faktuell.ch im Gespräch mit Thomas Michel, Leiter der Abteilung Soziales der Stadt Biel, und der Bieler Integrationsdelegierten, Tamara Iskra
Thomas Michel, Tamara Iskra
faktuell.ch: Herr Michel, 14 neue Vollstellen oder eine runde Million Mehrkosten in Zeiten von Budgetkürzungen und erst noch in einem Bereich, der mit seinen Kosten in der Dauerkritik steht – wie haben Sie das geschafft?
Thomas Michel: Wir betreuen hier 6000 Sozialhilfeempfänger, ein Drittel davon Kinder. Das sind 4000 Fall-Dossiers! Der Gemeinderat von Biel – wie auch der Kanton Bern via Lastenausgleich – haben ein Interesse daran, dass Biel als sozialer „Brennpunkt“ eine Strategie für die Senkung der Sozialhilfequoten und die sozialpolitische Ausrichtung mit Schwerpunkten Bildung und Ausländerintegration vorantreibt. Und wir sollen und wollen mehr Zeit haben für die Betroffenen. Die Abteilung Soziales ist entsprechend reorganisiert worden. Mehr als die Hälfte der neuen Stellen entlasten die Sozialarbeitenden direkt, damit sie mehr Zeit für die Beratung einsetzen können. Weitere werden im Controlling und in verschiedenen Bereichen zur punktuellen Entlastung von Engpässen geschaffen.
faktuell.ch: Von wie viel Zeit gehen sie aus?
Thomas Michel: Schwer zu sagen. Für ein Sozialhilfe-Dossier ist im Schnitt ein Zeitaufwand von 15 bis 25 Stunden realistisch – im Jahr!
faktuell.ch: Macht vier Minuten pro Tag und Fall. Und das soll reichen, um die vor Ihrem Amtsantritt als „katastrophal“ beschriebenen Verhältnisse zu verbessern?
Thomas Michel: Das ist nun mal das, was es sich der Schweizer Staat kosten lässt. Biel liegt im schweizerischen Mittel. Wir begleiten Leute bei der Integration, aber die entscheidenden Schritte müssen sie selbst machen. Wir wollen auslösen, anstossen. Deshalb finde ich den Zeitaufwand angemessen. Begleitend zur Sozialhilfe sollten wir auch Zeit im Prekariatsbereich investieren, für Leute die knapp vor oder nach dem Beanspruchen von Sozialhilfe sind.
faktuell.ch: Die Fluktuationsrate in Ihrer Abteilung ist mit 25 % überdurchschnittlich hoch – Rekord im Kanton Bern...
Thomas Michel: …das hat sich schon gebessert. Wir liegen jetzt bei 18 Prozent - Tendenz sinkend.
faktuell.ch: Trotzdem: Was macht es so unattraktiv, im Bieler Sozialdienst zu arbeiten?
Thomas Michel: Die Überlastung und das harte Umfeld. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt Biel ist doppelt so hoch wie der kantonale Durchschnitt. Ein Übermass der Bevölkerung lebt in prekären Verhältnissen und damit besteht auch ein Übermass an Konkurrenz auf integrative Massnahmen. Das heisst, wenn in Biel ein arbeitsloser Sozialhilfeempfänger auf den Arbeitsmarkt will, gibt es eine Riesenkonkurrenz. Das ist für die Sozialarbeitenden frustrierend, auch wenn das Arbeitsklima gut ist.
faktuell.ch: Klingt ein bisschen nach Schönreden eines Problems.
Thomas Michel: Keineswegs. Die Arbeit in der Sozialhilfe ist heute beruflicher Einstiegsbereich. Unsere Sozialarbeitenden sind relativ jung und die Stadt Biel hat im Vergleich mit den ländlichen Sozialdiensten keine Polyvalenz (Fächer an Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten), was dazu führt, dass man weniger lang in diesem spezialisierten Bereich tätig ist.
faktuell.ch: Wie kommen denn Ihre jungen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit schwierigen oder sogar renitenten Klienten zurecht?
