Rückblende
faktuell.ch im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Dr. Ludwig Hasler
Ludwig Hasler
faktuell.ch: Erdogan, Orban, Putin, wohl auch Trump: Autokraten sind, wie es scheint, nicht zu stoppen. Gleichzeitig haben Bewegungen, die die traditionellen Parteien in Frage stellen, grossen Zulauf. Was wiegt schwerer: die Migrationsprobleme oder das Problem mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten?
Ludwig Hasler: Ich glaube das Hauptproblem ist, dass der Fortschritt stockt. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass es immer weiter und aufwärts geht, eine positive Dynamik herrscht. Das ist ein Projekt der Moderne. Es gibt immer mehr Freiheit, Bequemlichkeit, Glück, Besitz usw. Der Glaube ist vielleicht nicht verschwunden, aber eher vakant momentan. Wir sind heute überfordert von den grossen Aufklärungsidealen der Moderne: Freiheit, Vernunft, Toleranz, Weltoffenheit. Das hat prächtig funktioniert, solange man davon profitierte, aufstieg, mehr Freiheitsspielraum hatte. Und jetzt ist man skeptisch, glaubt nicht mehr so recht dran und sieht nicht mehr, was man davon hat. Dabei spielt vieles eine Rolle, auch die Migration. Jetzt kommen plötzlich Fremde, die einfach Teil haben, sich bedienen wollen. Für eine bestimmte Schicht ist dies kein grosses Problem…
faktuell.ch: … aber für den Teil der Bevölkerung schon, der nicht im Überfluss lebt…
Ludwig Hasler: …und der entwickelt das Gefühl, er sei betrogen um das, was man ihm versprochen hatte. Deshalb bildet sich eine Disharmonie zwischen so genannter Elite und dem Fussvolk. Die Elite spricht nach wie vor die Aufklärungssprache. Gegen Toleranz und Vernunft an sich hat niemand etwas. Aber wenn man befürchtet, von diesen Idealen nicht mehr profitieren zu können, sondern eher eins aufs Dach bekommt, eingeschränkt, eingeengt wird, dann verlieren die Ideale ihre Strahlkraft. Dann wird auf jene geprügelt, die diese Ideale jeden Morgen verkünden. Politik und Wirtschaft sind nicht die ursprünglichen Treiber dieser Entwicklung, sondern sie sind darin verhängt.
faktuell.ch: Sie waren lange Jahre Journalist in einer Zeit, da das Wort von Journalisten, kurz: ihre veröffentliche Meinung, etwas zählte. Hat die «Vierte Gewalt» ausgedient bzw. braucht es gar keine «Vierte Gewalt» mehr in einer Welt der «Bewegungen», die der politischen «Ochsentour» keinen Respekt mehr zollt?
Ludwig Hasler: Ich glaube nicht, dass sich die Funktion der Medien verändert hat. Aber wir haben auch historisch ein schiefes Bild, wenn wir meinen, in früheren Zeiten hätten hundert Prozent der Bevölkerung es nicht erwarten können, am Morgen die Zeitung zu lesen. Die Artikel waren damals kompliziert verfasst, vollkommen humorlos, eine Art Predigt-Fortsetzung oder -Ersatz. Seither haben sich die Medien nur vervielfältigt durch technologische und ökonomische Entwicklungen. Dass dies gleichzeitig der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht, ist ja klar. Es gibt nicht mehr «das Volk», sondern ein segmentiertes Volk mit ganz unterschiedlichen Interessen. Politik – das sehen wir sogar in der Schweiz und jetzt vor allem in Frankreich – erneuert sich ausserhalb der traditionellen Parteien. Ich halte dies weitgehend für einen normalen Vorgang. Es gibt keine Organisation, die sich über lange Fristen dauernd aus sich heraus erneuert
faktuell.ch: Früher oder später gehen aus Bewegungen auch immer wieder politische Organisationen hervor, die nach dem Muster traditioneller Parteien strukturiert sind.
