faktuell.ch im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Dr. Ludwig Hasler
Ludwig Hasler
faktuell.ch: Die Schweiz ist ein sozialer Wohlfahrtstaat. Wir leben in relativer finanzieller Sicherheit. Sind wir zu satt, Herr Hasler?
Ludwig Hasler: Es ist nur logisch, dass man sich an die Komfortzone gewöhnt, wenn es einem so fabelhaft geht. Das ist eine Form von Sattheit. Wir sind nicht mehr hungrig. Satten Menschen kann man nicht beibringen wie sexy Hunger ist. Das Problem der Sattheit ist die Dimensionslosigkeit. Wir wollen unser gutes Leben behalten. Wir wollen keine Veränderung. Das heisst im Klartext: Wir wollen keine Zukunft, sondern eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Veränderung bringt immer Ärger. Diese Haltung kann man niemandem vorwerfen, sie ist nur nicht besonders schlau. Die Gegenwart behalten, heisst, den Status quo konservieren. Aber jeder Status quo ist das interimistische Ergebnis einer Entwicklung. Wie alles Irdische wird er einmal kränkeln, serbeln, verfaulen. Und wer sich in den Status quo verkrallt, hängt ab. Bei der Evolution geht es immer darum, wer besser wird – wir oder andere. Das Problem ist, dass wir zu satt sind, um Neugier und Willen aufzubringen, uns zu verbessern. Wenn es uns jetzt schon so „saugut“ geht…
faktuell.ch: …und trotzdem boomt die Sozialindustrie. Allein im Kanton Zürich gibt es 3300 Angebote unter dem Titel „Soziale Hilfe von A-Z“. Macht uns der Wohlfahrtsstaat zu Hilfsbedürftigen – uns, die wir so stolz auf Freiheit und Selbstverwirklichung sind?
Ludwig Hasler: Im Nationalen Gesundheitsbericht 2015 lese ich, dass 2,2 der 8 Millionen Menschen in der Schweiz chronisch krank sind. Ich dachte: Das darf nicht wahr sein! Es gibt das sogenannte Gesundheitsparadox, das besagt: Je gesünder eine Bevölkerung ist, desto kränker fühlt sie sich. Sie hat massenhaft Zeit, sich zu sorgen – vor allem um sich selber. Da werden plötzlich die kleinen Übel – um die grossen kümmert sich die Medizin – so ernsthaft, dass schon ein Juckreiz zu einer Existenzkrise führt. Diese Verweichlichung kennt man auch im Tierreich. Nehmen wir den Grizzlybären. Von einem Grizzly überfallen zu werden, war das Schlimmste, was in der amerikanischen Pionierzeit passieren konnte. Der Grizzly war blutrünstig, machte Menschen und Pferde kaputt und hinterliess ein Schlachtfeld, wenn er wieder abzog. Also hat man die Grizzlybären gejagt, bis es fast keine mehr hatte. Dann wurden sie geschützt. Erfolgreich. Sie haben sich vermehrt und dürfen nicht mehr gejagt werden. Was ist heute mit dem Grizzly los? Er ist sozusagen ein adipöser Warmduscher geworden, der in den Getreidefeldern rumliegt, den Bauern das Korn wegfrisst und alt und krank und feiss ist.
faktuell.ch: Wir sind Ihrer Logik zufolge in der Schweiz fette Grizzlies und könnten durch Migranten aus unserer Lethargie aufgescheucht werden?
Ludwig Hasler: Jaaa… man kann diese Logik nachzeichnen. Je geschützter und sicherer ein Leben ist, desto mehr verliert es an Kraft. Hugenotten im 16. Jahrhundert brachten uns Uhren, davon leben wir heute noch. Im 19. Jahrhundert kamen die Deutschen, im 20. die Italiener. Die Italiener mochten wir eigentlich nicht, aber was passierte da: sie italianisierten wunderbarerweise die Alltagskultur der Schweiz. Zürich in den 1960er Jahren konnte man sich nicht ansehen. Heute ist die Stadt mediterran. Ein gutes Beispiel sind auch die Balkan-Immigranten. Das Bundesamt für Berufsbildung vergleicht in einer Studie den Werdegang von Schweizern und Balkan-Immigranten. Wo stehen sie zehn Jahre nach der Ausbildung, mit etwa 30? Ergebnis: Signifikant mehr Balkan-Immigranten haben bessere Jobs und mehr Lohn. Das heisst, wir leben bereits von denen. Wohlverstanden, das ist natürlich die Gruppe, die „eingehängt“ hat. Es gibt auch andere. Aber wir müssen alles dafür tun, dass die möglichst hoch einhängen können. Dann haben sie eine Kraft und einen Biss – Hunger. Die wollen etwas erreichen. Sie sind auch tolle Machos und wollen den Frauen imponieren. Uns tut diese Auffrischung enorm gut.