Thomas Michel: Natürlich ist das ein Thema. Aber wichtig ist, dass man gerne mit Menschen arbeitet und eine Begabung dazu hat. Man muss den Sozialhilfebeziehenden ja nicht alles vorgeben, sondern mit ihren Ressourcen arbeiten. Erfahrung hilft, dies schnell und zielgerichtet zu tun. Entscheidend ist aber, dass die Sozialarbeitenden vorher an geeigneten Hochschulen und Praktikumsplätzen waren. Ein Manko haben wir in der Konstanz der Beratungen wegen der Fluktuation. Hier kann man mit Organisation und guter Arbeit im Team positiv einwirken.
faktuell.ch: 2019 bis 2022 fallen die Kosten für 100 000 anerkannte Flüchtlinge (FL) und vorläufig Aufgenommene (VA) der Jahre 2014 und 2015 beim Bund weg und die meisten von ihnen drücken auf die Budgets von Kantonen und Gemeinden. Vermag das eine ohnehin schon reichlich belastete Stadt wie Biel überhaupt zu stemmen?
Thomas Michel: Wir sind in einer Vorphase von 2019-22 und bereiten uns darauf vor, dass wir nachher nicht einfach "berenten" müssen. Es muss auf Stufe Bund und Kanton jetzt möglichst viel getan werden.
faktuell.ch: Etwa ein Viertel aller FL und VA wird, wie eine 10-Jahres-Studie gezeigt hat, vielleicht nie einer Arbeit nachgehen. Frau Iskra, was ist in der Praxis der Integrationsbemühungen erfolgreich(er): rasch mit einem Billigjob zu beginnen oder zuerst die Bildungsgrundlage für eine anspruchsvollere und damit auch besser bezahlte Arbeit zu schaffen?
Tamara Iskra: Beides kann erfolgreich sein. Unser duales Bildungssystem lässt zum Glück auch einen späten Einstieg zu. Gift für die Integration ist nur das Nichtstun. Auch teure Sprachkurse sind nicht nützlich, wenn die Teilnehmenden nur in ihrem eigenen Sprachkreis verkehren.
faktuell.ch: Sie widersprechen damit der Behauptung, die da lautet: Wer als Billigjobber beginnt, ist nach abgestempelt und hat nachher Mühe aus dem Tieflohnsegment auszubrechen.
Thomas Michel: Das hängt vom Alter ab. Wenn Junge noch keine Arbeitserfahrung haben, scheint mir Ausbildung der richtige Weg zu sein. Wenn die Leute hingegen über vierzig sind, erwarten die Arbeitgeber Arbeitserfahrung. Auch ein vierzigjähriger Schweizer, der nur studiert hat, wird kaum eine Stelle finden. Es ist auch nicht realistisch, über fünfzigjährige Asylsuchende, die den grössten Teil ihres Lebens im Ausland verbracht haben, von der Sozialhilfe geradlinig in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Sie müssten schon hoch qualifiziert sein und die Sprache sehr gut beherrschen. Umso mehr müssen wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche auf der richtigen Schiene starten.
faktuell.ch: In der Öffentlichkeit hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass viele junge Leute gar nicht bereit sind zu arbeiten, die Lehre abbrechen oder psychische Gebresten für eine IV geltend machen. Stimmt es, dass zunehmend eine Haltung…
Thomas Michel: …des Laissez-faire … ja, das kommt schon vor – aber als gesellschaftliches Phänomen und nicht nur innerhalb der sozialen Sicherungssysteme.
Tamara Iskra: Experten und Institutionen, mit denen ich arbeite, sehen Angebotslücken für Jugendliche, die aus dem System gefallen sind. Die richtigen Angebote wären aber sehr kostspielig.
faktuell.ch: Ein Problem ganz allgemein scheint die Konkurrenz um Tieflohnjobs zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden und Städten zu sein.
