross: Das ist nichts Neues. Grosseltern haben den Eltern schon immer bis zu einem gewissen Grad die Sorge um die Enkel abgenommen. Früher hatte man neun Kinder und die Last der Betreuung verteilte sich auf alle Tanten und Töchter. Bei den heutigen Kleinfamilien wird dies durch den ‚Generationenbaum‘ kompensiert: Es springt nicht nur die Grossmutter ein, sondern allenfalls auch die Urgrossmutter. Die vertikale Hilfeleistung ersetzt bis zu einem gewissen Grad die horizontale, die man früher hatte. Gut so!
faktuell.ch: Sie sehen die Alten auch als Ruhestifter, als Retter des Weltfriedens, weil sie Errungenschaften bewahren und nachhaltig bewirtschaften?
Peter Gross: Ja. Die hohe Lebenserwartung ist eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste zivilisatorische Errungenschaft der letzten Jahrhunderte. Sie ist keine Gefahr, sondern eine „opportunity“, eine Möglichkeit, unsere Gesellschaft anders anzulegen. Im Maghreb und in arabischen Ländern findet heute eine demografische Inflation statt. Eine junge, aggressive und unruhige Bevölkerung muss im Zügel gehalten werden, weil sie keinen Platz findet in der Gesellschaft, keine Arbeit, keine Heirat. Sie kann zur Gefahr werden. Es staut sich ein Groll auf, der sich immer wieder entlädt, ein „Karneval der Underdogs“, wie der slowenische Philosoph Slavoj Zizek sagt. Unsere demografische Evolution wird über die zunehmende Alterung und Langlebigkeit zu einer gewissen Beruhigung dieser Situation führen. Wenn man in diesen Ländern die Menschen fragt, welche Bevölkerungsstruktur sie sich wünschen, dann sagen alle: so eine wie bei euch…
faktuell.ch: … und wie wollen Sie junge Männer, die, Testosteron getrieben, eine archaische Lust auf Kampf und Auseinandersetzung haben, auf ihre Seite bringen?
Peter Gross: Es braucht seine Zeit, bis sich eine aufgeklärte Familiensituation einstellt. Die Entwicklungshilfe muss man nicht mit Hilfsgütern aufstocken, sondern mit Leuten, die Schulen gründen, Bildung vermitteln und den Frauen sagen, dass es eine Möglichkeit gibt, zu entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht, dass es nichts Naturgegebenes und Automatisches ist…
faktuell.ch: Argumentieren Sie nicht aus einer rein westlichen, aufgeklärten und damit bequemen Position heraus?
Peter Gross: So ist es. Denn die westliche Perspektive von Freiheit ist vorderhand ein unschlagbares Programm! Unser Verständnis von Freiheit und Gleichheit ist vermutlich der letzte grosse westliche Export, den wir bieten können.
faktuell.ch: Zurück zu unserer alternden Gesellschaft. Befürworten Sie ein flexibles AHV-Alter?
Peter Gross: Als ersten Schritt ja. Aber es gilt, weiterzugehen bis zu einer vollständigen Öffnung der Lebensarbeitszeit nach oben. Diese Option wird in der Schweiz einfach nicht diskutiert. In neuen empirischen Untersuchungen, bei denen Rentner ein Jahr nach ihrer Pensionierung gefragt werden, ob sie noch arbeiten möchten, antworten über 50 Prozent mit Ja! Weshalb riskiert man aufgrund solcher Daten nicht einfach, die Zwangspensionierung aufzuheben? Klar, es würde riesige administrative Umstellungen bedeuten, weil gewissermassen individualisierte Konten geführt werden müssten. Aber im Prinzip ist es unsinnig, in einem freiheitlichen Land festzulegen, ab wann die Leute nicht mehr arbeiten dürfen.
faktuell.ch: Heikel dürfte sein, die Grenze zwischen Arbeitswille und Arbeitsfähigkeit zu ziehen.
Peter Gross: Die entscheidende Voraussetzung ist nicht, dass jemand weiter arbeiten will, sondern dass er weiter arbeiten kann. Die Assessment-Abteilungen in den künftigen Betrieben werden nicht mehr allein darauf achten müssen, wie man Leute einstellt und entlässt, sondern wie und wo man sie weiter beschäftigt. Sie müssen die Frage klären, was die Leute können und was sie können müssen. Wenn beides übereinstimmt, dann ist eine Weiterbeschäftigung am Platz, der Wille allein genügt nicht.
faktuell.ch: Wie verändert sich dadurch das soziale Gefüge?
