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Andreas Dummermuth: "Wir brauchen keine geschleckten Lobbyisten."

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Andreas Dummermuth, dem Präsidenten der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen

faktuell.ch: Herr Dummermuth, warum ist für die Ausgleichskassen die vorgeschlagene  Bundeskompetenz für die Einführung von IT-Mindeststandards im Bereich der 1. Säule gleichsam des Teufels?

 

Andreas Dummermuth: Es ist nicht Aufgabe der Aufsichtsbehörde, die Durchführung sicherzustellen, sondern den Vollzug der AHV-Gesetzgebung zu überwachen. Eine Aufsicht, welche die IT definiert, wird zur wichtigsten Durchführungsstelle. Das widerspricht allen Governance-Konzepten.

 

faktuell.ch: Die Durchführungsstellen werden verpflichtet, sich an Mindeststandards, insbesondere zur Entwicklung und zum Betrieb von gesamtschweizerisch anwendbaren Informationssystemen, zu halten. Was soll daran so schlimm sein?

 

Andreas Dummermuth: Bundesbeamte haben nie und nimmer unsere IT-Durchführungserfahrung. Die Ausgleichskassen und IV-Stellen haben in den letzten Jahren laufend bewiesen, dass alle Aufträge des Parlamentes innert der Frist professionell umgesetzt wurden. Dieser Erfolg wird mit neuen Kompetenzen für die Bundesverwaltung unnötig torpediert.  

 

faktuell.ch: Apropos Frist: Vieles würde mit der Altersreform 2020 ab 1. Januar 2018 nicht einfacher, sondern komplizierter. Auf die IT-Systeme der Durchführungsstellen wartet eine grosse Aufgabe. Sind sie bereit?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben alles für den ganzen Leistungs- und Beitragsbereich – Flexibilisierung des Altersrücktritts, Bezug aller Renten, Vorbezug, Aufschub – in die Wege geleitet: Völlig neue Merkblätter und Formulare sind verabschiedet, die prognostische Rentenberechnung ist vorhanden. Wir werden zusätzlich ein kostenloses Berechnungstool online anbieten, die Schulungen unserer Mitarbeitenden haben begonnen – das heisst, wir gehen davon aus, dass die Volksabstimmung positiv ausfällt. Alles wird am 1. Januar 2018 laufen. Das kostet auf verschiedenen Ebenen insgesamt einmalig etwa zwanzig Franken pro Rentner, also gegen 50 Millionen Franken. Das ist der Preis der Demokratie. Nota bene haben wir das alles ohne die geplanten IT-Standards der Bundesverwaltung hingekriegt. Die brauchen wir nicht. Tipptoppe Umsetzung ist unser Business.

 

faktuell.ch: Der Gesetzesentwurf sieht durchaus vor, dass die Durchführungsstellen die IT-Mindeststandards entwickeln können, damit sie im Massengeschäft AHV praxistauglich sind. Trotzdem stemmen sich die kantonalen Ausgleichskassen, die IV-Stellen und die Verbandsausgleichskassen der Arbeitgeber wie eine Bank dagegen. Riecht nach grossem Misstrauen gegen Bundesbern.

Andreas Dummermuth: Die Engländer sagen: «If it ain’t broke, don’t fix it.» (etwa flick nichts, das nicht kaputt ist). Was uns ohne Not vorgeschlagen wird, verursacht jährliche Mehrkosten von 21 Millionen Franken und das Produkt AHV wird nicht besser. Im Gegenteil. Die damit angestrebte Wirkungssteuer bedeutet eine Bürokratisierung der AHV sondergleichen. Diese unnötigen Kosten werden die Arbeitgeber und die Kantone tragen müssen. Da machen wir nicht mit.

 

faktuell.ch: Reden wir Klartext. Alle Erfahrungen mit IT-Bundesprojekten bis hin zum teuren «Insieme»-Flop der Eidgenössischen Steuerverwaltung sind schmählich abgestürzt. Spüren die Verantwortlichen der Ausgleichskassen bereits den warmen Atem von experimentierfreudigen IT-Bundesbeamten im Nacken?