faktuell.ch: Wie sieht es in unserer Gesellschaft mit eigenständigem Denken aus? Nach hundert Jahre gemütlichem Paffen ist Tabak fast von einem Tag auf den andern auf staatliche Verordnung hin des Teufels – überall in der westlichen Welt. Warum gab es da keinen Aufstand?
Ludwig Hasler: Ich glaube, es gibt zwei Faktoren, die zusammentreffen müssen, damit eine staatliche Bevormundung überhaupt funktionieren kann. In der Gesellschaft muss schon der Humus bereitet werden. Das ist bereits in der Familie der Fall. Man räumt den Kindern jeden Widerstand aus. Paradebeispiel für mich: Immer mehr Eltern karren ihre Kinder in die Schule. Mit dem Auto. Aus purer Liebe. Auf dem Weg könnte die Wirklichkeit lauern. Davor muss man die Kinder bekanntlich behüten. Da beginnt es: Jeder Widerstand wird weggenommen. Ungeschickt ist nur, dass der Mensch am Widerstand wächst. Nicht nur der Mensch, das Leben überhaupt braucht Widerstand. Um Immanuel Kant zu zitieren: „ Eine Taube in ihrem Fluge kommt leicht auf den Gedanken, ohne Luftwiderstand flöge sie noch viel leichter.“ Dann wäre sie aber mausetot. Und so wie die Taube denkt, so denken immer mehr von uns. Weg mit Widerstand. Unser Dilemma: Erziehen wir die Kinder, indem wir sie vor der Wirklichkeit schonen oder indem wir sie stärken für die Wirklichkeit. Das ist ein grosser Unterschied. Stärken für die Wirklichkeit heisst, ihnen zumuten, dass sie ganz früh lernen, Widerstände, Hindernisse selbständig zu überwinden. Dann kommen sie in die Schule, in der nicht mehr die grosse Leistungskultur gepflegt wird. Ein Bub, der etwas leisten und lernen will, ist nicht beliebt. Auch der Kräftige ist es nicht. Aber Schlägereien müssen innerhalb einer Biografie auch mal ausprobiert werden, damit man sie loswerden kann. Man kann nicht erst mit 45 damit anfangen.
faktuell.ch: Fehlt uns die Ventilfunktion?
Ludwig Hasler: Ja. Kletterstangen beispielsweise sind jetzt nach EU-Norm verboten. Wir hockten doch alle da oben und nicht einer fiel runter. Und sollte in 20 Jahren einer runter gefallen sein, dann hatten aber alle andern davon profitiert. Evolution, vorwärts machen, sich körperlich kräftigen und selbständig werden: Das ist die Voraussetzung dafür, einen gesellschaftlichen Status zu erreichen, in dem man sich von einem Staat nicht alles bieten lässt. Wenn man dies nicht tut, dankt man insgeheim dem Vater Staat oder der Amme Staat. Das ist der grosse Wechsel. Dass der Staat im Kern für die Sicherheit der Bürger zuständig ist. Nicht nur für die Sicherheit der Bürger gegenüber Angriffen von andern, sondern auch von Angriffen eigener Lustbarkeiten. Jetzt verschont der Staat mich sozusagen vor mir selber. Zum Beispiel vor nächtlichen Konsum-Orgien an Tankstellen.
faktuell.ch: Es geht ja noch weiter. Sozialkontrolle durch Whistleblower. Wie sehen Sie die Gefahr des Denunziantentums, mit dem sich ja auch Missliebige aus dem Weg räumen lassen?