Peter Gross: Denken wir daran, dass auch die Kundschaft immer älter wird. Verwaltungen, Banken, Versicherungen und andere Institutionen müssen mit ihren Kunden auf Augenhöhe kommunizieren können. Das bedingt ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn eine Institution sich rühmt, die Personalstruktur verbessert zu haben, dann heisst dies in der Regel: Verjüngung des Personals. Dabei müsste die Verbesserung der Personalstruktur vielmehr Anpassung an die Kundschaft bedeuten. Nehmen wir die Sozialversicherungsanstalt SVA in St. Gallen. Ihr Personal hat jetzt ein Durchschnittsalter von weniger als 40 Jahren. Die Kundschaft der SVA, die telefoniert und Auskunft will, ist über 70. Hier stimmt die Augenhöhe überhaupt nicht.
faktuell.ch: Oft sind es Besitzansprüche und steigende Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge, die der Beschäftigung von Arbeitnehmern über 50 im Wege stehen. Was wäre zu tun, um diesen Stolperstein aus dem Weg zu räumen?
Peter Gross: Da könnten wir dem japanischen Beispiel folgen: „Bananenkurve“ des Lohns. Der Lohn steigt bis ungefähr 50, dann geht es mit neuen Titeln, Auszeichnungen und Beförderungen weiter, aber der Lohn bleibt gleich oder verringert sich. Die empirische Grundlage für ein solches Denken ist, dass die meisten Leute ab 50, 55 nicht mehr so viel Geld brauchen wie in jüngeren Jahren.
faktuell.ch: Wer im Arbeitsmarkt steht, gehört gesellschaftlich dazu – ja, wir definieren uns über die Arbeit. Oft ist Überforderung im Spiel, Stress, die Leute sind ausgebrannt, gerade auch in Kaderpositionen, wo Macht und Einfluss locken. Der Ausweg heisst nicht selten Frühpensionierung. Macht sich die HSG als Kaderschmiede, als Fabrik für Ehrgeizige, mitschuldig am gesundheitlichen Niedergang solcher Existenzen?
Peter Gross: Ich sehe das Problem. Gerade angehende Finanzwissenschaftler, die als Banker „Kohle“ machen wollen, sind in einer sehr unsicheren Situation. Bei Banken gibt es gewaltige Entlassungsschübe. Von daher ist ein „Training“ des Burn-Out durchaus am Platz. Man muss den Studierenden klar machen – auch an der HSG –,dass ein Grossteil von ihnen früher oder später mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Sie sollten tunlichst nicht die Nase rümpfen über Einrichtungen wie die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen. Die sind in einer solchen Situation ganz wichtig.
faktuell.ch: Wie viel zählt der Faktor Erfahrung im digitalen Zeitalter noch?
Peter Gross: Der Grossteil des Lebens spielt sich nicht am Computer ab, sondern nach wie vor in der Familie, mit Freunden und Nachbarn. Und die Erfahrung spielt dabei eine gewaltige Rolle. Wenn uns gefällt, wie sich jemand gibt und mit Menschen umgeht, dann tun wir das auch.
faktuell.ch: Trump, Clinton, Sanders - in den USA sind Rentner in der Politik, aber auch in der Wirtschaft wie eh und je „am Drücker“. In Westeuropa zeigt sich eine gegenläufige Entwicklung – Cameron, Renzi etc. Und bei uns wird ein 55-jähriger Parlamentarier nach zwei Legislaturperioden bereits genervt aufgefordert, jüngeren Kollegen Platz zu machen. Und ein 36-jähriger HSG-Absolvent ohne jegliche Erfahrung kandidiert als Bundesrat. Wie ordnen Sie diesen Kulturunterschied ein?
Peter Gross: Jugendwahn! Ich finde, dass der Druck auf ältere Politiker, nicht mehr zu kandidieren, aufhören sollte. Es stimmt nicht, dass Alte alte Politiker wählen. Es ist vermutlich sogar so, dass die älteren Leute eine grössere Empathie für die jungen Parlamentarier haben als die Jungen selber. Zudem ist es in einer repräsentativen Demokratie, auch in einer altersaffinen Arbeitswelt, wichtig, dass auf allen Stufen die Repräsentation und die Mitarbeit da sind. Es ist völlig daneben, dass im Nationalrat nur noch ein Parlamentarier über 70-jährig ist. Die 70-80-Jährigen machen immerhin gegen 10 Prozent der Bevölkerung aus. Sie haben Anspruch auf ihre Interessenvertreter, die ruhig um die 75 sein dürfen.
faktuell.ch: Heute leben in einer Familie oft vier Generationen gleichzeitig. Sie sind der Meinung, dass dadurch das kollektive Gedächtnis gestärkt und eine Art Erinnerungskultur geschaffen wird. Wenn man aber sieht, dass die jungen Historiker bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs lieber in Akten gewühlt haben, als sich mit Zeitzeugen zu unterhalten, fragt sich, ob Erinnerungen tatsächlich noch gefragt sind?
