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Heinz Locher: «Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh.»

Rückblende

faktuell.ch im Gespräch mit Heinz Locher, Gesundheitsökonom, Unternehmensberater, Publizist und Dozent

 

Heinz Locher

 

faktuell.ch: Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 haben sich die Prämien verdoppelt. Trotz des politischen Versprechens von damals, alles werde billiger. Kostentreiber sind alle Mitspieler im Gesundheitswesen: Ankurbler Wissenschaft / Pharmaindustrie, umsatzinteressierte Krankenkassen, Spitäler und Ärzte, anspruchsvolle Versicherte und eine Politik, die die Exzesse nicht kontrollieren kann. Beginnen wir mit der Wissenschaft. Wie kann man sie bremsen, laufend neue Krankheiten zu finden, Herr Locher?

 

Heinz Locher: Die muss man nicht bremsen. Die Wissenschaft hat ihre eigene Gesetzmässigkeit. Der Wissenschafter muss tun, was es braucht, um in den Peer Review- Zeitschriften publizieren zu können. Peer Review (Gutachten von Gleichrangigen zwecks Qualitätssicherung) erzeugt einen Konformitätsdruck. Ganz originelle Typen haben keine Chance, den Gutachtern zu genügen. Wissenschafter befassen sich mit hoch aktuellen Themen, von denen sie sich eine gewisse Resonanz versprechen. Für gute Resonanz gibt es Forschungsgelder und mit der Forschung den Vorsitz in Beiräten oder die Rolle als Mitherausgeber von wissenschaftliche Publikationen. Diese Gesetzmässigkeit orientiert sich nicht unbedingt nach den Bedürfnissen der Bevölkerung. Das ist ein Problem. Wenn sich ein Wissenschafter diesem Druck entziehen will, muss er es sich finanziell leisten können und bereits ein sehr hohes Prestige haben. Da haben wir eine gewisse Tragik.

 

faktuell.ch: Eine weitere Preis-Ankurblerin ist die Pharmaindustrie.

 

Heinz Locher: Die Pharmaindustrie ist dazu verdammt, ihren Aktionären zu gefallen. Ob die Pharmapreise zu hoch sind, kann man nicht den Pharmapreisen ablesen, sondern am exorbitanten Wert der Firmen bei Fusionen oder Verkäufen. Für mich heisst das: Mehr öffentliche Mittel in die Forschung investieren. Wir, die Bevölkerung, müssen bereit sein, das Geld via Steuern statt via Prämien zu bezahlen. Das wäre für mich ein Korrekturfaktor. Das ist nicht sehr populär, aber entweder wollen wir ein Ergebnis erzielen oder Ideologien folgen.

 

faktuell.ch: Ist nicht endlich eine ethische Diskussion darüber nötig, bis in welches Alter teure Operationen und Medikamente für jedermann sinnvoll sind?

 

Heinz Locher: Das ist eine Frage des Gesichtspunkts. Ist es aus Patientensicht sinnvoll, einer 93jährigen Frau Chemotherapie zu geben, wenn die Lebensverlängerung darin besteht, drei Monate länger an Schläuchen zu hängen. Das ist nicht sinnvoll. Einverstanden. Aber aus Kostensicht muss ich sagen, eine Rationierung brauchen wir wirklich nicht.

 

faktuell.ch: Lebensverlängerung ist das eine. Wie sieht es aus, wenn bei einer schwangeren Frau festgestellt wird, dass der Embryo schwer geschädigt ist, im Leben nur vegetieren und die Gesellschaft viel Geld kosten wird?

 

Heinz Locher: Das soll die Frau entscheiden. Wir verschwenden in der Schweiz derart viel Geld für Unnötiges, da liegt das drin. Von dieser Diskussion sind wir bei unseren jetzigen Gesellschaftsverhältnissen noch weit, weit entfernt.

 

faktuell.ch: Krankenkassen sind gewinnorientiert. Sie möchten möglichst wenig kranke Versicherte und möglichst hohe Prämien.