 

Andreas Dummermuth: Ich halte es für die grösste Gefährdung der AHV seit 1948, wenn Bundesbeamte in die AHV-Informatik reinpfuschen! Man setzt das Erfolgsmodell AHV unnötig auf’s Spiel.

 

faktuell.ch: Fehlt es den Ausgleichskassen an Lobbyisten unter der Bundeskuppel?

 

Andreas Dummermuth: Wir stehen selber hin! Obschon AHV, IV, EO und EL etwa 40 % des Sozialversicherungskuchens ausmachen, geben wir keinen einzigen Franken für Lobby-Arbeit aus. Die Politik will von uns keine geschleckten Lobbyisten...

 

faktuell.ch: … etwas professioneller Lobbyismus könnte vermutlich auch den Ausgleichskassen nicht schaden, wenn man zum Beispiel sieht, dass die Pensionskassen ein Jahr länger Zeit als die Ausgleichskassen bekommen, um sich auf die Neuerungen der Altersreform einzustellen.

 

Andreas Dummermuth: Wir brauchen und wollen das nicht, auch wenn wir uns nicht unbedingt beliebt machen, weil wir immer klar Stellung beziehen. Wir sagen: Die AHV gehört den Versicherten und der Wirtschaft und nicht der Bundesverwaltung. Bundesbeamte haben keinerlei höhere Legitimation über die AHV zu reden als irgendjemand anderer. Politik hat nicht die Bundesverwaltung zu machen, sondern die gewählten Parlamentarier. Und die gehen wir auch aktiv an.

 

faktuell.ch: Bundesbern und seine Beamten haben es mit Ihnen schwer.

 

Andreas Dummermuth: Ich bin seit 1992 im Sozialversicherungsgeschäft. Ich musste die enormen Probleme der IV miterleben, vor denen ‘Bern’ die Augen damals schloss und noch Mitte der 1990er-Jahre erklärte: „Die IV hat keine Probleme“.  Oder das ganze Drama mit den Ergänzungsleistungen. Da werden jährlich mehrere hundert Millionen Franken völlig überflüssige Ergänzungsleistungen ausgezahlt. Und wiederum: Von Bundesbern kam nichts. Es brauchte vier Vorstösse im Bundesparlament, bis endlich eine EL-Reform an die Hand genommen wurde.

 

faktuell.ch: Stichwort IV. Ende Jahr läuft die siebenjährige Mehrwertsteuer-Aufbauhilfe aus. Das waren jährlich mehr als eine Milliarde Franken. Laut den Verantwortlichen im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wird die IV ab 2018 ohne diese Unterstützung wieder schwarze Zahlen schreiben. Ist das realistisch?

 

Andreas Dummermuth: Nein, das ist das Prinzip Hoffnung. Wir waren ziemlich nah am Sanierungsziel, aber jetzt erfüllt die Politik wieder Zusatzwünsche, die massive Mehrausgaben zur Folge haben – etwa im Bereich von Pflegeleistungen für Kinder, dann im Bereich der Geburtsgebrechen mit Trisomie 21 und aktuell läuft die Vernehmlassung für eine Änderung der Invalidenverordnung – gemischte Methode bei der Invaliditätsbemessung bei Teilzeiterwerbstätigen.

Dummermuth: Entweder man sagt, es ist uns egal, wenn das in zwei Volksabstimmungen versprochene Sanierungsziel aufgegeben wird – das fände ich aber heikel – oder man schaut trotzdem, wie man eben unnötige Ausgaben verhindern kann. Das Hauptproblem der IV ist heute, dass wir weiterhin 40 % IV-Neurentner mit psychischen Problemen haben. Das ist ein gesellschaftliches Desaster. Wenn die Schweiz Menschen mit psychischen Problemen nichts anderes anbieten kann, als eine Rente, entspricht das nicht dem, was man von einem der reichsten Länder der Welt erwarten könnte.

 

faktuell.ch: Klingt aber auch nach Mehrkosten. Was empfehlen Sie?