Peter Gross: Wichtig finde ich, dass wir eine neue Reflexionskultur haben. Ein und dasselbe Ereignis – nehmen wir zum Beispiel die Übergriffe in Köln und anderswo an Sylvester -, wird heute von verschiedenen Generationen und Kulturen diskutiert. Das war früher nicht möglich. Da gab es eine dominante Meinung und der schlossen sich alle an. Das erhöhte Reflexionspotenzial in der heutigen Gesellschaft ist positiv.
faktuell.ch: 25 Jahre Kindheit und Ausbildung, 40 bis 50 Jahre produktive Lebenszeit. Was sollen wir mit den letzten 20 Jahren noch Sinnvolles anfangen, ausser über unsere Gebresten zu jammern?
Peter Gross: Wer den Sinn nicht mehr sieht, tut sich natürlich sehr schwer und wartet nur noch auf dem „Friedhofbänkli“. Aber über Gebresten jammern ist für ältere Leute wie ein Gesellschaftsspiel. Das macht vielen ziemlich Vergnügen. Sie bieten ungeheuer viel Redestoff. Aber Spass beiseite: Wir sollten nicht nur materielle Güter produzieren, um Geld im Alter zu haben, sondern auch immaterielle, damit wir im Alter einen Sinn finden. Und wer diesen Sinn findet, der wird mit dem Alter auch gut fertig.
faktuell.ch: Die letzten Lebensjahre sind meist die teuersten. Sollten wir dem deutschen Beispiel folgen und eine obligatorische Pflegeversicherung einführen, um die Finanzierung der Alterspflege zu sichern?
Peter Gross: Wir sollten es zumindest diskutieren. Wir müssen endlich die Vorstellung entzaubern, dass es unbedingt erstrebenswert ist, in den eigenen vier Wänden alt und krank zu werden. Zuhause sterben mit dem Katafalk in der Stube, mit der Spitex, mit den Ärzten, die hin und her rauschen, mit Verwandtschaft und Kindern die da sind … Ich kann nicht verstehen, weshalb die Leute nur das wollen. Die Palliativstation ist eine segensreiche Einrichtung. Sie muss überall wo es geht ausgebaut werden. Das eigene Heim ist nicht der Himmel zum Sterben. Deshalb scheint mir die Diskussion über eine Pflegeversicherung sehr wichtig.
faktuell.ch: Was soll einer solchen Diskussion im Wege stehen? Am Interesse der Versicherungen an einem zusätzlichen Obligatorium dürfte es kaum fehlen.
Peter Gross: Instruktiv wäre es, wenn man philosophisch über die Chancen der Langlebigkeit diskutieren würde. Langlebigkeit als Hoffnung des 21.sten Jahrhunderts. Die ganzen Fragen von Klima und Nachhaltigkeit nicht über Programme einfordern, sondern über das Nachwachsen einer Bevölkerung, die weniger zahlreich und älter wird. Die Akteure tun dies, ohne einem Programm zu folgen, indem sie einfach älter werden. Wenn ich das an meinem Beispiel zeigen kann: Ich lebe jetzt substanzieller als ich mit 40 oder 50 gelebt habe. Damals wurde alles getan, um das Nachdenken zu verhindern. Jetzt lebe ich anders. Mehr Ruhe, mehr Besinnung, keine Konsumhektik.
faktuell.ch: Und worin besteht nun wirklich der Sinn des langen Lebens, Herr Prof. Gross?
Peter Gross: Es gibt die – wie ich finde: blöde - Aussage von Brecht in der „Dreigroschenoper“: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Dem entgegne ich: Erst kommt der Sinn, dann kommt das Fressen. Denn ohne Sinn macht auch das Fressen keinen Sinn. Und: Alter beruhigt, birgt Entschleunigung und macht das Leben zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ganz. Anders gesagt: Alter mässigt eine heiss laufende Gesellschaft, die sich selber in jugendlichem Überschwang überfordert und ihre eigenen Lebensgrundlagen verzehrt.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
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