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Existenzsichernde AHV-Renten? Von wegen!

Das verfassungsrechtliche Versprechen einer AHV-Rente, die allein die Existenz der Versicherten «angemessen» garantieren sollte, war von Anfang an ein «Papiertiger» und ist es geblieben – ganz im Sinne ihres «Vaters», dem rechtsfreisinnigen Solothurner Bundesrat Walther Stampfli (Bundesrat von 1940 bis 1947). Nur zusammen mit den Ergänzungsleistungen (EL), die allein durch Bundes- und Kantonsteuern finanziert werden, vermag die 1. Säule «angemessen» existenzsichernd zu sein.

 

Seit der Annahme des AHV-Verfassungsartikels 1925 gilt: «Die Renten sollen den Existenzbedarf angemessen decken.» Ungeachtet dessen setzte sich Stampfli bei der Beratung des AHV-Gesetzes, das 1947 von 80 Prozent der Stimmberechtigte und mit einer Ausnahme von allen Ständen angenommen worden ist, mit seiner Idee einer «Basisrente» durch: 25 Prozent des letzten Lohnes vor der Pensionierung mussten reichen. Die angemessene Existenzsicherung, wie sie die Bundesverfassung vorgab, war für Stampfli kein Thema. Er qualifizierte solche Begehrlichkeit als «Phantastereien verantwortungsloser Wanderprediger». Der Verfassungstext blieb mithin toter Buchstabe.

 

Im August 1946 erklärte Stampfli vor dem Nationalrat, wohin die Reise geht: «Wir wollen das (existenzsichernde Renten, die Red.) nicht, um nicht den berechtigten Vorwurf entgegennehmen zu müssen, dass man jeden Sinn für Selbsthilfe, für Selbstverantwortung töten wolle, dass wir den Sparsinn ersticken wollen, indem wir aus öffentlichen Mitteln so viel geben, dass er ohne Ersparnisse und ohne selbst für seinen eigenen Unterhalt noch etwas zu tun, wenn er dazu im Stand ist, durchkommt.» Für einen, der wegen seiner Wortgewalt gefürchtet wurde (ehemaliger Lokalzeitungsredaktor!), etwas kompliziert formuliert, aber man versteht, was er meint.

 

Glaubt man seinem Biografen Georg Hafner («Bundesrat Walther Stampfli 1884 – 1965») schwebte Stampfli bereits in den 1940er-Jahren das spätere Dreisäulen-Konzept vor, bestehend aus AHV, Pensionskasse und persönlicher Vorsorge, wie es am 3. Dezember 1972 angenommen wurde. Tatsächlich hatten von Beginn weg die Versicherungsgesellschaften das Sagen, wenn es um die Höhe der Renten ging. Renten ja – aber nur so viel, dass genügend Anreiz für Abschlüsse mit der Privatassekuranz übrigblieb.

 

Im Januar 1944 beauftragte der Bundesrat Stampflis Volkswirtschaftsdepartement auf dessen Antrag hin, eine Expertenkommission für die Erarbeitung des AHV-Gesetzes einzuberufen. 20 Jahre nach der Annahme des AHV-Verfassungsartikels war die Zeit reif für Nägel mit Köpfen. Die Experten wählte Stampfli handverlesen selber aus – aufgrund der Vorschläge des Generaldirektors der Rentenanstalt. Dieser schlug Stampfli sieben Fachleute vor, darunter vier Generaldirektoren bzw. Direktoren von Versicherungsgesellschaften.

 

Tatsächlich nützte Stampfli seine Stellung als Bundesrat noch unter dem kriegsbedingten Vollmachten-Regime aus, den Interessenvertretern eine Machtposition einzuräumen, die sie nachvollziehbar freudvoll annahmen. Die politischen Parteien und die Kantone liess er hingegen eigenmächtig aussen vor. Stampfli-Biograf Hafner: «Stampfli gab damit den Vertretern der Privatversicherungen die Möglichkeit, ihre Interessen bei der ersten und – wie sich zeigen sollte – wichtigsten Stufe der Willensbildung zu vertreten, denn die Grundideen der Expertenkommission wurden vom Parlament nicht mehr grundlegend verändert.»