 

Heinz Locher: Die Krankenkassen sind die grössten Versager im System. Sie machen ihren Job nicht. Krankenkassen interessieren sich – zugegebenermassen etwas zugespitzt und verkürzt gesagt - für die Risikoselektion von Versicherten, für die Optimierung der Maklergebühren, für den Bonus des CEO. Eigentlich sollten sie Treuhänder der Versicherten sein und Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitssystems in deren Sinne tragen aber das kann man vergessen. Sie wären wichtig als Korrektiv zu den anderen Kräften, die auch eine Legitimation haben (Kantone, Leistungserbringer). Aber diese Rolle wollen und können sie nicht wahrnehmen. Totaler Ausfall. Damit fehlt ein Player. Es ist wie ein Parallelogramm, bei dem ein Vektor ausfällt. Dann gibt es Verzerrungen.

 

faktuell.ch: Inwiefern versagen denn Spitäler und Ärzte, die betriebswirtschaftlich denken, ihre Maschinen amortisieren und möglichst viele Operationen durchführen müssen?

 

Heinz Locher: Als Unternehmensberater sehe ich, unter welchem Druck sie stehen: «survival of the fittest», also purer Darwinismus. Dem kann sich keiner entziehen und wird davon angetrieben. Ich sehe die Lösung darin, dass die Regulatoren, also Bund und Kantone, durch eine intelligente Regulierung strukturell Voraussetzungen schaffen für anständige Qualität. Die beginnt nicht beim Ergebnis, sondern beim Festlegen von Auflagen, wer wie qualifiziert sein muss, Mindestmengen – also Qualität schon am Anfang.  

 

faktuell.ch: Damit geht es auch in Richtung integriertes Gesundheitswesen, bei dem zu Medizin und Pflege auch soziale, juristische und finanzielle Beratung und Unterstützung kommen?

 

Heinz Locher: Ja, die integrierte Betreuung müsste hinzukommen. Unser Gesundheitswesen ist immer noch auf eine junge Bevölkerung ausgerichtet. Man hat eine Krankheit, einen Unfall und wird geheilt. Erledigt. Bei einer Bevölkerung mit multimorbiden (an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidenden), chronisch Kranken ist das Ziel nicht heilen, sondern erhalten der Lebensqualität. Wir haben Akutspitaler, Ärzte, Spitex, Pflegeheime. Alle leben nebeneinander her, alle haben ein anderes Finanzierungssystem. Also gibt es keine integrierte Versorgung. Und wer koordiniert, wird dafür nicht bezahlt. Die grosse Veränderung muss da stattfinden.

 

faktuell.ch: Und wie soll die zustande kommen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen grosse Wellen: ein neues Gesundheitsverständnis, eine neue Erwartungshaltung, aber nicht im Sinn von Verzicht, sondern von einer Neustrukturierung des Versorgungssystems. Es muss der Zusammensetzung der Bevölkerung gerecht werden, also auf multimorbide, chronisch Kranke ausgerichtet sein.

 

faktuell.ch: Braucht es eine der – oft umstrittenen – Aufklärungskampagnen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG)?

 

Heinz Locher: Nein, das bringt nichts. Aufklärung, Prävention kann das BAG punktuell machen. Bei HIV beispielsweise war das sinnvoll. Aufklärung ist gut, aber nicht nur Aufgabe der Behörden. Primär muss die Bewegung von unten kommen, «grass root». Es ist in der Schweiz fast revolutionär, wenn man fragt, was denn gut wäre für die Versicherten. Da käme man weit weg von den gängigen Themen in der Gesundheitspolitik.

 

faktuell.ch: Wie am besten vorgehen?

 

Heinz Locher: Wir brauchen jemanden, der die Interessen der Bevölkerung vertritt. Die Patientenstellen sind zu schwach und haben auch kein Geld. Vielleicht ist die Zeit reif für das Projekt «TCS für Versicherte und Patienten»

 

faktuell.ch: Stellen wir doch noch die politische Verantwortungsfrage: Seit Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums 1996 verzeichnen wir vier Vorsteher des Eidg. Departements des Innern: Dreyfuss, Couchepin, Burkhalter und Berset. Weshalb ist es der Gesundheitsministerin Dreyfuss und den drei Gesundheitsministern nicht gelungen, die Kostenexplosion zu stoppen? Sind sie schlecht beraten oder ist das System zu träge?

 

Heinz Locher: Das System ist nicht zu träge. Es geht einfach allen immer noch zu gut.

 

faktuell.ch: Es geht uns zu gut?