Ludwig Hasler: Der Mensch ist nicht der einfachste Fall der Schöpfung. Er ist ein zwiespältiges Wesen. Um noch einmal den an sich optimistischen Aufklärer Kant zu zitieren: „ Der Mensch ist von Natur aus faul und feige.“ Feige! Das heisst, er ist ein Mitläufer, eine Windfahne. Es ist schändlich, wie unselbständig der Mensch ist. Er erklärt sogar einen extra versauten Wein für den grössten und besten, wenn ein so genannter Experte dies behauptet. Das gehört zum Menschsein.
faktuell.ch: Also leben wir nur unsere Bestimmung?
Ludwig Hasler: Ja gut, aber was ist unsere Bestimmung? Wenn ich schon anthropologisch werde: Das Spezifische am Menschen ist seine Zweideutigkeit. Ich habe den Eindruck, dass man den Menschen heute eindeutig machen, zusammenzimmern möchte. Kant sagt: „Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt.“ Jetzt will man ihn unbedingt begradigen. Mit miserablem Erfolg. Weil wir zwiespältig sind. Alles andere, der Esel, die Ente, der Engel, alles um uns herum, unter und über uns ist eindeutig. Der Esel ist eindeutig, der Engel ist eindeutig. Sie haben auch keine Probleme in ihrer Eindeutigkeit. Der Mensch ist halb Esel, halb Engel, irgendwo dazwischen. Der leibhaftige Zwischenfall zwischen dem Geistigen von oben und dem Animalischen von unten. Der Mensch oszilliert permanent zwischen dem Geistigen und Animalischen. Die sind nicht befreundet. Beide wollen ihren Part und versuchen, den andern zu verdrängen. Darum ist es wichtig, wie man sich verständigt…
faktuell.ch: …mit sich selbst?...
Ludwig Hasler:…aber auch mit unserer Zwiespältigkeit insgesamt. Das ist es, was das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht kapiert. Die wollen den Menschen eindeutig, gut und proper. Ein properer Mensch ist ein Schwachsinn. Das sieht man im Nationalen Gesundheitsbericht 2015: Es wird weniger getrunken und geraucht. Konsequenz: Viel mehr Depressionen. Früher sagte man: “Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Jetzt kommt das BAG und sagt, Herr Hasler, sie sollten zweimal pro Woche gar keinen Wein trinken. Ja und wenn ich erst ab dem dritten Glas der Gesellschaft zumutbar bin? Will man mich unzumutbar oder als anregenden, geselligen Geist? Was will man? Will man, dass ich gesund hundert werde und dann dement bin? Was will man eigentlich von mir? Ich komme jetzt auf das Thema, das mir am meisten am Herzen liegt: Wir haben ein kreuzfalsches oder gar kein Menschenbild. Wir machen aus dem Menschen einen biochemischen Apparat. Das ist so lächerlich! Wenn wir das tun, gibt es auch keine Resilienz, keine seelische Widerstandskraft, mehr. Im Unterschied zu früher. Mein Vater, meine Mutter krampften ein Leben lang. Arbeiterfamilie, arm, bildungsfern würde man heute sagen. Meine Eltern waren immer vergnügt. Wissen Sie weshalb? Also erstens, weil sie so tolle Kinder hatten (lacht), und zweitens, weil sie religiös waren. Sie hatten einen Glauben. Sie hatten – da reden wir von einem Belohnungssystem – eine höhere Koordinate. Jedes Versagen, alle Enttäuschungen und Krankheiten konnten sie einordnen. Wo können wir das heute noch? Deshalb klappen wir beim geringsten Versagen, bei der kleinsten Entsagung zusammen. Und dann fordern wir den Staat. Und der Staat sagt nie nein.
faktuell.ch: Haben wir heute keine allgemein gültigen Parameter mehr – keine gesellschaftliche Norm, Moral?
