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Asyl: Wie gross ist der Alphabetisierungsbedarf wirklich?

Das Tor zur sozialen und beruflichen Integration anerkannter Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommener (VA) führt über die Sprache – trotzdem gibt es in der Schweiz keine Zahlen zu ihren Sprachkenntnissen bei der Aufnahme in der Schweiz. Was fehlt ist ein Einstufungsverfahren, das nicht nur über den Stand der sprachlichen Kenntnisse Auskunft gibt, sondern auch Informationen zu den Bildungsvoraussetzungen ermöglicht.

 

Gefragt sind bedarfsgerechte Sprachförderungsprogramme

Alle am Asylprozess beteiligten scheinen zu wissen, was in die Schweiz geflüchtete Eritreer, Afghanen, Somalier, Syrer etc. zwingend brauchen, um nicht dauerhaft von der Sozialhilfe abhängig zu bleiben: Sprachniveau A2 (schriftlich) und B1 (mündlich) gemäss dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER), der sechs Stufen unterscheidet – von A1 (Anfänger) bis C2 (Experte). Die Sozialhilfekonferenz fügt diesem Anspruch für den Beginn einer gedeihlichen Asyl-Zukunft noch das Wort «mindestens» bei

 

 

Doch weder das Staatssekretariat für Migration (SEM) noch das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) wissen, auf welchem sprachlichen Niveau die anerkannten Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommenen (VA) in der Schweiz in die Sprachförderungsprogramme einsteigen können. Wie gross beispielsweise ihr Alphabetisierungsbedarf ist, erfasst keine der zahllosen Statistiken im Land.

 

 

Dass keinerlei statistische Unterlagen zur Verfügung stehen, erstaunt umso mehr, als sowohl das neue Ausländergesetz wie auch die Verordnung über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern der Sprachförderung und dem beruflichen Fortkommen einen zentralen Stellenwert geben. Deshalb wird von fremdsprachigen Ausländerinnen und Ausländern erwartet, dass «sie sich in der am Wohnort gesprochenen Landessprache verständigen können oder durch ihre Anmeldung zu einem Sprachförderungsangebot ihren Willen bekunden, diese Landessprache zu erlernen».

 

 

55 bis 60 % der Asylsuchenden seit 2014 sind jünger als 25 Jahre alt. Ihnen gilt heute das Hauptinteresse. Die Erfahrung lehrt: Je jünger eine Person ist, desto besser die Arbeitsmarktintegration. Bei den unter 35-Jährigen findet rund jede zweite Person eine Stelle in den ersten zehn Jahren. Bei den über 35-Jährigen sind es deutlich weniger.

 

Nach wie vor strittig ist der «Königsweg»: Die einen sprechen sich für eine möglichst rasche Erwerbstätigkeit aus, die andern setzen der Schwerpunkt in der Bildung. Für beides gilt: An der Sprache und damit an der Sprachförderung führt kein Weg vorbei.

 

 

Mangels exakter Daten hat die Konferenz der Kantonsregierungen am Beispiel der Jahre 2014 und 2015 von allen 26 Kantonen schätzen lassen, wie es um den Sprachförderbedarf der FL/VA im Asylprozess steht. Ergebnis: Knapp die Hälfte wird den beiden Gruppen «Analphabeten, Zweitschriftlernende» und «Schulungewohnte» zugeteilt. Der Unterstützungsbedarf in diesen beiden Gruppen ist in jüngster Zeit noch grösser geworden, so dass das Angebot vielerorts ausgebaut werden musste.

 

 

Weil nicht überall Alphakurse zur Verfügung stehen, landen immer wieder Menschen mit Alphabetisierungsbedarf in heterogen zusammengesetzten Kursen (Kinder, Akademiker, Analphabeten, Zweitschriftlernende), deren Niveau für Teilnehmende zu tief angesetzt ist. Die Studie der Konferenz der Kantonsregierungen stellt fest, dass der tatsächliche Bedarf an niederschwelligen Einstiegskursen erheblich grösser sein dürfte als das derzeitige Angebot. Grund: Viele Frauen bleiben den Sprachförderprogrammen fern – sei es, weil sie aus Gesellschaften mit traditionellem Rollenverhalten stammen oder weil ein Angebot für Kinderbetreuung fehlt.

 

 

Unzweifelhaft ist: Die individuelle Zuweisung zu einem bedarfsgerechten Sprachkurs sollte in jedem Fall im Rahmen eines Einstufungsverfahrens geklärt werden, das nicht nur eine Einschätzung zum Sprachstand erlaubt, sondern auch Informationen zu Bildungshintergrund resp. den Bildungsvoraussetzungen ermöglicht. Dies ist gemeinsame Aufgabe von SEM und SECO, solange der Bund die Verantwortung von FL und VA hat, also in den ersten fünf (FL) bis sieben (VA) Jahren.

 

 

Und ebenso unzweifelhaft bleibt: «Ohne B wie Ausweis B für Aufenthaltsbewilligung keine Arbeit (= keine Berufserfahrung, keine ausreichenden Sprachkenntnisse), ohne Arbeit (= Berufserfahrung, ausreichende Sprachkenntnisse) kein B.»

 

Fazit: Irgendwann – Gemeinden und Kantone hoffen möglichst rasch – wird sich zeigen müssen, ob die Behauptung einer vom SEM bemühten Experten-Gruppe stimmt oder nicht, wonach 70 Prozent der im Asylbereich zugewanderten Personen das Potenzial für einen Bildungsabschluss Sekundarstufe II haben – es ist auch die Nagelprobe für die Konferenz der Erziehungsdirektoren, die ohne Bildungszwang zum Ziel erklärt haben: 95 % aller 25-Jährigen verfügen über einen Abschluss auf Sekundarstufe II (Lehrabschluss mit Eidgenössischem Fähigkeitsausweis) – auch für die Zielgruppe der spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

 


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