 

Andreas Dummermuth: Arbeitsmarktintegration! Wir müssen vor allem an der Schwelle am Ende der schulischen Ausbildung, beim Eintritt ins Arbeitsleben, dafür sorgen, dass diese Schwelle nicht zum Stolperstein wird. Es gilt, allen jungen Menschen, auch solchen, die nur Teilzeit arbeiten können, eine berufliche Ausbildung zu geben.

 

faktuell.ch: Wie soll das gehen, ohne ebenfalls zum Prinzip Hoffnung zu mutieren?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben heute in der Schweiz ein sehr gutes System der Arbeitslosenversicherung (ALV). Ein Erfolgsmodell! Um die rund 140'000 Arbeitslosen kümmern sich 5000 Personen – die ALV ist damit personell doppelt so gut «motorisiert» wie die IV. Bei der IV erhalten wir zwar Instrumente, aber es fehlen uns leider die Handwerker.

 

faktuell.ch: Und alles wird gut?

 

Andreas Dummermuth: Ja, irgend jemand muss diese Menschen begleiten! Und genau das können die IV-Stellen mit mehr Fachpersonal am besten machen. Die Krankenkassen helfen uns leider nicht. Mit ihren stetig höheren Prämien spiegeln sie nicht bessere Wirkung, sondern nur den explodierenden Medizinalkonsum. Aber keine einzige Krankenkasse weiss, wo Sie und ich arbeiten. Denen ist das völlig egal. Die Krankenkassen haben keinen «back to work»-Auftrag.

 

faktuell.ch: Sie wollen die Krankenkassen einbinden?

 

Andreas Dummermuth: Sämtliche internationalen Untersuchungen zeigen, dass Länder, die gegen Invalidisierung kämpfen, alle Partner in eine «back to work»-Strategie einbinden. Nach dem heutigen System können wir nichts machen. Die Leute sind von der Gesundheitsindustrie auf Psychopharmaka und Therapie ausgerichtet worden. Und wenn einer 19 ist, sagt man, da ist nichts mehr zu machen. Die IV soll sich mit der Rente um ihn kümmern. Darauf muss die Gesellschaft eine entschiedene andere Antwort geben: Jawohl, wenn du krank bist, haben wir ein Interesse daran, dass du gesund wirst. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dass du wieder arbeiten gehst. Und wenn wir das nicht koppeln, werden wir weiterhin einen derart hohen Anteil von Menschen mit psychischen Problemen haben.

 

faktuell.ch: Was soll die Gesellschaft tun, wenn viele Junge offensichtlich nicht im imstande sind, eine Berufslehre durchzustehen?

Andreas Dummermuth: Auf die Frage nach mangelnder Resilienz gibt es zwei Antworten: Die eine lautet mit der Bach-Kantate: «Kommt, ihr Töchter, helft mir

klagen!» Lamentieren ist aber kein Ansatz. Die andere: Wenn wir nicht wollen, dass junge Menschen mit psychischen Problemen wie heute en masse IV-Rente beziehen, müssen wir ihnen zwei-, dreimal eine Chance geben. Klar ist für mich: Junge Menschen bis zum Alter 25 oder 30 brauchen keine IV-Rente, sondern Begleitung.

 

faktuell.ch: Bis 2030 soll die IV ihre Schuld von zuletzt 11,4 Milliarden Franken bei der AHV abgetragen haben. Das macht jährlich 820 Millionen. Wie soll dies ohne Mehrwertsteuer-Bonus gehen?

 

Andreas Dummermuth: Die Sanierung der Invalidenversicherung ist versprochen, von Volk und Ständen abgesegnet. Damit sie die Schuld bei der AHV abbauen kann, muss sie Gewinn machen. Wenn man jetzt aber der IV – wie schon ausgeführt – zusätzliche Leistungen aufbürdet, ist selbst das Sanierungsziel an sich gefährdet.

 

faktuell.ch: Eigentlich sollten die AHV-Renten gemäss Bundesverfassung «angemessen» existenzsichernd sein, sind sie aber nicht.