Ludwig Hasler: Ich unterscheide zwischen Sitte und Moral. Moral ist subjektiv. Sitte gehört zum Anstand, dass man mir nicht auf die Füsse spuckt. Man spricht heute viel von Respekt, meint aber nur Correctness. Es geht ja eher um Distanz. Aber, ob man das via Gesellschaftsvertrag machen kann, ist eine offene Frage. Das ist erstmalig in der Geschichte der Menschheit. Tausende von Jahren haben sich alle Kulturen mit Blick auf eine höhere, eine übergeordnete Geschichte definiert, auf eine göttliche, eine kosmische Dimension. Das hat besser funktioniert. Die Alten gehörten fast zum Totenreich. Man achtete sie nicht, weil sie alt waren, sondern weil sie schon fast zu den Ahnen gehörten. Und vor denen hatte man sich gefälligst in acht zu nehmen. Das versuchen wir heute mit Kampagnen fürs sogenannte würdige Sterben zu bewältigen. Aber am besten bringen sich alle selber und rechtzeitig um. Das ist extrem praktisch, spart uns Kosten, Pflegepersonal und die Versicherungen sind dann auch wieder im Lot. Das war früher alles viel einfacher. Man hat alles unter einer Ewigkeitsperspektive betrachtet. Wenn die wegfällt, sind wir einfach unter uns. Das kann man auch als Befreiung betrachten. Aber gleichzeitig ist es ein neuer Zustand, an den wir uns noch nicht gewöhnt sind. Wir sind gewissermassen kosmisch vereinsamt und deshalb gucken wir mit umso mehr Anstrengung auf den Mars: Ist da noch jemand oder sind wir ganz allein und verwaist? Deshalb müssten wir gesellschaftliche Verkehrsregeln zwischen Individuen, zwischen kulturellen Gruppen machen. Das wäre eine grosse Herausforderung. Ob das geht? Es hat noch nie eine Gesellschaft überlebt, die keine Tiefen- oder Höhenkultur hat. Für die wichtigen Ereignisse im Leben wie Geburt, Initiation, Heirat, Tod haben wir keine Rituale. Und wenn man zu den andern Angeboten greift, in die Kirche geht, dann ist es nur noch peinlich, weil niemand die Lieder singen kann. Und was ist eine Kirche ohne Lieder? Und das Personal dort ist auch nicht gerade bewundernswert. Daraus gibt es natürlich ein neues Business: die Branche für Rituale.
faktuell.ch: Was sollten wir tun, um unsere kulturelle Lücke selber zu füllen statt die Leistung einzukaufen?
Ludwig Hasler: Wir können den Zeitgeist nicht umdrehen. Es gibt keine Gegeninstanz. Aber wir müssen anders reden über uns. Da lese ich in der Zeitung über einen Forschungsbericht. These: Zwei Drittel all derer, die aus den Ferien nach Hause kommen, leiden unter dem „Post Holiday Syndrom“. Ich muss sagen, eine Gesellschaft, die sich ernsthaft mit solchem Mist beschäftigt, ist krank. Es gibt auch den Job-Stress-Index. Die Uni Bern, hochkarätige Forschungsinstitute, lassen rationalen Unsinn raus wie: 40 Prozent der Arbeitnehmer in der Schweiz sind erschöpft. Sie schreiben „sind“ erschöpft. Und nicht, sie „fühlen sich“ erschöpft. Selbstdeklaration durch ankreuzen auf dem Fragebogen. Das ist der neue Sport. Da sagt natürlich keiner, er sei nie erschöpft. Das ist haarsträubend! Dazu kommt von Forscherseite eine Spitzenleistung der Differenzierung: Ein Drittel der Befragten sind „sehr erschöpft“, ein Drittel „ziemlich erschöpft“. Einen Typen, der ziemlich erschöpft ist, müsste man mir mal vorführen. Und wir nehmen das ernst. Diese Forschung fragt aber nie, woher all diese Befindlichkeiten kommen. Die sind ja nicht einfach da, nicht einfach naturwüchsig. Das sind Ergebnisse von Erwartungen. Die Welt und das Leben bestehen zum grossen Teil aus Erwartung.