Ludwig Hasler: Politik hat sich insgesamt enorm ausgedehnt. Sie sorgt flächendeckend für die Menschen oder gibt dies zumindest vor und verspricht es. Politik im neuzeitlichen Verständnis ist Sicherheitspolitik. Der traditionelle Staat ist ein Sicherheitsstaat, er schützt die Bürger voreinander und vor Eindringlingen. Heute geht der Staat weiter und schützt mich vor mir selber, vor meinen internen Gefährdungen, vor meinen Süchten und vielleicht sogar vor meinen Sehnsüchten, jedenfalls vor sonntäglichen Konsumorgien an Tankstellen. Das ist jetzt staatliche Fürsorge. Und wenn die Fürsorge geritzt wird – zum Beispiel durch etwas gar viele Eritreer im Land – dann kommt ein Zweifel an den politisch Verantwortlichen auf bis hin zu einer Gegnerschaft, weil die Politik vermeintlich nur so tut, als würde sie für uns sorgen und uns schützen, in Wirklichkeit aber die Grenzen aufmacht und Fremde unter dem Stichwort «Asylrecht» an unsere Töpfe lässt. Ich glaube, dass dies ein Kernpunkt ist im momentanen Unbehagen.
faktuell.ch: Wie gross ist der Toleranz-Spielraum der Gastgeber-Länder, bevor sie Gefahr laufen, nicht nur ihre bisherigen Privilegien, sondern auch ihr Selbstbestimmungsrecht bis zur Unkenntlichkeit dem Anspruch des sogenannten «Gutmenschentums» zu opfern?
Ludwig Hasler: Ich hätte erwartet, dass man stringenter über Asyl, Asylrecht und Asylsuchende diskutiert. Eritrea ist nur ein Beispiel, aber ein aufschlussreiches. Man kann natürlich sagen, viele Leute in Eritrea seien «nicht sicher» oder hätten dort «keine Perspektive». Und jetzt? Eine Perspektive hat man nicht einfach so, für eine Perspektive muss man etwas tun. Es entsteht der Eindruck: Manche Eritreer laufen einfach davon. Okay. Wer kann weglaufen? Sicher nicht die Schwächsten. Sicher nicht die Ärmsten. Was bedeutet: Die Perspektivlosigkeit im Land Eritrea wird grenzenlos. Mit unserer Hilfe. Auf unsere Kosten? Die Skepsis ist völlig rational. Auch der emotionale Reflex ist verständlich: Dass wir in der Schweiz Perspektiven haben, ist nicht Schicksal, unsere Vorfahren haben es geschafft, von der Armut wegzukommen, gegen allerlei Widerwärtigkeiten. Ist eine Erfolgsstory, mit verdammt viel Schweiss und Erfindungsgeist. Es ist unser Erfolg. Und selbst wenn wir ihn mit den jungen Eritreern teilen möchten: Die meisten von ihnen kriegen doch auch hier nicht wirklich eine Perspektive.
faktuell.ch: Also macht man ihnen falsche Hoffnungen?
Ludwig Hasler: Ja, schon. Und das ist ihnen gegenüber auch nicht fair. Hinzu kommt der Sicherheitsaspekt. Wenn man das Asylrecht derart ausdehnt und aufnehmen will wer «nicht sicher» ist, dann hätte momentan ein Drittel der Türken Recht auf Asyl bei uns und überlegen sie, wie viele das aus China und Russland sind. Ich halte dieses Kriterium für untauglich. Denn «nicht sicher» heisst noch lange nicht «verfolgt». Selbst bei «Verfolgten» müssten wir als kleines Ländli realistischer werden. Eritreer sind daheim nicht sicher? Was heisst «sicher»? Wir sind jetzt halt mal auf diesem Planeten. Das heisst, wir leben unter irdischen Bedingungen. Und irdische Bedingungen sind immer durchzogen. Die sind im Prinzip nie «sicher». Ich fürchte, mit diesem «Sicherheitsargument» wird unser Asylrecht ausgehöhlt. Momentan profitieren Eritreer davon. Andere werden die Leidtragenden sein. Nicht wirklich fair.
faktuell.ch: Helfen Sie Flüchtlingsministerin Sommaruga. Was tun?