 

Heinz Locher: Ja, allen. Jetzt gibt es allerdings erste Erosionserscheinungen. Die schwarze Liste. Oder Leute, die eine Franchise von 2500 Franken wählen und nicht zum Arzt gehen können. 10% der Bevölkerung können die Franchise nicht bezahlen. Das sind Zerfallserscheinungen. Uns bleibt immerhin noch eine Chance. Ich war starker Befürworter des Krankenkassen-Obligatoriums. Krankheit sollte nicht ein Verarmungsgrund sein. 

 

faktuell.ch: Das Problem wird gelöst mit Prämienverbilligungen…

 

Heinz Locher: …oder eben nicht mehr. Ich bin der Meinung, dass man die Belastung der Haushalte deckeln muss, bei etwa 10% des Haushaltbudgets. Alles andere geht zu Lasten der Steuerzahler. Die Steuern sind – im Unterschied zu den Prämien – progressiv. Man muss dafür sorgen, dass das Ventil, nämlich höhere Prämien, gestopft wird, dann gibt es höhere öffentliche Ausgaben. Das ist vordergründig eine blosse Verlagerung der Finanzierung. Hintergründig aber nicht. Denn einer, der sich nicht wehren kann, wird ersetzt durch einen, der sich wehren kann, nämlich durch die Kantone. Die müssen zahlen. Die Kantone können entscheiden, was und wie viel sie sich leisten wollen und damit sind die Ausgaben demokratisch legitimiert. Denn es findet eine Diskussion mit der Bevölkerung darüber statt, wie viel das Gesundheitssystem kosten darf. Was wir für die Gesundheit ausgeben, können wir nicht für die Bildung ausgeben und der Steuerzahler hat das Geld auch nicht mehr im Sack, um damit zu tun, was er will. Diesen demokratisch legitimierten, zwingend informierten Diskurs muss es geben. Vielleicht ist die Bevölkerung bereit, mehr für das Gesundheitswesen auszugeben. Ich bezweifle allerdings, dass man mehr ausgeben kann als heute. Wir geben schon viel zu viel aus für überflüssige Leistungen. Das ist eben nicht wie beim Schwimmer im WC-Spülkasten. Wenn der oben ist, stellt das Wasser ab. So einen Schwimmer haben wir nicht im Gesundheitswesen.

 

faktuell.ch: Geht es da nicht auch um eine ideologische Frage. Wer für Solidarität ist, will Staat, wer Wettbewerb befürwortet, will ihn nicht.  

 

Heinz Locher: Man muss Bund und Kantone bestrafen für ihre Nicht-Tätigkeit. Der Bund bezahlt den Kantonen einen Fixbeitrag an die Kosten, 7,5%. Der Bund hat eine gewisse Verantwortung für die Zulassung von Leistungen und Preisen. Ich bin der Meinung, das muss man verdoppeln. Der Bund muss auch mehr bluten, die Kantone die Hauptlast tragen und den Rest bezahlen. Es muss weh tun. Die Prämie a gogo erhöhen geht nicht. Selbstbehalt und Franchise sind ohnehin schon hoch. Anlässlich der Budgetdebatte in der Kantonsregierung wird es dann heissen, der Gesundheitsdirektor sei ein frecher Kerl. Die Regierung hat 40 Millionen Franken zu verteilen und der hat schon 25 kassiert. Und zwar als gebundene Ausgabe. Nichts zu machen. Also werden die Stimmbürger gefragt, ob sie eine Steuererhöhung wollen. Das ist der Mechanismus, den ich sehe. Die Prämienzahler haben natürlich auch ihren Beitrag zu leisten. Langfristig muss man ihre Erwartungshaltung korrigieren. Das dauert eine halbe Generation. In der Zwischenzeit muss man ihnen den Stoff knapphalten.

 

 faktuell.ch: Sie sagen, wir haben noch genug Geld…

 

Heinz Locher: …schon, aber die Finanzierung ist unsozial. Deshalb muss man das stoppen und es muss denen weh tun, die sich wehren können. Und wenn sie sich nicht wehren wollen, wie beispielsweise in Neuenburg, wo die Bevölkerung zwei Spitäler will, sollte man vielleicht eher die Bevölkerung auswechseln als die Regierung…

 

faktuell.ch: Sie haben auch schon gesagt, das Gesundheitssystem in der Schweiz liege am Boden. Umfragen zeigen aber, dass nur ein Prozent der Versicherten damit unzufrieden ist.