Mein Vater war Schreiner. Er hatte drei Finger praktisch weg. Das war für ihn normal. Heute würde so einer nicht ans Weiterarbeiten denken. Dafür gibt es die IV. Er wäre schön blöd, wenn er fehlende Finger für normal halten würde. Was ist also normal? Derartige Fragen sind alle implizit beantwortet. Jetzt müsste man sie endlich explizieren. Was ist eigentlich die Welt? Ist die Welt ein Spazierweg? Friedrich Dürrenmatt sagte dazu: „Die Welt ist eine Fabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.“ Wenn man mit dieser Haltung durch die Welt geht, ist man viel kräftiger. Und wenn etwas in die Luft geht, dann hat man es erwartet. Also kann man dabei ganz vergnügt bleiben. Besonders, weil so selten etwas explodiert. Aber heute haben wir Erwartungen auf Unverwundbarkeit. Ja, wie kommen wir denn auf so etwas Wahnsinniges? Wenn irgendwo etwas schief geht, motzen wir: Und der Bundesrat? Schläft der?
faktuell.ch: Man gibt dem Staat also den Freipass, zu intervenieren?…
Ludwig Hasler: … und der Staat wird so mächtig, weil man alles von ihm erwartet. Er soll alles ausbügeln. Wir ertragen nicht einmal mehr Ungereimtheiten. Wir ertragen es nicht mehr, dass einer zwölfmal so viel verdient wie ein anderer. Dem Bankchef im Kanton Aargau, der so gut wirtschaftete, dass er den Kanton mit Geld überhäufen konnte, hat man den Lohn halbiert. Darum müssen wir anders darüber reden. Wir müssen von einem zwiespältigen Menschenbild ausgehen. Ungereimtheiten sind das Elixier zum Weiterkommen. Wenn man unser Gemeinwesen mal organisiert hat wie einen Ameisenstaat, dann funktioniert zwar alles wunderbar, alle machen ihren Job und es gibt keine Fehler und keine unnötigen Sitzungen mehr. Niemand bezieht Sitzungsgelder, die er nicht verdienen würde. Um solchen Krimskrams kümmern wir uns. Ich finde das peinlich! Wir sollten besser nach Vorne schauen und uns fragen, wie wir vorwärts kommen. Ich fand den Bankenskandal auch nicht lustig und einzelne Banker eher unappetitlich, aber deshalb das Ende der Gier verkünden, das ist doch ein Schwachsinn! Gier ist menschlich.
faktuell.ch: Wir sind doch so stolz darauf, einen klaren Standpunkt zu haben. Halten Sie es denn für besser, wenn wir unsere Zwiespältigkeit ausleben und unsere Meinung oder gar Grundeinstellung beliebig ändern?
Ludwig Hasler: Absolute Positionen sind unter irdischen Bedingungen immer falsch. Man müsste sich der Anrüchigkeit bewusst sein, die absolute Positionen haben. Unter irdischen Bedingungen ist alles durchzogen. Beispiel Klimawandel. Ich weiss nicht, wer bei dem Streit Recht hat. Ich sage nur, wenn wir erst handeln, wenn wir definitiv Bescheid wissen, sind wir zu spät. Das heisst, wir müssen viel mehr eventual handeln. Die Wissenschaft hat keine Wahrheiten. Sie hat Hypothesen, die sie überprüft.
faktuell.ch: Sie werten damit den Prognostiker auf, obwohl Prognosen – seien es ökonomische oder ökologische – häufig falsch sind?
Ludwig Hasler: Ich plädiere für die Freude an Varietät. Prognosen engen häufig ein, machen Angst, wollen gängeln. Dass jedes Partikularinteresse auf die Bühne will und die andern ausspielen, ist klar. Es ist nur nicht besonders schlau. Wir müssten interessiert sein an Gegnern. Ich pflege rein privat sogar meine Feinde. Es gibt niemanden, der mich so aufmerksam beobachtet, wie ein Feind. Der hat mich immer im Auge und lässt sich nichts vormachen. Ich plädiere nicht für eine durchgehende Kultur von Feindschaften. Aber Gegnerschaften. Wir machen Gegnerschaften heute dauernd kaputt. Warum eigentlich? Das ist ein Zeichen von insgeheimer Verunsicherung. Wenn ich mit meiner Weltsicht einigermassen sattelfest bin, dann will ich sie an anderen Weltsichten reiben. Reiben, nicht ausmerzen, nicht vom Tisch haben. Das kann ich natürlich nur, wenn der andere das ähnlich sieht. Sonst bin ich dann auch nicht mehr so friedlich.