Ludwig Hasler: Ich habe den Eindruck, dass in der Schweiz eine Mehrheit grundsätzlich dafür ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist aber eine Frage des Vorgehens. Der vormalige australische Premierminister Tony Abbott sagte, als die ersten Flüchtlingsschiffe seine Küste ansteuerten: «Stoppt mir diese verdammten Schiffe.» Man kann das für brutal halten, für mich ist es ein plausibler Reflex. Die Schiffe stoppen genügt natürlich nicht, sondern es müssen Flüchtlingslager organisiert werden. Die Australier – und auch die Kanadier – sagten dann okay, wir nehmen 10’000 auf. Aber die holen wir im Lager ab und bringen sie mit dem Flugzeug zu uns. Das ist eine Lösung. Denn was im Mittelmeer passiert, ist einfach schrecklich. Ich kenne die Situation natürlich nicht im Detail. Man schützt sich ja auch gerne vor solcher Detailwahrnehmung. Aber es ist zumindest umstritten, dass die Rettung wirklich zugunsten der Flüchtenden ist. 2016 gab es 6000 Tote im Mittelmeer. Wer kann denn so etwas verantworten?
faktuell.ch: An der Migration beteiligen sich «nur» drei Prozent der Weltbevölkerung. Doch in konkreten Zahlen bedeutet dies, dass rund 220 Millionen Menschen ausserhalb ihres Geburtslandes leben. Und nochmals 700 Millionen würden gemäss einer Gallup-Untersuchung emigrieren, wenn sie könnten. 700 Millionen sind das «Migrationspotenzial». Wird uns die Frage – wer ist Flüchtling, wer ist Migrant – nicht mehr loslassen?
Ludwig Hasler: Kaum. Umso wichtiger sind prinzipielle Überlegungen. Bei derart massenhaften Bewegungen müssen wir unsere Asyl-Philosophie überdenken. Traditionell nahmen wir entweder ideologisch verfolgte Einzelne auf. Oder verfolgte Gruppen wie die Hugenotten, die aber kulturell mit uns verbunden waren. Oder politische Flüchtlinge aus aktuellem Anlass, siehe Ungarnaufstand, siehe Balkankrieg. Nun haben wir eine völlig neue Situation: globale Migration. Quantitativ sind wir eh überfordert. Also brauchen wir neue Kriterien. Als Motto stelle ich mir vor: Migration gelingt nur, wo beide etwas davon haben, Migranten und Einheimische. Ohne ausgeglichenes Geben und Nehmen scheitert mit der Zeit jede noch so gut gemeinte Affäre. Und zwar für beide: Bleibt der Fremde Fremdling in der Gesellschaft, ist seine Migration gescheitert. Fühlt sich der Gastgeber auf Dauer nur ausgenutzt, wird er sich gegen Migration auch dann sperren, wenn sie plausibel ist. Also müssen wir radikal unterscheiden zwischen Migrant und Flüchtling.