Thomas Michel: Ja, natürlich. Es gibt auch im Tieflohnsegment eine Konkurrenzsituation und die Anzahl der Stellen ist beschränkt. Zum Teil verschwinden die Arbeitsplätze auch. Und der zweite Arbeitsmarkt schafft es nicht, sich von einer staatlichen Finanzierung zu lösen. Das ist allerdings das Problem aller, die in diesem Teillohnbereich etwas aufbauen wollen: IV, ALV, Asyl- und Flüchtlingsbereich und wir von der Sozialhilfe. Wir sitzen alle im gleichen Boot.
faktuell.ch: Biel hat einen hohen Ausländeranteil. Arbeit finden die Leute erst, wenn sie sprachlich dazu in der Lage sind, die Ausbildung ausreicht und sie nicht nur ihre Rechte, sondern auch Pflichten kennen, mit anderen Worten: integriert sind. Frau Iskra, wann können Sie sagen, eine Integration sei gelungen?
Tamara Iskra: So wie es der Gemeinderat von Biel im neuen Integrationskonzept definiert. Migrantinnen und Migranten müssen wissen, was von ihnen erwartet wird, wenn sie hier leben wollen. Nur so können sie den Erwartungen auch gerecht werden. Sie sollen die lokalen Sprachen verstehen und sprechen, wirtschaftlich möglichst rasch unabhängig vom Staat werden, andere Lebensformen respektieren und Aspekte ihrer eigenen Kultur – wie das Frauenbild – hinterfragen. Darin sehe ich das Herzstück der Integration. Kinder von Ausländern, die hier aufwachsen, sind für mich Bielerinnen und Bieler. Die sind hier zuhause, nirgendwo sonst.
faktuell.ch: Aber stimmt denn der Satz nicht mehr, dass Integration über Arbeit stattfindet?
Tamara Iskra: Das ist für mich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Hausfrauen sind doch auch integriert. Wichtig ist wirtschaftliche Unabhängigkeit. Ob die durch Arbeit,Erbschaft oder anderswie gegeben ist.
Thomas Michel: Wir haben auch in der Sozialhilfe Leute, die zwar nicht beruflich, aber sozial integriert sind. 2015 hatten wir in der Stadt Biel 109 Nationalitäten in den 4000 Haushalt-Dossiers der Sozialhilfe. Den grössten Anteil machen die Schweizer aus, gefolgt von Türken und Italienern. Aber wer aus der Türkei und aus Italien schon in der dritten oder vierten Generation im Tieflohnbereich arbeitet, lebt in der Prekarität und ist oft bildungsfern. Das wächst sich nicht in einer Generation heraus.
faktuell.ch: Wenn Menschen darauf verzichten, eine besser bezahlte Arbeit zu übernehmen, weil die Einbusse bei den Sozialleistungen grösser ist als der Mehrverdienst, spricht man von negativen Anreizen. Wie stark behindern solche Schwelleneffekte die Sozialhilfe beim Versuch, Menschen ins Erwerbsleben zurückzuführen?
Thomas Michel: Wir könnten in der Schweiz vieles optimieren, wenn wir nicht sofort ans nächste System stossen würden, das auch mit einer Schwelle versehen ist. Das führt letztlich zu einem Stau und löst die Angst aus, dass die Leute stecken bleiben und sich nicht weiterbewegen. Aber ich bin überzeugt, dass ein Mensch, dem wir eine Chance aufzeigen, diese auch ergreifen wird, wenn wir hinter die Schwellen, die zu überwinden sind, Perspektiven setzen. Wer bei Arbeitsantritt ein Jahr lang ein oder zwei wegen den Steuern hundert Franken weniger im Portemonnaie hat, als er vom Sozialamt erhielt, sieht, dass sich ein Job auf zehn Jahre gesehen fünfmal mehr lohnt. So gesehen leidet die Sozialhilfe aus meiner Sicht weniger am Schwelleneffekt, als allgemein moniert wird.
fakutell.ch: Bleibt das Problem der fehlenden Arbeitsplätze…
Thomas Michel: …die noch mehr behindern als Schwelleneffekte. Ich bin allen extrem dankbar, die dazu beitragen, dass in der Schweiz einfache Jobs nicht wegrationalisiert, sondern erhalten und gar geschaffen werden. Was wir brauchen, sind Jobs, in denen man auch ohne tertiäre Ausbildung arbeiten kann. Menschen, die nicht in Zukunftsfeldern arbeiten, müssen Wertschätzung erfahren und Teil der tätigen Gesellschaft sein können. Wir brauchen nicht 14 weitere Stellen, sondern ein paar hundert Stellen auf dem Arbeitsmarkt für die Bieler Sozialhilfeempfänger.
fakutell.ch: Bis Ende Jahr will die SKOS in der zweiten Etappe der Revision ihrer Richtlinien Empfehlungen im Hinblick auf Schwelleneffekte herausgeben. Was will sie noch ändern bzw. gibt es überhaupt etwas zu ändern?