In der Aufklärung hiess das Konzept: Man kann die Gesellschaft nicht mehr strikt von oben dirigieren, in ihrer bürgerlichen Phase prosperiert sie nur als sogenannt offener Prozess. Wenn also kein Einzelner und keine Klasse weiss, was für alle richtig und gut und schön ist. Wer entscheidet dann, wohin die Entwicklung gehen soll? Alle. Klar. Bloss wie? Geht nur über die Institution der öffentlichen Diskussion. Doch nach welcher Logik soll die funktionieren? Der Philosoph Hegel sah es so: Öffentlichkeit funktioniert wie eine grosse Versammlung, auf der „eine Gescheitheit die andere auffrisst“. Alle Gescheitheiten, sprich Meinungen, treten auf, präsentieren sich im besten Licht, treten aber danach nicht genau so ab, wie sie angekommen waren, sondern jetzt wird gestritten und gefressen, und dieses wechselweise Fressen der Meinungen spekuliert auf Verdauung: dass alles, was an den einzelnen Gescheitheiten nur perspektivisch und interessegebunden ist, ausgeschieden werde und zurückbleibe, worauf alle Gescheitheiten sich einigen können. Kant hatte ein ähnliches Modell: Meinungen müssen sich stärken und sich dann aneinander reiben. So lange bis das, was an der Meinung nur „mein“ ist, abgerieben ist. Dann bleibt das Verallgemeinerungsfähige. Ist doch eine tolle Theorie! Ich habe nie verstanden, weshalb der Begriff „Meinung“ eine so hohe Achtung geniesst. Es ist ein Possessivpronomen, es ist „mein“. Und etwas, das mein ist, kann ich doch nicht mit der Wahrheit verwechseln. Das ist nicht möglich. Das Reiben der Meinungen gefällt mir. Das heisst auch, dass man für möglichst viele Meinungen die Möglichkeit organisieren muss, sich aneinander zu reiben.
faktuell.ch: Ist das als Ermunterung für Politiker zu verstehen, sich über die Parteigrenzen hinweg aneinander zu reiben mit ihren Meinungen?
Ludwig Hasler: Die meisten fühlen sich schon haarsträubend gestresst, ehe sie überhaupt zur Politik kommen. Dann erträgt es auch keine Flüchtlinge mehr. Das ist einfach zu viel. Mal Ruhe mit Afrika.
faktuell.ch: Also sind wir satt und zugleich gestresst. Der Grizzly liegt im Kornfeld und das stresst ihn auch?
Ludwig Hasler: Es gibt eine interessante Theorie. Die stammt von meinem Namensvetter Gregor Hasler, Psychiater, Chefarzt, Professor in Bern. Er befasst sich mit Resilienz, unserer seelischen Widerstandskraft. Er kennt ungefähr alle Studien zu Stress und so, die man ernst nehmen sollte, und er kommt zu folgendem Schluss: Das Stressgefühl nimmt seit Jahren krass zu. Bloss warum? Steigen auch die Lasten, die Verpflichtungen, die Strapazen, die Risiken? Nein, ganz im Gegenteil. Nicht das Lastensystem verändert sich, sondern das Belohnungssystem, das wir meist unberücksichtigt lassen, weil wir stur ökonomisch denken. Das Belohnungssystem funktioniert nur kulturell. Oder religiös oder ideologisch. Jedenfalls über eine Idee. Früher fand die Einordnung von Leistung und Belohnung über die Religion statt. Heute haben wir Stress: Ich kriege mein Geld, dann ein schönes Haus und irgendwann habe ich alles und es geht nicht weiter. Dann bin ich frustriert, habe ein Burnout oder bin wenigstens depressiv verstimmt. Ich kenne ukrainische Musiker, die haben nichts von alledem. Musikalische Wunderleute, verdienen zu Hause praktisch nichts, sind im Sommer hier. Die erschüttert nichts. Die haben nicht einmal Stress.
faktuell.ch: Kein Streben nach materiellen Gütern?