Für Migranten ist Integration das A und O. Flüchtlinge aus Syrien nehmen wir ohne diese Bedingung auf, klar. Aber zeitlich begrenzt. Aus einem syrischen Flüchtling kann ein bestens integrierter Migrant werden. Das ist in unserem Sinn. Wir brauchen Leute. Kluge Leute. Leute mit Biss. Leute mit Hunger. Wir regenerieren uns zu schwach…
faktuell.ch: …auf der Strasse gewinnt man seit ein paar Jahren nicht diesen Eindruck…
Ludwig Hasler: … ich spreche von den eigenen Genen. Wenn wir uns nur aus diesen reproduzieren würden, müssten wir uns etwas mehr Mühe geben. Eine Frau müsste 2,2 Kinder gebären. Davon sind wir weit entfernt. Also Integration – fragt sich nur: wo hinein? Wie steht es mit unserer Identität? Wir sind zwar ziemlich scharf auf Schwingfeste und auf 1.August- Feiern. Wir führen uns gern als Superpatrioten auf, gehen dann allerdings nach Konstanz einkaufen und decken uns beim chinesischen Online-Händler ein. Es ist ziemlich schizophren, was wir tun. In der Selbstdarstellung geben wir uns als Bergler und trommeln zum nationalen Lagerfeuer, weil es draussen angeblich kalt und zügig ist. Wir sind aber permanent unterwegs in alle Winkel dieser Erde. Das finde ich ziemlich schief.
faktuell.ch: Haben wir noch eine eigene Kultur?
Ludwig Hasler: Das ist für mich eine wichtige Frage, weil eine Gesellschaft wie unsere vom Glauben an den Fortschritt lebt. Immer mehr und besser muss es werden. Generell braucht der Mensch entweder ein Gott oder eine Zukunft. Der Mensch – anders als alle anderen Lebewesen, die kompakt, dicht, problemlos sind und sich nicht jeden Morgen neu orientieren müssen – ist ein zwiespältiges Wesen. Das ist seine Grösse und auch seine Hinfälligkeit. In diesem Hin und Her zwischen Geist und Animalischem muss er sich dauernd justieren, sich zurechtfinden. Geist und Trieb in uns sind ewig im Widerstreit. Deshalb haben wir ja dauernd Probleme mit uns selbst. Diese Probleme lösen, heisst irgendwo einen Halt haben. Das war lange das Göttliche, das Auge Gottes, das alles sieht. Heute ist es das Google-Auge, das sieht auch alles. Das Schöne beim Auge Gottes war, dass es für sich behielt, was es sah. Bei Google ist dies nicht mehr der Fall. Ein Mensch kann nicht in der Gegenwart verharren, er muss etwas vorhaben, er braucht eine Zukunft. Dasselbe gilt für die ganze Gesellschaft. Wir haben heute Mühe, den Rank zu finden, weil die Zukunft in der Rückschau immer leuchtend war, voller Versprechungen, Abhebungen, eine wahre Hymne an die Veränderungen.
faktuell.ch: Und jetzt: Um Gottes Willen, bloss keine Veränderungen?
Ludwig Hasler: Wenn man dort angelangt ist, wo wir als Schweiz sind, wenn es einem so gut geht, ja dann will man alles, bloss keine Veränderung. Genauer gesagt, man will eigentlich gar keine Zukunft. Man will eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Genauer noch: eine Fristerstreckung für eine problembereinigte Gegenwart. Ein paar Probleme werden noch ausgebügelt, wie 70 Franken mehr für die AHV-Neurentner, ein paar zusätzliche Velostreifen. Das riecht nun wirklich nicht nach Zukunft. Das ist eine ausgebügelte Gegenwart. Wenn man so in der Gegenwart sitzenbleibt und die Probleme trotz der Heidenmühe, die wir uns geben, nicht aufhören, dann werden wir miesepetrig. Jetzt kommen auch noch diese Migranten, trampen uns auf die Füsse und hocken auf der Sozialkasse. Man erträgt dann einfach nichts mehr. Wir haben gedacht, wir seien auf dem Berg angekommen. Es ist nicht schlau, so etwas anzunehmen. Menschen kommen nie auf dem Berg an, sie sind immer «am» Berg. Wie Sisyphus. Das ist das menschliche Pensum. Kraxeln, Varianten suchen, runterfallen, ausruhen, dann wieder hoch am Berg. Was uns heute fehlt, ist eine Art Vista. Wir müssen etwas im Blick haben, das zu erreichen sich lohnt. Vielleicht ein Silicon Valley Europas. Das wäre gar nicht so dumm.
faktuell.ch: Die Frage ist, ob es bei uns funktioniert?