Thomas Michel: Die Empfehlungen sind sehr allgemein gehalten. Die Kantone regeln national in Schwellenbereichen nur ungern, weil diese kantonal sehr unterschiedlich aussehen.. In die SKOS-Richtlinien wird nur aufgenommen, was absehbar zwei Drittel der Kantone umzusetzen bereit sind. Die Hürde ist in der Organisation der SKOS eingebaut. Über die Hälfte des 50-Personen- Vorstands besteht aus fachlich versierten Kantonsvertretern (meist die Leitungen der Kantonalen Sozialdienste, als "27. Kanton" wirkt das Fürstentum Liechtenstein mit). Jeder Kanton hat ein gewachsenes System in der sozialen Sicherung mit Vorleistungen wie Wohnungszuschüsse in Genf oder höhere Kinderzulagen im Wallis. Es ist deshalb nicht möglich mit einem nationalen System festzuhalten, welche Schwelleneffekte sich auf welche Weise auswirken sollen. So kann die SKOS-Empfehlung nur lauten: Liebe Kantone, versucht, die Schwelleneffekte zu vermeiden. Denn sie sind nicht gut. Und sie sind vor allem auch für die Weiterentwicklung des Systems nicht gut. Weh tun dabei vor allem die verpassten Synergie-Effekte – also Doppelspurigkeiten in der Verwaltung.
faktuell.ch: Weshalb setzt man das Anreizsystem nicht einfach ausser Kraft?
Thomas Michel: Ich glaube aus dem gleichen Grund, aus dem die Ökonomen das Thema Schwelleneffekt bisher so stiefmütterlich behandelt haben: Weil sie den Gang der Wirtschaft in der Schweiz nicht allein bestimmen. Politik, Gesellschaft und die wählende Öffentlichkeit spielen mit. Zudem ist das Thema hoch technokratisch und nicht leicht zu vermitteln. Und die Systeme bestehen aus einem Flickwerk von sozialer Absicherung, von der Arbeitslosenkasse über die Sozialhilfe, IV, Krankenkasse, Pensionskasse – ein Flickwerk von Versicherungen und Leistungen mit unterschiedlichen Mechanismen, finanziert auf unterschiedlichen Ebenen…
faktuell.ch: …die alle für sich allein laufen?
Thomas Michel: Sie sind schon ein Stück weit aufeinander gebaut worden, eines nach dem andern. Immer, wenn ein wichtiges Teil fehlte, wurde es eingefügt. Die Finanzkrise hat etwas Wesentliches gezeigt: Am stabilsten bleibt die Wirtschaft, die ein stark ausgebautes Sozialsystem hat. Die Schweiz und auch Deutschland haben ab 2010 sehr stabil reagiert auf die Krise.
faktuell.ch: Macht also die vermeintliche Unabhängigkeit der Systeme das ganze Setting stabil?
Thomas Michel: Sehr sogar, weil es unglaublich mühsam ist, etwas zu ändern! Ein grosser Wurf wie Hartz IV in Deutschland wäre in der Schweiz zurzeit undenkbar. Das heisst aber auch, dass jeder, der in diesem System eine Rolle spielt – auch die Wirtschaft –, sich sehr verlässlich auf das Bestehende einrichten kann, weil nächstes Jahr nicht plötzlich andere Regeln gelten.
faktuell.ch: Schweizweit gibt es seit Jahren Studien, die beziffern, wie hoch der Anteil der nicht beanspruchten Sozialleistungen ist. Zu Beginn der 1990er- Jahre sprach man von 45 bis 65 %, heute geht man von 25 bis 50 % aus, jedenfalls weniger Verzichtende als früher. Hat die professionalisierte Beratung der „Sozialindustrie“ dafür gesorgt, dass bedarfsabhängige Sozialleistungen mehr genutzt werden?