 

Heinz Locher: Gut, das hat natürlich einen anderen Zusammenhang. Wenn man das international vergleicht…

 

faktuell.ch: sind wir super…

 

Heinz Locher: …ja, die Frage ist, wo wir super sind. Super sind wir sicher beim so genannten «access», beim Zugang. Noch! Jetzt haben wir aber die schwarze Liste, auf der immer mehr Leute stehen, die nicht mehr zum Arzt gehen können, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen. Die Frage ist, müssen sie oder ich für 300 Franken Franchise und 700 Selbstbehalt Zugang zu 15'000 Ärzten haben? Könnte man mit dem Grundabonnement den Zugang nicht auf 1000 Ärzte beschränken? Das wäre keine echte Einschränkung. Und wenn ein Versicherter mehr will, muss eine Überweisung stattfinden.

 

faktuell.ch: Weshalb wehren sich die Versicherten nicht gegen die laufende Erhöhung der Prämien?

 

Heinz Locher: Weil sie eben zufrieden sind. Um sie aufzurütteln, müsste man ihnen einen «sense of urgency», ein Gefühl der Dringlichkeit vermitteln.

 

faktuell.ch: Und wie kriegen Sie das hin?

 

Heinz Locher: Es gibt die zynische Variante. Dort ansetzen, wo es weh tut. Das geht nicht. Da gehen die Leute unter. Das zeigt sich jetzt bei der schwarzen Liste. Ich finde das absolut skandalös. Wenn Sie die Prämie nicht mehr bezahlen können, kommen sie auf einen Status zwischen Strafgefangenem und Sans Papier. Es kann doch nicht sein, dass sie ihr Leben lang Prämien bezahlen und wenn sie klamm sind, dann nichts erhalten. Aber das wird knallhart durchgezogen. Da ist die Schwangere, die man im Spital nicht entbinden will, weil sie die Prämien nicht bezahlt hat. Solche Fälle gibt es immer häufiger. Leute im Strafvollzug und Asylbewerber sind obligatorisch versichert. Wenn aber ein ausländischer Dieb in der Schweiz in die Kiste kommt, dann ist er nicht KVG-versichert. Er muss den Arzt selber bezahlen. Er hat aber kein Geld. Konkreter Fall: Ein inhaftierter osteuropäischer Dieb hatte Nierensteine. Das ist sehr schmerzhaft, aber es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr. Da wurde medizinisch nichts unternommen. Das ist das Niveau. Das ist die Realität. Und das weiss kaum jemand.

 

faktuell.ch: Sie wissen was zu tun wäre. Weshalb können sich Gesundheitsökonomen politisch nicht durchsetzen?

 

Heinz Locher: Wir haben ein Kartell der Versager: Kantone, Bund, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler. Die tun sich gegenseitig nicht weh. Ich bin der Meinung, dass die Revolution nicht aus Bomben besteht, sondern dass man das System destabilisieren muss. Konstruktiv. Ein Weg, den ich vorschlage: Die Versorgungsverantwortung, die heute die Kantone haben, muss auf den Bund übergehen. Der will das zwar nicht und die Kantone sind auch nicht einverstanden. Aber immerhin haben wir ab 1848 auch die Schweizer Armee eingeführt, den Schweizer Franken, die SBB. Man fragte sich damals, auf welcher Ebene ein Problem gelöst werden muss und kam zum Schluss, dass die nationale Ebene die richtige ist. Das ist nicht ein Kantonsproblem.

 

faktuell.ch: Was heisst das heute für das Gesundheitswesen?

 

Heinz Locher: Wenn man das Gesundheitswesen neu auf Bundesebene ansiedeln würde, dann müssten sich sämtliche Akteure neu bewerben. Die Vögel würden auffliegen vom Telefondraht und man könnte mit Interesse zusehen, wo sie landen. Man müsste nicht alles, wie beispielsweise die Spitalplanung, eins zu eins von den Kantonen auf den Bund übertragen, sondern nur die Regulierungsebene ändern. Der gegenwärtige Gesundheitsminister Alain Berset hat hohen Respekt vor den Kantonen. Das ist realpolitisch vernünftig. Aber von der Sache her überhaupt nicht. Mit den Kantonen will der Bund nicht Krach haben, was heisst, dass keiner für etwas verantwortlich ist. Kollektive Verantwortungslosigkeit. Jeder macht, was er will, keiner was er soll und alle machen mit. Das System bleibt wie es ist, solange nicht eine Katastrophe passiert. Eine Katastrophe scheinen mir allerdings schon die 1000 bis 3000 Toten pro Jahr zu sei, die man vermeiden könnte. Das Gesundheitswesen ist wie Zivilluftfahrt eine Risikoindustrie. Und 20 bis 30 Jahre im Hintertreffen. In den 1990er-Jahren gab es viele Flugunfälle wegen der Hierarchie im Cockpit. Der Kopilot sieht den Fehler, wagt sich aber nicht, den Captain darauf hinzuweisen. Er muss jeden Captain kennen, um zu wissen wie weit er gehen kann, ohne dass seine Karriere im Eimer ist. Genauso ist es heute noch im Operationssaal. Die  assistierende Pflegefachfrau kann nicht einfach sagen, die Blutgruppe sei B, wenn der Herr Professor behauptet, es handle sich um A. Das ist die Hierarchie.