 

Andreas Dummermuth: Bis 2008 waren die 1966 als Übergangslösung eingeführten Ergänzungsleistungen ein Provisorium. Bereits 1995 hat sich der Bundesrat in seinem 3-Säulen-Bericht der Realität angepasst und erklärt, dass das Ziel der Existenzsicherung durch die drei Säulen und nicht allein durch die erste Säule erreicht wird. Seit dem 1. Januar 2008 sind die Ergänzungsleistungen definitiv. Für diejenigen, die von erster, zweiter und dritter Säule nicht leben können haben wir seither definitiv die EL...

 

faktuell.ch: … die allerdings bedarfsabhängig ausgerichtet wird und nicht als verfassungsrechtlicher Anspruch.

 

Andreas Dummermuth:  Ich halte das Konstrukt für hervorragend. Aber es gibt noch zwei, drei Sachen, die ausgemerzt werden müssen, sonst wird die EL auch ein System für den Mittelstand und das ist nicht mehr finanzierbar. Die ständig wachsenden Kosten für EL bedrängen andere wichtige Politikbereiche.

 

faktuell.ch: Wo liegt der Hund begraben?

 

Andreas Dummermuth: Die Pensionskassen stehlen sich heute nach dem Woody-Allen-Prinzip von «Take the money und run» oft aus ihrer Verantwortung. Da wird das Risiko der Langlebigkeit und das Risiko der Anlage an Leute übergeben, die nicht in der Lage sind, damit umzugehen. Hier wird ein gutes System, um das uns die ganze Welt beneidet, zu Boden geritten. Wenn jeder sein Kapital mit 65 nach Belieben abziehen kann, macht man einen Lastentransfer zulasten der öffentlichen Hand, der nicht mit dem 3-Säulen-System übereinstimmt. Das ist für mich klar verfassungswidrig.

 

faktuell.ch: Offenbar handeln die Leute nach dem Prinzip von «Den Letzten beissen die Hunde». Es fehlt ihnen das Vertrauen in die Langlebigkeit der 2. Säule.

Andreas Dummermuth: Wenn der Bürger die Möglichkeit zum Abzug seiner Gelder hat, nutzt er sie, ohne Rücksicht auf das System. Das ist sein gutes Recht. Aber mich erstaunt, dass die Pensionskassen-Lobby den Kapitalabzug bis an den Bach runter verteidigt. Wenn jeder sein Geld mit 65 rausnimmt, brauchen wir gar keine

Pensionskassen mehr. Dann brauche ich nur noch eine Lebensversicherung für mich und meine Angehörigen und ein Konto bei der Kantonalbank, von dem ich mein Geld beziehen kann. Als Kapitalabfindungs-Institutionen brauchen wir die 3000 Pensionskassen nicht.

 

faktuell.ch: Mit der Möglichkeit des Kapitalabzugs sind die Pensionskassen die Verantwortung los, ihre einst vollmundig geäusserten Versprechen einhalten zu müssen.

 

Andreas Dummermuth: Genau. Aber das führt auch zu einer Erosion der Sicherheit in der Bevölkerung. Sinn und Zweck der sozialen Sicherheit ist es, dass der Bäcker Brot backen und die Krankenschwester ihre Patienten pflegen kann und beide wissen, dass sie mit ihrem normalen Job auch im Alter einigermassen gut werden leben können. Das Versprechen von «decent life», ein anständiges Leben führen zu können, ist ein hohes Versprechen. Aber Sozialversicherungen – und das ist für mich ganz wichtig – muss man als staatliche Infrastruktur betrachten wie das Bahn- und Strassennetz. Dass ein Staat seine Infrastruktur wissentlich verlottern lässt, so wie die Amerikaner ihre Strassen, scheint mir kein Ziel zu sein.

 

faktuell.ch: Wird die grosse Reform der Altersvorsorge angenommen, kehrt keine Ruhe ein. Sie haben bereits einen «Frühlingsputz» angekündigt. Woran denken Sie dabei?

 

Andreas Dummermuth: Wir richten noch Leistungen aus, die 1948 festgelegt wurden und heute nicht mehr so nötig sind. Altersrentner mit minderjährigen Kindern haben pro Kind zusätzlich Anspruch auf 40 % einer Maximalrente. Das sind pro Monat 940 Franken aus der AHV-Kasse, während die normale Kinderzulage eines Arbeitnehmers monatlich 200 bis 250 Franken ausmacht. Auch die Witwen- und Waisenrenten sind in der heutigen Form überholt. Ich votiere nicht dafür, dass man sie gleich auf Null runterfährt, aber man muss sie der gesellschaftlichen Realität anpassen. So gibt es diverse Leistungen in den Sozialversicherungen, die eingestellt oder reduziert werden könnten.