Thomas Michel: Ich finde, dass in der Schweiz die Selbstverantwortung noch sehr stark verwurzelt ist. Ich will eine gleich behandelnde, aber nicht eine gleichmachende Sozialhilfe. Ich bin froh, dass nicht alle zu uns kommen, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten. Sie können vieles innerhalb der Familie lösen. Es ist aber auch gut, dass wir heute professionell unterstützen können, wenn die Familie es nicht mehr schafft. Die Sozialhilfe kann als letztes Auffangnetz zum Zug kommen. Dann aber müssen diese Leute vom Staat, den Steuerzahlern auch wieder zurück in die Eigenverantwortung geführt werden. Das hat dann wieder mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt viel zu tun.
faktuell.ch: Frau Iskra, die Sprache ist für die Integration wichtig. Sie betreiben in Biel ein Sprachhaus für Kinder im Vorschulalter. Biel ist bilingue, zweisprachig…
Tamara Iskra: Die Zweisprachigkeit in Biel ist etwas Wunderbares, aber für die Arbeitsintegration und die Integration der Migranten und Migrantinnen bedeutet sie eine riesige Hürde. Auch bei niederschwelligen Jobs wird viel mehr erwartet. Viele Eltern – nicht nur Migranten – haben das Gefühl, Deutsch biete bessere Chancen. Wir wirken dem etwas entgegen. Denn eine echte Chance in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt hat nur, wer eine Sprache wirklich beherrscht, ob deutsch oder französisch.
Thomas Michel: Wer hier im Service oder sogar in einer Restaurant-Küche arbeiten oder im Lebensmittelgeschäft Regale auffüllen will, muss deutsch und französisch sprechen können. Zur hohen Arbeitslosigkeit kommt hinzu, dass Leute, die beide Sprachen beherrschen, in Biel die bessere Ausgangslage haben, einen Job zu finden.
Tamara Iskra: Biel ist ein schwieriges Pflaster. Wir pflegen den Bilinguismus, der von Bundes- und Kantonsbehörden nicht extra vergütet wird und real doppelt so viel kostet, wir haben einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Ausländern, Migranten und Leuten aus dem ehemaligen Asylbereich, schlecht bis gar nicht Qualifizierte – das ist eine ganz andere Zusammensetzung als in Bern, Zürich oder Genf. Und trotzdem schaffen wir es in Biel, dass 57‘000 Personen aus weit über 100 Nationen friedlich zusammenleben. Ich betrachte Biel als Vorzeigemodell.
faktuell.ch: Die Sozialhilfe, die eigentlich nur eine Nothilfe sein soll, wird für eine zunehmende Zahl von Empfängern zum Dauer-„Einkommen“. Muss die Sozialhilfe neu definiert werden?
Thomas Michel: Wenn 15 Prozent der Bevölkerung von einer Entwicklung oder Situation betroffen sind, beginnt die Bevölkerung, sich unruhig und unwohl zu fühlen. Das ist so etwas wie ein Grenzwert. Mit einer Sozialhilfequote von 11,5% liegen wir in Biel bei einer öffentlichen Betroffenheit von über 10 Prozent. Wir sind also schon recht nahe am Grenzwert. Zürich, Basel, Luzern mit ihren 4,5 Prozent können sich noch "entspannt zurücklehnen". Ich will mir gar nicht ausdenken, was es auslösen wird, wenn die Flüchtlingswellen dieses Verhältnis in der Schweiz wesentlich verschärfen. Ich bin aber überzeugt, dass unser Sozialversicherungssystem umgebaut wird, wenn wir in diese Grenzwerte hineinkommen. Vorher kaum. Nicht, solange die Mehrzahl der Kantone und Städte die Situation im Griff hat.
Gesprächsführung für faktuell.ch: Elisabeth Weyermann, Christian Fehr
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