Ludwig Hasler: Nein, die haben einen völlig andern Bezug zum Leben. Einen intimen sozusagen. Die gehen nicht als erstes in die Beiz zum Bier. Sondern zum Fluss, zum Wasser. Da müssen sie ankommen, da sind sie geerdet. Gleichzeitig haben sie den Kontakt nach oben, zum Göttlichen. Darum fehlt es ihnen an nichts – obwohl es ihnen (nach unseren Massstäben) an allem fehlt. Ich vermute: Uns fehlt genau diese Intimität mit dem Leben. Es ist die Bagatellisierung des Lebens, die uns daran hindert, den äusseren Wohlstand in ein glückliches Leben umzumünzen. Oder auch nur in ein gesundes. Ein besseres Gesundheitswesen als in der Schweiz gibt es ja gar nicht. Der therapeutischen Medizin, bei der man alles im Griff hat, folgt jetzt die Optimierungsmedizin. Das hört natürlich nie mehr auf. Sie können nicht sagen, die Krankenkasse muss ein neues Trommelfell bezahlen, für Viagra aber müsse der Mann selber aufkommen. Was ist wichtiger? Wer entscheidet das? Ein Bundesamt? Mit welcher Befugnis?
faktuell.ch: Die schweizerische Sozialpolitik basiert auf Solidarität. Nehmen wir die Krankenkassenprämien. Junge, gesunde Menschen wählen eine hohe Franchise, um zu sparen. Kaum setzt sich dies durch, greift der Staat korrigierend ein und will die Franchise herabsetzen. Die Solidarität wird also nicht gelebt.
Ludwig Hasler: Das sehe ich auch so. Solidarität ist geschichtlich eine Tugend, die man horizontal anwendet. Die Reichen unter sich, die Armen unter sich. Kein Mensch kann solidarisch mit allem sein, mit dem Tintenfisch in Ozeanien und den armen Fischern. Das beisst sich. Solidarisch kann man unter sich sein, die Belegschaft eines Unternehmens mit den Streikführern, die vom Boss entlassen wurden. Heute wird Solidarität heuchlerischer. Real ist eher die Konkurrenz aller Bittsteller beim Staat. Machen wir den Staat zur Amme, werden wir zu Kindern. Sogar die Alten. Man behandelt sie wie vor hundert Jahren. In einem Vortrag an einem Alterskongress in Aarau sagte ich kürzlich, dass es hirnrissig ist, was man alles macht für die Alten. Die sind heute derart fit, die sollen für sich selber sorgen. Und zwar untereinander. Das Problem ist heute nicht, dass die Alten nicht mehr abserbeln. Das Problem ist, dass es zwei Fraktionen gibt bei den Alten. Einerseits gibt es permanent neue Vitalitätsrekorde. Ich bin doch umzingelt von 70jährigen, die dauernd „umeseckle“. Die geben keine Ruhe. Gleichzeitig gibt es die andern, die man gar nicht mehr sieht. Sie gehen nicht mehr aus dem Haus, sind dick und krank und hocken nur noch vor dem Fernseher. Zum Teil haben sie auch kein Geld mehr. Und die Werbung vor den Sendungen bietet ihnen nur noch Abführmittel und dergleichen. Dann gibt es den himmeltraurigen Reigen von verdämmernden Demenzkranken. Das sind nicht die Avatare, die man immer in den Apothekerheftli sieht, die ewig leben und kein Mensch weiss warum…
faktuell.ch: …schön geliftet und mit blau schimmernden Haaren?
Ludwig Hasler: Diese Generation – ich rechne mich mit 70 auch dazu – soll mal die Jungen in Ruhe lassen. Mal aufhören, die Jungen auszuplündern. Das könnte man heute tun. Es ist mehr als genug Geld da. Es ist mehr als genug Kompetenz und Vitalität da.
faktuell.ch: Sie meinen also, die 70 bis 85jährigen sollen sich selber organisieren?
Ludwig Hasler: Ja. Der Druck würde höher, wenn die staatlichen Angebote nicht so hoch wären. Aber der Staat organisiert tausend Sachen für die Alten. Als ob sie selbst nichts organisieren könnten. Die staatlichen Angebote könnte man tendenziell abzügeln und das den Kirchen überlassen. Vor dreissig Jahren konnte man nicht so reden. Aber heute kann man es doch nicht als normal betrachten, wenn ein Mensch dreissig Jahre lang ausruht und rum jettet wie ein Irrer und immer als der gleiche zurück kommt und darauf wartet, dass ihm jemand ein Alters-Z‘mittag organisiert.
faktuell.ch: Sie sagen, dass viele Rentner vor dem Fernsehen enden. Es gibt keinen tiefsten gemeinsamen Nenner in den TV-Sendungen. In wessen Interesse kann die Massen-Verblödung sein?