 

faktuell.ch: Es gibt Versicherte, die den Arzt regelmässig aus purer Langeweile oder Ängstlichkeit besuchen. Ist es denkbar, sie für überflüssige Konsultationen bezahlen zu lassen?

 

Heinz Locher: Ja, aber das macht den Braten nicht fett. Schlimm sind die Franchisen. Wer sagt, eine hohe Franchise sei Ausdruck der Selbstverantwortung, der erzählt völligen Nonsens. Eine hohe Franchise sollten – wenn schon - diejenigen wählen, die sie problemlos zahlen können. Leider wird sie aber von denen gewählt, die weder gesund sind, noch sie sich leisten können. Dann liegen sie finanziell am Boden. Solche Dinge muss man aufdecken. Ich bin der Einzige, der Bundesrat Berset, der gegen zu hohe Rabatte für hohe Franchisen war, öffentlich unterstützt hat. Es dürfte eigentlich gar keine höhere Wahlfranchise geben. Wer das Glück hat, gesund zu sein und Geld zu haben, der soll die Prämie bezahlen. Denn wegen der Rabatte fehlt Geld, mit dem man den Kranken helfen könnte. Es muss eine vermehrte Solidarität gesund – krank geben.

 

faktuell.ch:  Die Probleme liegen ausgebreitet vor uns. Woran hapert es politisch und wie lautet Ihr Appell an die grosse Politik, National- und Ständerat?

 

Heinz Locher: Für Gesundheitspolitik braucht es eine enorme Sachkenntnis.  Sonst macht man Blödsinn. Wir brauchen eine neue Generation von verantwortungsbewussten, kompromissbereiten Politikerinnen und Politikern, wie man sie in andern Politikbereichen findet. Steuerreformen und AHV-Revisionen kamen so zustande. Dort übernahmen Parlamentarier Verantwortung und stärkten damit natürlich auch den Bundesrat. Mein Appell: Übernehmt Verantwortung, zeigt Euch, ihr neuen Gesundheitspolitiker! Aber eben: Jeder, der in die Gesundheitskommission kommt, hat am nächsten Tag schon fünf Beirat- und Verwaltungsratssitze. Oder umgekehrt. Die schlimmste Lobby ist nicht die der Krankenkassen, sondern der Pharma. Wenn man den Beiräten der Krankenkassen einen Leistungslohn bezahlen würde, dann müssten die noch Geld herausgeben – bei dem was sie bewirken.

 

faktuell.ch: Also geht es nicht darum, Kosten zu dämmen, sondern das System zu ändern.

 

Heinz Locher: Es geht um Zugang und Qualität. In der Qualität sind wir nicht Weltmeister. Das wird einfach immer behauptet. Wir sind nicht schlecht, aber liegen nur etwa im oberen Drittel. Wir haben aber beispielsweise keine systematischen Qualitätsmessungen im ambulanten Bereich. Und wenn man nichts misst, kann man alles behaupten. Wir sind weit weg vom Idealzustand, insbesondere vom künftigen Idealzustand. Die eine Frage ist, kann die Volkswirtschaft die Kosten bezahlen. Die Antwort lautet ja. Die andere Frage lautet, ob die Finanzierung sozial ist. Die Antwort ist ein deutliches nein. Dort muss man stoppen. Die Betroffenen sollen sich wehren können.

 

Gesprächsführung: Elisabeth Weyermann

 

(Dieses faktuell.ch-Gespräch hat im Juni 2018 stattgefunden.)