 

faktuell.ch:  Zurück zu den Ergänzungsleistungen im Besonderen. Es gibt eine Dunkelziffer wie bei allen bedarfsabhängigen Sozialleistungen von Bürgern, die aus unterschiedlichen Gründen auf ihren Anspruch verzichten. In einer Nationalfondsstudie von 1998 war von einer Nichtbezugsquote von 33 % die Rede. Die Eidgenössische Finanzkontrolle kam 2010 in einer Untersuchung zum Schluss, dass diese Quote weit übertrieben sei. Wie hoch schätzen Sie die Nichtbezugs-Quote ein?

 

Andreas Dummermuth: Wir können nur messen, was wir einnehmen und auszahlen. Was nicht ausbezahlt wird, können wir nicht messen. Ich schätze aufgrund meiner Schwyzer Erfahrung, dass es etwa 2 % sind.

 

faktuell.ch: Von 33 auf 2 % zurückgegangen - Sie untertreiben.

Andreas Dummermuth: Es gibt eine Faustregel: Wer AHV zuzüglich einer kleinen Pensionskassenrente hat und zuhause lebt, kommt nicht in die EL rein. Sobald aber das Heim ansteht, steigen die Kosten. In Schwyz treffen wir uns regelmässig mit Vertretern des Heim-Verbandes curaviva und unsere Erfahrung zeigt, dass kein

Heimverwalter jemanden in sein Heim aufnimmt, ohne dass die Finanzierung gesichert ist. Wenn die drei Säulen nicht ausreichen, kommt die EL zum Zug. Die Heime selber haben null Interesse, Inkasso-Risiken einzugehen.

 

faktuell.ch: Das Wort Verzicht kommt auch im umgekehrten Sinn vor – dem Vermögensverzicht zuhanden der Nachkommen zum Beispiel. Im Zusammenhang mit der Erbschaftssteuer-Vorlage hatten sich solche Fälle gehäuft. Wie ist der «courant normal» heute?

 

Andreas Dummermuth: Bei der EL ist das wie beim Doktor: Zunge raus und Hosen runter! Wir stellen im Kanton Schwyz im Rahmen unserer Abklärungen bei 20 % der EL-Neuanmeldungen vorherigen Vermögensverzicht fest. Wenn jemand eine Weltreise für 30'000 Franken macht, hat er das Geld ausgegeben und dafür eine Gegenleistung erhalten. Das wirkt sich bei den EL nicht aus. Überträgt aber jemand seinen Kindern sein Haus, das einen Wert von 800'000 Franken hat, und er dafür bloss 200'000 Franken haben will, dann verzichtet er auf 600'000 Franken. Das akzeptieren wir nicht und rechnen es auf. Das ist bei uns in 20 % der Fälle der Fall.

 

faktuell.ch: Die EL-Ausgaben explodieren seit Jahren förmlich. Was sind die wirklichen Gefahren der EL?

 

Andreas Dummermuth: Wir müssen dafür sorgen, dass jede der drei Säulen die Risiken tragen kann, die wir mit der Volksabstimmung im Jahre 1972 gesellschaftlich vereinbart haben: die Risiken von Invalidität, Tod und Versorgung im Alter. In der 2. Säule heisst das aus Sicht der EL, dass möglichst viele Leute einen Anspruch auf eine Rente aus ihren Pensionskassengeldern haben müssen. Technisch ist jeder Franken Pensionkassengeld, das abgezogen wird, ein Franken EL weniger.

 

faktuell.ch: Ist bereits Gefahr in Verzug?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir den angemessenen Existenzbedarf über die EL sichern wollen – und das ist völlig unbestritten –, dann darf man doch nicht Leuten aus Steuergeldern EL zahlen, deren Existenz gar nicht gefährdet ist. Das heutige EL-System gibt Leistungen weit über den Verfassungszweck hinaus.