Ludwig Hasler: Unsere Kultur war durch und durch christlich. Das zeigt sich noch im Jahresrhythmus mit Auffahrt, Pfingsten, Ostern. Das strukturiert heute noch, das Jahr strukturiert das Leben, es gibt ihm Feierlichkeit, ohne diese Festtage hätten wir flache Autobahn durchs Jahr. Auch Musik und Dichtung sind christlich geprägt, bis hin zu politischen Idealen wie Gerechtigkeit und Menschenrecht. Aber was tun wir nun schon seit geraumer Zeit? Wir entrümpeln. Das Christentum kommt im öffentlichen Gespräch nur noch vor, wenn wieder mal ein pädophiler Pfarrer am Werk ist. Sonst kann man es offenbar «kübeln». Ich glaube nicht, dass wir da was Gescheites machen. Soweit ich sehe, ist kein Ersatz vorhanden.
faktuell.ch: Dem Islam das Feld überlassen?
Ludwig Hasler: Jaaa … Das will doch eher keiner, oder? Das Christentum hat immerhin die Aufklärung mitgemacht, die Religionskritik integriert. Der Islam – schon nur mit seinem Frauenbild – wäre ein Rückschritt. Der Mensch braucht – wie gesagt – entweder Gott oder Zukunft. Gott hält man in unserer Gesellschaft weitgehend für überflüssig. Wir sollen laut Umfragen zwar mehrheitlich religiös sein. Aber natürlich nur gefühlsmässig. Barfuss über eine nasse Wiese laufen oder so etwas. Hauptsache Empfindung. Das ersetzt aber nicht die Religion als höheres Koordinatensystem, das sie immer war. Diese Vakanz hat Folgen bis in die Sozialpolitik. Die so genannte Resilienz, die seelische Widerstandkraft, sinkt dramatisch ab. Die brauchen wir immer, wen etwas schiefläuft, bei Enttäuschungen, Versagen, Entsagen, Scheitern, Frustrationen.
faktuell.ch: Wir Schweizer gehören weltweit zu den glücklichsten Menschen. Auf 1000 Bewohner haben wir allerdings auch die grösste Psychiater-Dichte. Hohes Glücksgefühl und tiefe Resilienz: Woher kommt der Widerspruch?
Ludwig Hasler: In den letzten Jahrhunderten war für die Resilienz immer auch Religion zuständig. Wir waren in eine höhere Geschichte eingebettet. Welttheater. In diesem Theater spielten alle eine Rolle, eine kleine, grosse, völlig egal, Hauptsache eine Rolle. Das gibt einen Sinn. Der Sinn kommt nicht aus mir, der Sinn kommt aus der Teilnahme an etwas, das grösser ist als ich. Diese Teilnahme hat auch das Negative aufgehoben, das es in jeder menschlichen Existenz gibt. Hiob hatte eine Adresse für seine Debakel. Er konnte klagen. Ja, bei wem will ich heute klagen? Ich habe keine Adresse mehr und bin mit Entsagen und Versagen allein und zerbreche daran. Das stellt die Psychiatrie immer deutlicher fest. Heute sind wir körperlich gesünder denn je, clean sind wir, haben weniger Süchte, weniger Drogen, weniger Rauchen, weniger Saufen, nur mit Kiffen bleibt’s beim Alten. Je braver wir uns verhalten, desto mehr steigt die Gefahr der Depressionen.
faktuell.ch: Warum?