 

Doch was ist mit dem hehren Verfassungsversprechen der angemessen existenzsichernden AHV-Renten geworden? Nach Stampflis Abgang hielt sich das Versprechen noch fast zwei Jahrzehnte als Zielsetzung, die einfach noch nicht umgesetzt werden konnte. 1963 legte der Bundesrat seine «Konzeption einer umfassenden Sicherung unserer Bevölkerung gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Tod und Invalidität» vor. Das Zusammenwirken von Selbstvorsorge, beruflicher Kollektivversicherung und Sozialversicherung, wie es Stampfli und seinen Souffleuren der Versicherungsbranche bereits in den 1940er-Jahren vorschwebte, erhielt quasi den Ritterschlag, wobei den Renten der AHV und IV (1960 eingeführt) «die wichtige Funktion zufällt, als wertbeständige Basisleistungen Grundlage und Anreiz für die übrigen Sicherungsbemühungen zu sein».

 

Bis es so weit war, sollte die angebliche «Übergangslösung» der Ergänzungsleistungen (EL) Bedürftigen beistehen. Andreas Dummermuth, Präsident der kantonalen Ausgleichskassen, zitiert in einer Abhandlung über die EL-Meilensteine, den Bundesrat so: «Wir (der Bundesrat, die Red.) erachten es als unumgänglich, ein System der ergänzenden Sozialleistungen zu schaffen, um diesen Personen ein Mindesteinkommen zu sichern.» Der Bundesrat räumte damit 1963 ein erstes Mal ein, dass entgegen dem Rentenversprechen in der Bundesverfassung trotz verschiedener AHV-Revisionen seit 1948 «nur im Bereich der Maximalrenten ein einigermassen existenzsicherndes Einkommen» gewährleistet sei.

 

Als das Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen (ELG) am 1. Januar 1966 in Kraft trat, verfügte es über keine Verfassungsgrundlage. Für diese sorgte 1972 quasi durch die Hintertür das «Drei-Säulen-Prinzip» in den Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung: «Solange die Leistungen der eidgenössischen Versicherung den Existenzbedarf (…) nicht decken, richtet der Bund den Kantonen Beiträge an die Finanzierung von Ergänzungsleistungen aus.» Liest sich wie: Der angemessene Existenzbedarf mit der AHV-Rente bleibt im Fokus.

 

Dann, im Jahre 1995, folgte etwas Klärung – in einem weiteren Bericht zur Ausgestaltung und Weiterentwicklung der schweizerischen 3-Säulen-Konzeption. Die Ergänzungsleistungen verliessen zaghaft den Status einer Übergangslösung. Für Ausgleichskassen-Präsident Dummermuth war dieser Schritt «wegweisend»: «Die verfassungsrechtlich klare, aber volkswirtschaftlich kaum umsetzbare Formel ‘Die Renten der AHV/IV sollen den Existenzbedarf angemessen decken’, wird sinngemäss durch eine volkswirtschaftlich leichter tragbare Formel ersetzt». Fortan sollen die Leistungen aller Sozialwerke sowie der 2. und 3. Säule den Existenzbedarf angemessen decken.»

 

Kurzum: Die Rolle der EL sah je länger je weniger nach Übergangslösung aus, auch wenn der Auftrag einer angemessen existenzsichernden AHV-Rente in der Bundesverfassung hängenblieb. Man hatte längst damit vorteilhaft leben gelernt. Schon 1987 bei der zweiten EL-Revision war festgestellt worden, dass die Heimträger via EL – ähnlich wie die garantierte Gewinnabschöpfung der Lebensversicherer beim Obligatorium der beruflichen Vorsorge – eine garantierte Kostendeckung geniessen. Dies mit dem Ergebnis, dass die Heime ihre Preispolitik den Möglichkeiten des Systems anpassten und damit die kantonalen Gesundheitsdirektionen bzw. die kantonalen Kassenwarte auf die Palme treiben.