 

faktuell.ch: AHV und IV zusammen zahlen heute EL für etwas mehr als fünf Milliarden Franken aus. Wo kann gespart werden?

 

Andreas Dummermuth: Meines Erachtens könnte man mit der Einführung einer Vermögensschwelle von 100'000 Franken ca. 400 Millionen Franken im Jahr sparen. Im Kanton Schwyz haben wir ausgerechnet, dass ca. 12 % unserer EL-Leistungen übertrieben sind, da die Existenz sehr wohl gesichert ist. Da sind sogar Millionäre dabei. Das geht einfach nicht.

 

faktuell.ch: Auch die finanziellen Verhältnisse von EL-Beziehenden können sich verändern – zum Guten wie auch zum Schlechten. Was dann?

 

 Andreas Dummermuth: Es gibt eine Meldepflicht. Seit 2008 sind Meldepflichtverletzungen, die man früher als Kavaliersdelikt betrachtete, strafrechtlich relevant. Die Verletzung der Meldepflicht hat eine Strafanzeige zur Folge.

faktuell.ch: Kommen wir noch auf die Unternehmenssteuerreform II zu sprechen. Sie führt zu einer massiven Verschiebung von AHV-pflichtigem Lohnabzug zur Dividenausschüttung. Lässt sich beziffern, was der AHV-Kasse damit an Einnahmen entgeht?

 

Andreas Dummermuth: Wir haben leider keinen Einblick in die entsprechenden Steuerunterlagen! Aber es ist ein sehr erheblicher Betrag. Im Kanton Schwyz mit seinen 150 000 Einwohnern sind zwischen 2007 und 2011, also innerhalb von fünf Jahren, 3,7 Milliarden Franken in Dividenden ausgezahlt worden, auf die kaum Sozialabgaben zu zahlen sind. Dies entspricht 80 % des gesamten AHV-pflichtigen Einkommens unseres Kantons.

 

faktuell.ch: Es ist nicht verboten, die Steuern zu optimieren – wozu das System einen erst noch einlädt.

 

Andreas Dummermuth: Stimmt. So hat sich mir gegenüber auch ein Mitglied des Bundesgerichts geäussert. Ich habe darauf geantwortet: „Aber die Renten an Ihre Eltern müssen wir jeden Monat auszahlen!“ Sozialversicherer leben vom Vertrauen. Als Leiter einer Ausgleichskasse habe ich Erklärungsnotstand: Einerseits muss ich jedem Hausdienstarbeitgeber wegen der Putzfrau auf die Finger klopfen und klarmachen, dass auch Bagatelleinkommen sauber abrechnet werden; anderseits habe ich die «Optimierer», die sich mit grossen Beträgen legal schadlos halten können. So wird ein System nicht stabilisiert.

 

faktuell.ch: Sie nennen es «Flucht aus der Solidarität».

 

Andreas Dummermuth: Ja, ganz klar. Das klassische Beispiel sind vor allem solche, die stark profitieren von unserem Gesundheitswesen: Ärzte, die sich en masse in AGs und GmbHs ausgliedern. Es geht mir aber nicht um ein Ärzte-Bashing. Ich möchte auch Architekten und Anwälte nennen, die in der Dreifaltigkeit von Aktionär, Verwaltungsrat und Geschäftsführer Ende Jahr mit dem Treuhänder zusammen entscheiden, was sie als AHV-Beitrag rausnehmen und was sie als steuerprivilegierte Dividende der AHV vorenthalten wollen.

 

faktuell.ch: Fassen wir zusammen: Die Reichen optimieren im Bereich der AHV und die Armen im Bereich der EL. Richtig?

 

Andreas Dummermuth: Ja. Wenn wir wissentlich und willentlich in beiden Bereichen entweder zu viel ausgeben oder zu wenig einnehmen, dann höhlen wir unnötig die Sozialsysteme aus. Das ist keine verantwortungsbewusste und nachhaltige Sozialpolitik.

 

 Gesprächsführung für faktuell.ch: Christian Fehr

(Dieses Gespräch fand im Juli 2017 statt.)