Ludwig Hasler: Wenn ich allein mit mir bin, nicht eingebettet in eine grosse Geschichte, in ein kosmologisches Drama, bin ich sozusagen verwaist. Alleinsein mag gehen, solange alles toll läuft. Sobald mich aber etwas piesackt, sinkt die Resilienz dramatisch. Resilienz hat unmittelbar etwas mit Kultur zu tun. Die Kultur, die einen höheren Sinn hat, ist nicht mehr da. Wenn wir schon keine eigene Kultur mehr haben, keine Christen mehr sind und keine mehr sein wollen, dann machen wir eine Vermischung, kulturelle Biodiversität. Seitdem die Aussicht auf ewige Himmelsfreude nicht mehr so klar ist, wollen wir ja sozusagen alles in der irdischen Lebensfrist ausschöpfen. Wenn es schon kein Leben danach gibt, dann zumindest zu Lebzeiten gleich zwei bis drei führen. Ich glaube, mit der Multikultur verhält es sich ähnlich. Auf die Idee kommt man erst, wenn man der eigenen Kultur misstraut, wenn sie ihre Stärke verliert.
faktuell.ch: Nicht nur der kulturelle, sondern auch der technische Wandel mischt unsere Gesellschaft auf. Wie beeinflusst die Digitalisierung unseren Sozialstaat?
Ludwig Hasler: Wir sind von der Moderne überfordert. Es kommt zu Irritationen. Die Ideale überfordern uns. Der Fortschrittsglaube serbelt. Und jetzt heisst es: Alles wird ganz anders – und das ohne den Menschen. Na bravo. Digitalisierung heisst, dass die Maschine erwachsen und selbständig wird. Da denken Normalmenschen, o Gott, o Gott, wo bleiben wir? Gemäss Oxford-Studie übernehmen Maschinen 47 % aller herkömmlichen Tätigkeiten…
faktuell.ch: … und Facebook will das menschliche Gehirn direkt mit dem Computer vernetzen…
Ludwig Hasler: …und das macht jetzt nicht alle froh, weckt in vielen Ängste, übrigens zum Teil die völlig falschen. Es ist nämlich nicht so, dass vor allem die minder Gebildeten überflüssig werden. Es wird auch in 50 Jahren noch eine Coiffeuse brauchen…
faktuell.ch: … aber den Steuerverwalter nicht mehr…
Ludwig Hasler: … ja und ganz angesehene Berufe werden verschwinden. Wenn ein Arzt nichts anderes macht als Allgemeinstudienwissen auf unseren Fall runterzubrechen, ist er heute schon überflüssig. IBM’s Star-Doctor Watson ist besser im Diagnostizieren und Operieren. Das heisst auf der anderen Seite – und das wäre jetzt wirklich eine Zukunft – der Mensch muss sich neu erfinden. Der Mensch hat sich über Jahrhunderte hinweg profiliert durch rationale Intelligenz: Wissenserwerb, Rechnen, Berechnen, Kontrollieren. Das was man heute als Fachkompetenz bezeichnet. Heute bauen wir Maschinen, die uns genau bei dieser Kompetenz überlegen sind. Jetzt wird es interessant. Aber noch fehlt es uns an Fantasie, die Chance zu nutzen. Nehmen wir die Pflegerin. Ja was ist denn gegen einen Pflege-Roboter einzuwenden? Der soll doch die Zimmer reinigen, die Intimhygiene übernehmen. Gemäss Umfragen würden weit über die Hälfte der zu Pflegenden den Roboter vorziehen – aus Schamgefühl. Mit dem Roboter würde der Pflegerin ganz viel erspart bleiben. Jetzt hat sie endlich Zeit, wofür sie bisher keine Zeit hatte. Nämlich für das Wichtigste. Zuneigung, Interesse, Ermutigung, Beziehung. Das menschliche Hirn ist eine schlechte Rechnungsmaschine, es ist ein Sozialorgan.
faktuell.ch: Soziale Fähigkeiten sind in der Medizin, der Pflege wichtig. Wie sieht es in Berufen aus, bei denen mathematische Fähigkeiten im Zentrum stehen?