 

1996 kam das Obligatorium der Krankenversicherung; es sollte tiefere Prämien bringen. Doch das Gegenteil war der Fall. Die EL, bereits bei hohen Heim-, Miet- und Krankheitskosten nicht mehr wegzudenken, bekamen vielmehr eine Zusatzaufgabe: die individuelle Prämienverbilligung für EL-Bezüger. 1998 folgte eine weitere EL-Revision: Die Bruttomiete wird angerechnet, die zu vergütenden Krankheitskosten neugestaltet, die selbstbewohnte Liegenschaft wird privilegiert behandelt und für Ehepaare die getrennte EL-Berechnung eingeführt, wenn mindestens ein Ehepartner im Heim lebt. Seither ist es möglich, dass man in besonderen Fällen als Millionär EL beziehen kann, was in den Medien gelegentlich für Schlagzeilen sorgt.

 

Anfang 2000 trat die neue Bundesverfassung in Kraft: Der bisherige Artikel 34quater wurde aufgeteilt in die heutigen Artikel 111 (Drei-Säulen-Prinzip), 112 (AHV) und 113 (berufliche Vorsorge BV) der Bundesverfassung. Die EL fanden weiterhin nur in den Übergangsbestimmungen statt.

 

Der nächste grosse Schritt betraf die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) im Jahre 2008. Ein wichtiger Teil davon betrifft die Sozialwerke AHV, IV, EL und KV. Die Vorstellung, dass AHV/IV alleine je existenzsichernde Leistungen gewähren können, wurde «definitiv aufgegeben und ins Faktische überführt» (Dummermuth).

 

In einem neuen Artikel 112a mit dem Titel «Ergänzungsleistungen», mithin nicht «Ergänzungsleistungen zu AHV/IV» benamst, wird folgende Norm verabschiedet: «Bund und Kantone richten Ergänzungsleistungen aus an Personen, deren Existenzbedarf durch die Leistungen der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung nicht gedeckt ist. Das Gesetz legt den Umfang der Ergänzungsleistungen sowie die Aufgaben und Zuständigkeiten von Bund und Kantonen fest.» Es kommt zu einem Schwall von EL-Änderungen, die unter dem Strich zu einem Kostenschub von 13,4 Prozent führten. Ausschlaggebend dafür war die Aufhebung der Obergrenze bei der Berechnung des EL-Betrages.

 

Im Unterschied zur AHV sind EL Bedarfsleistungen und haben keinen Rechtsanspruch. Finanziert werden sie zu 70 Prozent durch die Kantone und zu 30 Prozent durch den Bund, wobei das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) als Aufsichtsbehörde die Kompetenz hat, den EL-Durchführungsstellen (in der Regel die kantonale Ausgleichskasse) Vorgaben für einen möglichst einheitlichen Vollzug zu erlassen. Doch die kantonalen Unterschiede sind beträchtlich und gehen weit über den Handlungsspielraum hinaus, der den Kantonen im föderalen System zusteht, wie sich aufgrund einer im Mai 2018 veröffentlichten Untersuchung der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) feststellen lässt.

 

Last but not least: Anfang 2011 setzte der Bundesrat die «Neuordnung der Pflegefinanzierung» in Kraft – ein Kompromisswerk, dem die in der IG Pflegeheimfinanzierung organisierten Akteure der Leistungsanbieter und ihrer Verbände trotz unterschiedlicher Interessenlage zustimmten. Dummermuth: «Der Grossteil der EL-Bezüger erhält seither mehr Geld, und dank den recht hohen Vermögensfreibeträgen wird vor allem bei Heimaufenthalt die EL in den Mittelstand hinein verschoben.»

 

Christian Fehr