Ludwig Hasler: Der österreichische Schriftsteller Hermann Broch (1886 -1951) hat die Spannungstheorie entwickelt. Sie besagt, dass der Mensch, um an der Arbeit funktionieren zu können, permanent auf einem Spannungspegel existieren muss, den er von Natur aus nicht hat. Jetzt könnte man sagen, okay, du arbeitest fünf Tage und dann kommt das Wochenende, da sollst du ruhen. Da könnte man eine Unterhaltung der intelligenten und entspannenden Art machen. Broch zeigt, dass es das „System“ nicht macht, das Fernsehen nicht bietet. Denn das Risiko wäre zu gross, dass zu viele Menschen am Montag nicht mehr in die am Arbeitsplatz geforderte Spannung reinkämen. Die würden abhängen. Im gesellschaftlichen System gibt es dagegen keinen Widerstand. Im System gibt es jede Menge Opfer, aber auch jede Menge Care Teams und Therapien. Die braucht es, denn das ist die einzige Boom-Branche. Die braucht das System. Es braucht Opfer – wofür brauchen wir sonst all die Kurstätten? Also müssen wir Klienten produzieren. Es ist die Reibungslosigkeit des Systems. Das läuft subkutan. Das System will keinen Widerstand. Der Widerstand könnte aus einem Spannungsabfall entstehen, der bedeutet, dass man schon rein physiologisch aus dem System kippt.
faktuell.ch: Was ist denn ein gutes Leben für Sie?
Ludwig Hasler: Leben ist Bewegung.
faktuell.ch: Körperlich und geistig?
Ludwig Hasler: Beides, mindestens. Sich bewegen. Bewegt sein. Etwas bewegen. Also lebendig bleiben, Ohren spitzen und Augen auf. Je älter man wird, desto mehr Bewegung braucht man. Ich finde den Werbespruch „Lebst du noch, oder wohnst du schon?“ sensationell. Verhockt oder in Bewegung? Bewegung heisst auch Wandlung. Darum bin ich skeptisch gegen das Willens-Motto, das unsere „Elite“ bestimmt: Sich im Griff haben, unter Kontrolle, körperlich topfit, mental weiterbildungsgehärtet, immer dran bleiben etc. ist zu einseitig, zu stur, zu irrtumsanfällig. Leben ist immer auch Verschwendung, Neugier, Leidenschaft, Verirrung, Ausschweifung. Wie könnten wir anders etwas entdecken? Innovativ sein, wie man das heute nennt?
faktuell.ch: 21‘000 Jugendliche haben im letzten Jahr die Lehre geschmissen. Der Bund gibt 450 Millionen Franken pro Jahr für Arbeitsintegrationsmassnahmen aus. Die Wirkung ist gering. Packen wir das Leben – wie Sie andeuten – falsch an?
Ludwig Hasler: Das Hirn hält sich an das, was es kennt. Nehmen wir die Ypsilon-Generation, die ich übrigens viel positiver sehe als die meisten. Was kennt diese Generation? Sie wurde maximal betreut. Sie stand immer im Mittelpunkt, konnte immer selber entscheiden und auch mitentscheiden, welches Auto angeschafft wird und wohin es in die Ferien geht. Diese Generation wurde von Helikopter-Eltern rundum behütet. Das kennt sie. Und daran hält sie sich. Das kann man ihr nicht vorwerfen. Dazu kommen die gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist alles da. Für alles hat es ein Hilfsprogramm. Man muss nicht müssen. Und im öffentlichen Bewusstsein herrscht der Spass-Imperativ. Das sind Faktoren, die zeigen, dass e Resilienz nicht früh entwickelt wird, weil sie nicht früh entwickelt werden muss. In andern Gesellschaften muss sie früh entwickelt werden, sonst geht man einfach drauf.
Dr. Ludwig Hasler, Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim „St. Galler Tagblatt“, dann bei der „Weltwoche“. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schweizweit bekannt für seine Vorträge.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann
(das faktuell.ch-Gespräch mit Dr. Ludwig Hasler fand im August 2015 statt)
Kommentar schreiben