Ludwig Hasler: Ich hatte kürzlich mit Architekten zu tun. Die haben heute schon eine Entwurfs-Software, die der Qualität eines durchschnittlichen Schweizer Architekten ziemlich gut entspricht. Aber die Software schafft das in zehn Minuten! Da fragen die Architekten, was um Gottes Willen sie denn jetzt tun sollen. Meine Antwort: «Denken! Jetzt kommen Sie mal zum Denken. Wenn ich so durch die Gegend gehe, sieht für mich nämlich nicht jeder Bau durchdacht aus. Denken Sie also über den Menschen nach. Was braucht der Mensch um zufrieden zuhause zu sein?» Es fragt sich generell, was ein Mensch braucht, um seine soziale Natur in Hochform zu bringen. Nehmen wir den Banker. Fintech (digitale Finanzdienstleistungen) macht heute zwei Drittel aller Finanzgeschäfte. Braucht’s da überhaupt noch einen Menschen in der Bank? Ja – wegen des Vertrauens! Aber dieser Mensch muss wirklich menschlich sein, das Gegenteil einer Maschine. Heute sind wir in der Ausbildung immer noch auf dem Trip, den Menschen möglichst zu einer perfekten Maschine zu machen. Nein, sage ich. Wir müssen Anti-Maschine werden. Das wäre für mich wirklich eine Zukunft.
faktuell.ch: Noch läuft es anders: Kundenkontakte finden zunehmend über Internet statt, Kundenanfragen werden von der elektronischen Assistentin bearbeitet. Es besteht die Gefahr, dass vor allem ältere Menschen vom sozialen Leben ausgegrenzt werden.
Ludwig Hasler: Ich glaube, dass schon wieder eine Umkehr stattfindet. Der Kanadier David Sax hat ein tolles Buch geschrieben: «Die Rache des Analogen – warum wir uns nach realen Dingen sehnen». Er listet auf, was wieder im Kommen ist. Beispielsweise Vinyl-Schallplatten. Der Renner im letzten Weihnachtsgeschäft waren Werkzeugkisten. Wieder etwas von Hand machen. Interessant finde ich auch, dass die grossen Autobauer mit durchautomatisierter Fertigung wieder Leute anstellen. Begründung: Die Automatisation sei unfähig, sich zu entwickeln. Ein Roboter kann aus Erfahrung zwar lernen, aber er ist nie unzufrieden. Weshalb soll eine Blechkiste unzufrieden sein?
Der Roboter hat keinen Körper. Er weiss nichts von seiner Endlichkeit. Er weiss nicht, dass er übermorgen entsorgt wird. Er war noch nie verliebt, er war noch nie betrunken, er weiss nichts. Er ist ein perfekter Idiot. Dass dieser Roboter uns überflügeln sollte, ist absoluter Schwachsinn. Natürlich ist seine Rechenleistung grösser. Logisch. Obschon das menschliche Hirn ein absolutes Unikum ist im ganzen Kosmos, soweit wir ihn kennen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Wir haben 86 Milliarden Hirnzellen. Was wäre, wenn Vollbeschäftigung herrschen würde? Das wäre unglaublich. Die grösste künstliche Intelligenz hat eine Milliarde Neuronen, braucht aber ein halbes Atomkraftwerk Energie, um sich in Gang zu halten. Wissen Sie, was Ihr Hirn braucht? 20 Watt. Das ist das Geheimnis. Und das ist nur wegen des Körpers. Das heisst wir müssen «verkörperlichen», versinnlichen, wenn wir eine Zukunft wollen. Nur als Körper Mensch ist der Mensch besser; als Rechenmaschine – vergessen Sie es!
Zur Person: Dr. Ludwig Hasler,
Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim „St. Galler Tagblatt“, dann bei der „Weltwoche“. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schweizweit bekannt für seine Vorträge.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
(Dieses faktuell-ch-Gespräch hat im Mai 2017 stattgefunden.)